Komm mit in die Zukunft...
1893 (mit 15 Jahren)

In jedem Ding, in jedem Atom
ist die Göttliche Gegenwart.
Der Mensch hat zur Aufgabe,
sie zu verkörpern.
1910

Das Hindernis ist verbunden mit dem eigentlichen Grund des Werks, das zu vollbringen ist: dies ist der Zustand der gegenwärtigen Unvollkommenheit der physischen Materie. Wie hoch auch immer der Vollkommenheitsgrad des Bewußtseins, des Wissens unseres tiefsten Wesens sein mag, allein die Tatsache, daß es sich in einem physischen Körper manifestiert, verursacht Hindernisse gegen die Reinheit seiner Manifestation; das Ziel seiner Verkörperung ist jedoch, diese Hindernisse zu überwinden und die Materie zu transformieren.
21. Mai 1912

Die Bedingungen, in denen die Menschen auf der Erde leben, sind das Ergebnis ihres Bewußtseinszustandes. Die Bedingungen ändern zu wollen, ohne das Bewußtsein zu ändern, ist eine vergebliche Illusion.
- Mutter


Wenn wir die Menschheit überschritten haben,
dann werden wir Der Mensch sein. - Sri Aurobindo


Einleitung

Diese Agenda ... eines Tages wird eine andere Art unter den Menschen über dieses außergewöhnliche Dokument grübeln wie über das stürmische Drama, das die Geburt eines ersten Menschen unter den feindlichen Horden eines überwältigenden Karbonzeitalters umgeben haben muß. Ein erstes Menschenwesen, das bedeutet einen gefährlichen Widerspruch gegen die sichere Affenlogik, bedeutet eine Bedrohung der herkömmlichen Ordnung, die so zufrieden unter dem hohen, unwandelbaren Farn daherlief - und überhaupt weiß es nicht einmal, daß es ein Mensch ist. Es fragt sich wirklich, was es ist. Es ist sich selber fremd, für sich selber schmerzlich. Es versteht sich nicht einmal mehr im Bäumeklettern wie gewohnt. Und es wirkt schrecklich störend für all die anderen, die auf die alte, tausendjährige Weise in den Ästen schwingen. Vielleicht ist es gar eine Häresie? Oder handelt es sich etwa um eine Gehirnkrankheit? Einem ersten Menschen in einer kleinen Lichtung darf es nicht an Mut fehlen. Sogar die kleine Lichtung ist nicht mehr so gewiß. Ein erster Mensch bedeutet eine unaufhörliche Frage. Was bin ich denn inmitten von all dem? Wo ist mein Gesetz? Welches ist mein Gesetz? Und wenn es keine Gesetze mehr gibt ... erschreckend. Die Mathematik bricht zusammen. Auch die Astronomie samt Biologie beginnt seltsamen Einflüssen zu gehorchen. Ein winzig kleiner verlorener Punkt inmitten der großen Lichtung der Welt. Was bedeutet das bloß alles? Bin ich denn "verrückt"? Und dann die Klauen, viele Klauen gegen dieses ungewohnte Geschöpf. Ein erster Mensch ist sehr einsam. Ist sehr unerträglich für die vor-menschliche "Vernunft". Und die umgebenden Horden grollten wie die Brüllaffen des Abends in Guyana.
Eines Tages war ich wie dieser erste Mensch in der großen gellenden Nacht des Dschungels von Oyapock. Mein Herz pochte wie bei der Wiederentdeckung eines sehr alten Mysteriums - plötzlich war es sehr neu, Mensch zu sein inmitten der Dioritstürze und der hüschen roten und schwarzen Korallenschlangen im Laub. Es war noch viel außergewöhnlicher, ein Mensch zu sein, als unsere alten Stämme in ihren unfehlbaren Gleichungen und unantastbaren Biologien für möglich hielten. Es war ein ganz und gar ungewisses "Etwas", das frohlockend unserem Denken davonlief, vielleicht sogar dem Denken der Gelehrten. Es lief anders, es fühlte anders. Es lebte in einer Art ungebrochenem Kontinuum mit dem Saft der großen Balatas, dem Schrei der Aras und dem glitzernden Wasser im Bach. Es "verstand" sehr andersartig. Verstehen hieß in allem zu sein, nur ein Blinzeln, und man steckte in der Haut des kleinen galoppierenden Iguanas. Die Haut der Welt war sehr weitläufig. Ein Mensch zu sein, nach einer Million wiederentdeckter Jahre, bedeutete seltsamerweise noch etwas ganz anderes als ein Mensch zu sein, eine seltsame unvollständige Möglichkeit, die auch alle möglichen anderen Dinge vermochte. Es war nicht katalogisiert, es war fließend und ohne Grenzen - aus Gewohnheit war es ein Mensch geworden, doch in Wahrheit konnte es herrlich unbeschrieben sein, als gehörten all die alten Gesetze einfach den altertümlichen, rückständigen Barbaren an. Da begannen andere Monde den Himmel zu durchlaufen, mit dem Schrei der Aras im Sonnenuntergang, ein anderer Rhythmus wurde geboren und trat seltsam in Einklang mit dem Rhythmus von allem, ergab ein einziges Fließen der Welt, und ich lief, so leicht, als hätte der Körper nie ein anderes Gewicht gekannt als das unseres menschlichen Denkens, und die Sterne waren nah, sogar die dröhnenden Flugzeuge erschienen wie ein nichtiger Kunstgriff unter den lachenden Galaxien. Ein Mensch war eine ungeheure Möglichkeit. Er war sogar der Große Entdecker des Möglichen. Nie hatte diese gebrechliche Erfindung unter den Millionen von Arten ein anderes Ziel, als das zu entdecken, was ihre eigene Art übersteigt, vielleicht die Möglichkeit, ihre Art zu verändern - eine leichte Art ohne Gesetze. Nach einer Million wiederentdeckter Jahre in der großen rhythmischen Nacht war der Mensch etwas, das es noch zu erfinden galt. Er war die Erfindung seiner selbst, und das letzte Wort war noch nicht gesprochen.
Dann, dann ... begann eine einzigartige Luft die Lungen zu erfüllen, eine unheilbare Leichtheit. Und wenn wir eine Fabel wären? Und welches ist das Mittel?
Und wenn diese Leichtheit selber das Mittel wäre?
Eine große feierliche Entrümpelung von all unseren barbarischen Feierlichkeiten.
So dachte ich im Herzen meines alten Urwaldes, während ich noch zwischen den unwahrscheinlichen Goldkörnchen und einer Zivilisation zögerte, die mir, obwohl mathematisch, doch veraltet und giftig erschien. Aber eine andere Mathematik floß in meinen Adern, eine noch nicht vollendete Gleichung zwischen dieser riesigen Welt und einem winzigen Punkt voller leichter Luft und unermeßlicher Vorahnungen.
Da begegnete ich Mutter, an dieser Wegkreuzung des wiedergefundenen Anthropoiden und des "etwas", das diese unvollständige Erfindung in Gang gesetzt hatte und sie für einige Augenblicke in die Fänge einer vergoldeten Mechanik geraten ließ. Noch nichts war vollendet, noch nichts wirklich erfunden worden, was Frieden und Raum in dieses Herz von noch keiner Art brächte.
Und wenn der Mensch noch nicht erfunden wäre? Wenn er noch nicht seiner Art angehörte?
Mutter, eine kleine weiße Silhouette, zwanzigtausend Kilometer entfernt, allein und zart inmitten einer spirituellen Horde, die darauf versessen war, daß der meditierende und wundervollbringende Yogi den Gipfel der Spezies darstellen sollte, suchte das Mittel und die Wirklichkeit dieses Menschen, der sich einen Augenblick lang für den Gebieter des Himmels oder den Gebieter der Mechanik hält und der vielleicht doch etwas ganz anderes ist als sein spiritueller oder mechanischer Ruhm. Eine andere, leichte Luft floß in dieser Brust, befreit von ihren vorgeschichtlichen Himmeln und Maschinen. Eine Andere Geschichte begann. Würden Materie und Geist sich doch in einer physiologischen "dritten Position" begegnen, die vielleicht endlich die Position des "Entdeckten Menschen" wäre, des Etwas, das so lange pochte und litt auf der Suche nach seiner eigenen Art? Sie war das Große Mögliche am Anfang des Menschen. Mutter ist unsere wahr gewordene Fabel. Alles ist möglich, lautete ihr erstes Wort.
Ja, sie war umgeben von einer spirituellen "Horde", denn immer muß sich der Pionier der neuen Art gegen das Beste der alten Art verteidigen: das Beste ist das Hindernis, die Falle, die euch in ihren alten vergoldeten Sümpfen festhält. Beim Schlechtesten weiß man, daß es das Schlechteste ist. Und dann erkennt man, daß es sich bei diesem Besten nur um die hübsche Schnauze des Schlechtesten handelt, dasselbe alte Biest, das sich mit all seinen Klauen verteidigt, mit Heiligenschein und Elektronik. Mutter kam für etwas anderes.
"Etwas anderes" ist gefährlich, bedrohlich, verwirrend - sehr unerträglich für all die von der alten Art. Die Geschichte des "Ashrams" in Pondicherry ist die Geschichte eines alten Klans, der sich grimmig an seine "spirituellen" Privilegien klammert, wie andere an ihren Muskeln hingen, die sie zum König unter den Primaten machten. Er bewaffnet sich mit allen Heiligenscheinen und allen Begründungen, die den logischen Menschen so "unfehlbar" unter seinen weniger gehirnbedachten Brüdern machten. Das spirituelle Gehirn stellt wahrscheinlich das schlimmste Hindernis der neuen Art dar, wie die Muskeln des alten Orang-Utan für jenen gebrechlichen Unbekannten, der nicht mehr so agil in den Bäumen kletterte und sich nachdenklich inmitten einer ungewissen kleinen Lichtung niedersetzte. Es gibt nichts moralistischeres als die alte Art. Nichts legaleres. Mutter suchte den Weg der neuen Art ebenso sehr entgegen all den Tugenden der alten Art wie gegen ihre Sünden oder Gesetze. Denn "etwas anderes" ist, um die Wahrheit zu sagen, etwas anderes.
Dort landete ich eines Tages im Februar 1954, ließ meinen Urwald von Guyana samt einigen anderen ausweglosen Wanderungen hinter mir, als hätte ich an alle Tore der alten Welt gepocht, bevor ich an den Punkt absoluter Unmöglichkeit gelangte, wo man wirklich etwas anderes erreichen oder sonst eine Kugel in die Haut dieses alten höheren Affens jagen muß. Als erstes überraschte mich dieses exotische Tempeltum mit seinen Räucherstäbchen, Bildern und Fußfällen in Weiß: eine Kirche. Beinahe nahm ich am selben Abend den ersten Zug, schleunigst zum Himalaja, oder zum Teufel. Neunzehn Jahre blieb ich bei Mutter. Was konnte mich dort halten? Ich hatte Guyana nicht verlassen, um ein kleiner Heiliger in Weiß zu werden und einer Religion beizutreten. Ich kam nicht auf die Erde, um ein Ashram zu gründen - das wäre ein sehr ärmliches Ziel, schrieb sie schon 1934. Was bedeutete all dies also, dieses "Ashram", das sich bereits als Eigentümer des großen spirituellen Geschäfts anmeldete, und diese kleine zarte Silhouette inmitten der eifrigen Anbeter? Tatsächlich gibt es keine bessere Methode, jemanden zu ersticken, als ihn anzubeten: man begräbt ihn unter dem Gewicht der Anbetung, die euch noch dazu eine Art Besitzrecht verschafft. Warum wollt ihr anbeten? protestierte sie, ihr braucht doch nur zu werden! Nur aus Faulheit vor dem Werden betet ihr an. Sie wollte sie so sehr dieses "andere" werden lassen, doch es war bequemer, anzubeten und in Ruhe so zu bleiben, wie man ist. Sie sprach zu den Wänden. Sie war sehr allein, in diesem "Ashram". Nach und nach füllen die Anhänger das Haus, und dann sagen sie: es gehört uns. Es ist "das Ashram". Wir sind "die Anhänger". In Pondicherry wie in Rom oder in Mekka. Ich will keine Religion, Schluß mit den Religionen! rief sie aus. Sie focht und kämpfte dagegen - würde sie denn diese Erde als eine weitere Heilige oder Yogini verlassen, begraben unter Heiligenscheinen, die "Fortsetzerin" der großen spirituellen Überlieferungen? Sie war 76 Jahre alt, als ich dort landete, das Messer im Gürtel und die erste Blasphemie auf den Lippen.
Sie liebte die Herausforderung und verabscheute nicht die Blasphemie.
Nein, sie war nicht "die Mutter des Ashrams in Pondicherry". Wer war sie dann?... Ich entdeckte es Schritt für Schritt, wie man den Urwald entdeckt, oder vielmehr wie man mit ihm kämpft, Machete in der Hand - und dann schmilzt es, man liebt, so schön ist es. Mutter wuchs unter meiner Haut wie ein Abenteuer auf Leben und Tod. Sieben Jahre kämpfte ich mit ihr. Das war faszinierend, fürchterlich; das war mächtig und sanft; ich wollte schreien und beißen, fliehen und immer wieder zurückkehren: "Ah, mich wirst du nicht erwischen! Wenn du glaubst, ich sei hierher gekommen, um anzubeten, irrst du!" Sie lachte. Sie lachte immer. Ich bekam mein Maß an Abenteuern, denn im Urwald, wenn man sich irrt, verirrt man sich köstlich mit derselben alten Haut auf dem Rücken, während es hier überhaupt nichts mehr gab, wo man sich verirren könnte! Man kann sich nicht mehr verirren: man muß seine Haut wechseln. Oder sterben. Ja, die Art wechseln. Oder einen weiteren kleinen Anbeter abgeben - ekelhaft -, nein, das stand nicht auf meinem Programm. Man ist der Feind seiner eigenen Vorstellung des Göttlichen, sagte sie mir mit ihrem kleinen schelmischen Lächeln. Die ganze Zeit - jedenfalls die ersten sieben Jahre - kämpfte ich gegen meine Vorstellung von Gott und dem "spirituellen Leben": das war sehr praktisch, ich hatte einen "Repräsentanten" vor mir. Sie ließ mich gewähren, sie eröffnete mir sogar die verschiedensten kleinen Paradiese, samt einigen Höllen, weil sie Hand in Hand gehen. Sie öffnete mir sogar die Tür einer gewissen "Befreiung", die schließlich ebenso einschläfernd wurde wie eine Ewigkeit - aber ohne Ausweg: es war die Ewigkeit. Man war von allen Seiten umzingelt: es blieben nur noch diese 2 m2 Haut, die letzte Zuflucht, jene, der man von oben oder von unten entfliehen wollte, durch Guyana oder den Himalaja. Sie erwartete mich am anderen Ende meiner spirituellen oder weniger spirituellen Pirouetten. Die Materie, das war ihre Angelegenheit. Ich brauchte sieben Jahre, um zu verstehen, daß sie dort anfing, wo die anderen Yogas aufhören, wie Sri Aurobindo fünfundzwanzig Jahre zuvor sagte. Ich mußte alle Pfade des Geistes durchlaufen und all die der Materie, jedenfalls sehr viele im geographischen Sinne, bevor ich entdeckte oder auch nur verstand, daß "etwas anderes" wirklich etwas anderes ist. Kein verbesserter Geist, keine verbesserte Materie, sondern ... man könnte sagen "nichts", so sehr widerspricht es allem, was wir kennen. Für die Raupe ist der Schmetterling nichts. Er ist nicht einmal sichtbar und hat nichts gemeinsam mit den Raupenparadiesen oder sogar einer Raupenmaterie. Jetzt hatte es mich erwischt: gefangen im unwiderruflichen Abenteuer. Von dort gab es keine Rückkehr: man mußte auf die andere Seite gelangen. In diesem siebten Jahr, als ich noch an die Befreiungen der gesammelten Upanishaden glaubte, mit einigen prächtigen Visionen, um das Gewöhnliche aufzubessern (das schrecklich gewöhnlich blieb), als ich "die Mutter des Ashrams" noch für eine Art spirituellen Super-Direktor hielt (trotz allem mit einem entwaffnenden und so irritierenden Lächeln begabt, als machte sie sich über mich lustig und hatte mich insgeheim gerne), da sagte sie mir eines Tages: Ich habe das Gefühl, alles, was wir lebten, alles, was wir wußten, alles, was wir taten, all das ist eine vollkommene Illusion ... Als ich die spirituelle Erfahrung hatte, daß das materielle Leben eine Illusion ist, fand ich das so wunderbar schön und glücklich, daß es eine der schönsten Erfahrungen meines Lebens war, doch hier wird das gesamte spirituelle Gebäude, wie wir es lebten, zu einer Illusion! - Nicht dieselbe Illusion, sondern eine sehr viel schwerwiegendere. Und ich bin kein Baby mehr: jetzt bin ich schon seit siebenundvierzig Jahren hier! Ja, sie war dreiundachtzig. An diesem Tag hörte ich auf, "der Feind meiner eigenen Vorstellung des Göttlichen" zu sein, denn das gesamte Göttliche fiel auf die Nase - und ich begegnete Mutter, endlich. Dieses Mysterium von Mutter, denn sie hörte nicht auf, ein Mysterium zu sein, bis zu ihrem fünfundneunzigsten Jahr, und selbst heute noch, von der anderen Seite dieser Mauer der Unsichtbarkeit, fordert sie uns heraus und läßt uns im tiefsten Mysterium tappen - mit einem Lächeln. Sie lächelt noch immer. Und das Mysterium bleibt ungelöst.
Diese Agenda dient vielleicht genau dem Versuch, das Mysterium gemeinsam mit einigen gleichgesonnenen Bilderstürmern zu lösen.
Wo bleibt jetzt "die Mutter des Ashrams" in all dem? Wo bleibt "das Ashram" selber, wenn nicht als spirituelles Museum der Widerstände gegen das Andere. Sie blieben - und bleiben noch immer - bei ihren Katechismen unter einer kleinen Fahne: sie sind die Eigentümer der neuen Wahrheit. Aber die neue Wahrheit lacht ihnen ins Gesicht und läßt sie am Rande ihres kleinen Sumpfes austrocknen. Sie bilden sich ein, Mutter und Sri Aurobindo würden sich 27 Jahre oder 4 Jahre nach ihrem Abschied weiter wiederholen! Das wären aber nicht Mutter und Sri Aurobindo sondern Fossilien. Die Wahrheit läuft immer weiter. Sie ist mit jenen, die wagen, die Mut besitzen, vor allem den Mut, die Bilder zu brechen, zu entmystifizieren, und wirklich auf die Eroberung des Neuen zu gehen. Das "Neue" ist schmerzhaft, ist entmutigend, es gleicht nichts Bekanntem! Man kann nicht die Fahne eines Landes hissen, das man noch nicht erobert hat - und das ist das Wunderbare, es existiert noch nicht: wir müssen es entstehen lassen. Das Abenteuer ist noch nicht vorüber: es bleibt zu leben. Die Wahrheit wurde nicht in der Falle gefangen, fossilisiert, "spiritualisiert": sie bleibt zu entdecken. Wir sind im Nichts, das wir zu etwas werden lassen müssen. Wir sind im Abenteuer der neuen Art. Eine neue Art steht selbstverständlich im Widerspruch zur alten Art und den kleinen Fahnen des bereits Bekannten. Sie hat nichts mit den spirituellen Gipfeln der alten Welt gemein, nicht einmal mit ihren Abgründen - die eine köstliche Versuchung für jene bedeuten könnten, denen die Gipfel leid geworden sind, aber es ist genau dasselbe, in Schwarz oder in Weiß, brüderlich oben wie unten. Wir brauchen etwas anderes.
Bist du dir deiner Zellen bewußt? fragte sie mich kurz nach der kleinen Operation spiritueller Demolition. Nein? Dann werde dir deiner Zellen bewußt, und du wirst sehen, es hat irdische Resultate. Sich seiner Zellen bewußt sein?... Das war eine ungleich radikalere Operation als die Überquerung des Maroni mit der Machete, denn schließlich lassen Bäume und Lianen sich durchhauen, aber der Großvater, die Großmutter und die gesamte atavistische Sammlung, ohne die Tier-, Pflanzen- und Mineralschichten zu erwähnen, die einen krabbelnden Humus über dieser kleinen reinen Zelle unter ihrem Jahrmillionen alten genetischen Programm bilden, das läßt sich nicht so leicht ent-decken. Die Großväter und Großmütter wachsen wie Queckengras nach, wie all die alten Gewohnheiten: Hunger haben, Angst haben, krank werden, das Schlimmste befürchten, auf das Beste hoffen, das wieder nur das Beste der sterblichen Gewohnheit ist. All das läßt sich nicht entwurzeln oder so leicht erwischen wie die himmlischen "Befreiungen", die das Krabbeln in Frieden lassen und den Körper in seiner gewohnten Zersetzung. Sie kam, das zu durchbrechen. Sie war die Mutter der Evolution, die eine neue Schneise in die alte faselnde Gewohnheit des Menschseins bringen wollte. Sie mochte die Faseleien nicht, sie war die Abenteurerin par excellence - die Abenteurerin der Erde. Sie erkämpfte für den Menschen das große Mögliche, das schon in seiner ersten Lichtung pochte und das er glaubte, einen flüchtigen Augenblick lang mit seinen Maschinen gefangen zu haben. Sie erkämpfte eine neue Materie, frei, frei, ohne die Gewohnheit, zwangsläufig wie ein Mensch zu sein, der sich für alle Ewigkeit wiederholt, mit einigen Verbesserungen der Organtransplantation und Geldzirkulation. In der Tat kam sie, um das zu entdecken, was nach dem Materialismus und nach dem Spiritualismus, diesen beiden Zwillingsbrüdern, kommen wird. Denn der Materialismus im Westen und der Spiritualismus im Osten zerfallen aus ein und demselben Grund: jetzt ist die Zeit der neuen Art. Der Mensch muß erwachen, nicht nur von seinen Dämonen, sondern auch von seinen Göttern. Eine neue Materie, ja, sowie ein neuer Geist, ja, denn noch kennen wir weder das eine noch das andere. Jetzt ist die Zeit, wo Wissenschaft und Spiritualität am Ende ihres Weges entdecken müssen, was die Materie wirklich ist, denn dort liegt wirklich der Geist, den wir nicht kennen. Jetzt ist die Zeit, wo all die "ismen" der alten Art zerfallen: Das Zeitalter des Kapitalismus und der Geschäfte nähert sich seinem Ende. Doch auch das Zeitalter des Kommunismus wird vergehen... Jetzt ist die Zeit einer kleinen reinen Zelle, die weltweite resultate hervorrufen wird, unendlich radikaler als all unsere politischen, wissenschaftlichen oder spiritualistischen Notbehelfe.
Diese fabelhafte Entdeckung ist die ganze Geschichte der Agenda. Was ist der Übergang? Wie bahnt man den Weg der neuen Art?... Dann, plötzlich auf der anderen Seite dieser tausendjährigen alten Gewohnheit - eine Gewohnheit, nichts als die Gewohnheit, wie ein Mensch in Zeit und Raum und Krankheit zu stehen: die ganze unerbittliche, "wissenschaftliche" und vollkommen medizinische Geometrie -, auf der anderen Seite ... nichts von all dem! Eine Illusion, eine phantastische medizinische, wissenschaftliche und genetische Illusion: den Tod gibt es nicht, die Zeit gibt es nicht, die Krankheit gibt es nicht, das "Nahe" und "Ferne" auch nicht - eine andere Seinsart in einem körper. Millionen Jahre lang lebten wir in einer Gewohnheit und setzten unser eigenes Denken über Welt und Materie in Gleichungen. Keine Gesetze mehr! Die Materie ist frei. Sie kann eine kleine Eidechse, ein Eichhörnchen, einen Papageien bilden - jetzt hat sie genug Papageien gebildet. Jetzt kommt etwas anderes ... wenn wir wollen.
Mutter ist die Geschichte der freien Erde. Frei von ihren spirituellen und wissenschaftlichen Papageien. Frei auch von ihren kleinen Ashrams - dies sind die hartnäckigsten aller Papageien.
Tag für Tag, siebzehn Jahre lang, rief sie mich zu sich, um mir ihre unmögliche Reise zu erzählen. Ah, wie gut verstehe ich jetzt, warum sie so dringend einen Gesetzlosen und Häretiker meines Schlags brauchte, um ein bißchen ihren unmöglichen Weg in "nichts" zu begreifen. Und wie gut verstehe ich jetzt ihre unendliche Geduld mit mir, trotz all meiner Revolten, die letztlich nichts anderes als die Revolte der alten Art gegen sich selbst waren. Die letzte Revolte. Es geht nicht um eine Rebellion gegen die britische Regierung, die jeder leicht durchführen kann, sondern um eine Rebellion gegen die gesamte materielle Natur! rief Sri Aurobindo fünfzig Jahre zuvor. Sie hörte meinen Klagen zu, ich ging fort und kehrte zurück; ich wollte nicht mehr und wollte noch mehr. Es war höllisch und wunderbar, unmöglich und das einzig Mögliche in dieser alten erstickenden Welt. Es war der einzige Ort, wohin man sich wenden konnte, in dieser mit Stacheldraht eingezäunten, mechanisierten Welt, wo Hamburg genauso übervölkert und verpestet ist wie Hong-Kong. Die neue Art war der letzte freie Platz im allgemeinen Gefängnis. Die Hoffnung der Erde. Wie lauschte ich ihrer stockenden, leisen Stimme, die von weit, weit her zu kommen schien, Räume und den ganzen mentalen Seetang durchquerte, um ihre kleinen Tropfen von reinen, kristallenen Worten fallen zu lassen, ihre Worte, die einen sehen lassen. Ich lauschte der Zukunft, berührte das Andere. Es war unverständlich und wie gefüllt mit einem anderen Verständnis. Es verblüffte mich von allen Seiten und war dennoch von überwältigender Offensichtlichkeit. Eine "andere Art" war wirklich radikal anders, und dennoch vibrierte sie im Inneren wie ein absolutes Wiedererkennen, als wäre es das, was wir seit Zeitaltern und Zeitaltern suchten, das, was wir unter allen Erleuchtungen riefen, in Theben wie in Eleusien wie überall, wo wir in einer Menschenhaut suchten und litten. Für das waren wir hier, für diese höchste Möglichkeit endlich in einer Menschenhaut. Dann wurde ihre Stimme immer gebrechlicher, ihr Atem wurde schwerer, als müsse sie immer größere Entfernungen überbrücken, um uns zu erreichen. Sie war so allein, gegen die Mauern des alten Gefängnisses zu hämmern. Viele Klauen zeigten sich um sie. Oh, ich hätte schleunigst all diesem Gerümpel den Rücken gekehrt, um mit ihr in die Zukunft der Welt zu laufen. Sie war sehr abgemagert, nach vorne gebeugt, wie erdrückt unter der "spirituellen" Bürde, die die ganze umgebende alte Art ihr auf den Rücken lud. Sie glaubten nicht daran, nein. Sie hielten Mutter für 95 Jahre + soviele Tage alt. Kann man ganz allein die neue Art werden? Sie schimpften sogar, waren diesen unerträglichen Strahl leid, der ihre häßlichen Geschichten ans Tageslicht zerrte. Das Ashram verschloß sich langsam über ihr. Die alte Welt wollte eine neue kleine Kirche gründen, vergoldet und schön ruhig. Nein, niemand wollte werden. Anbeten war viel bequemer. Und dann begraben sie euch feierlich, Affaire geregelt: jetzt rührt man sich nicht mehr und bitte ein paar fotografische Heiligenscheine für die Pilger des schönen Geschäfts. Doch sie irren sich. Die Geschichte wird ohne sie geschehen, die neue Art wird ihnen ins Gesicht springen - sie ist dabei der Welt ins Gesicht zu springen, trotz all ihren schwarzen und weißen Ismen, sie bricht aus allen Poren der zerschundenen Erde, die es leid ist, mit kleinen Himmeln oder kleinen barbarischen Mechaniken zu tun als ob. Jetzt ist die Zeit der wahren Erde. Jetzt ist die Zeit des wahren Menschen. Wir gehen alle dorthin - aber wenn wir den Weg ein wenig wissen könnten ...
Diese Agenda ist nicht einmal ein Weg: sie ist eine kleine leichte Vibration, die uns hinter jeder Wegkehre erfassen kann - und dann ist es hier, wir sind darin. Eine andere Welt in der Welt, sagte sie. Wir müssen die kleine leichte Vibration erfassen, müssen mit ihr fließen, im Nichts, das wie das einzige Etwas inmitten des großen Aufbruchs ist. Zu Beginn der Dinge, als noch nichts fixiert war, als es noch nicht diese Gewohnheit des Pelikans oder des Känguruhs oder des höheren Affen oder des Biologen im 20. Jahrhundert gab, da gab es ein kleines Pochen, das schlug und schlug, wie ein köstlicher Taumel, wie die Freude des großen Abenteuers der Welt; ein kleiner, nie gefangener Funke, der weiter und weiter schlägt, von Art zu Art, als würden wir ihn nie erreichen, als wäre er immer dort, dort: als müßten wir ihn immer werden, ihn endlos wie das einzige große Spiel der Welt spielen; ein ich-weiß-nicht-was, das diesen kleinen Menschen nachdenklich in seiner Lichtung ließ; ein kleines "etwas", das pocht und pocht, atmet und atmet, unter allen Häuten, die man darüber legte, das wie unser tiefer Atem ist, unsere leichte Luft, unsere Luft von nichts - und das geht weiter und weiter. Wir müssen den kleinen leichten Atem erfassen, das kleine Pochen um nichts. Dann wird plötzlich am Rande unserer Beton-Lichtung unser Kopf unwiderruflich zu wirbeln beginnen, die Augen in etwas anderem blinzeln, und alles ist anders, und alles ist wie übervoll von Sinn und von Leben, als hätten wir nie gelebt vor dieser Minute. Dann fassen wir den Zipfel des Großen Möglichen, stehen auf dem weglosen Weg, im radikal Neuen, und wir laufen mit der kleinen Eidechse, dem Pelikan, dem großen Menschen, wir laufen überall in einer Welt, die ihre alte getrennte Haut und ihr Bürde der Gewohnheiten verlor. Wir beginnen anders zu sehen, anders zu fühlen. Wir öffnen ein Tor auf eine undenkbare Lichtung. Nur eine kleine leichte Vibration, die uns mitreißt. Dann beginnen wir zu verstehen, wie sich das ändern kann, durch welchen Mechanismus: ein leichter und so wunderbarer Mechanismus, daß er nach nichts aussieht. Wir beginnen das Wunder einer kleinen reinen Zelle zu spüren, und daß vielleicht ein wenig Freude genügen würde, um die Welt umzuwenden. Wir lebten in einem kleinen denkenden Goldfischglas, wir starben in einer kleinen verstöpselten Gewohnheit. Doch dann ist es ganz anders. Die Erde ist frei! Wer will die Freiheit?
Aber in einer Zelle fängt es an.
Eine kleine reine Zelle.
Mutter ist die Freude der Freiheit.
Frohe Agenda!

Satprem
Nandanam
Deer House
August 1977