6. März 1963
Warum nicht beides?
Beide Formen können zur selben Zeit bestehen, die eine schließt die andere nicht aus.
Ja, aber wird die eine sich in die andere umwandeln?Die eine wird sich umwandeln und als Entwurf für die andere dienen. Wenn dieser Entwurf existiert, wird die andere, perfekte, erscheinen. Denn beide haben ihre Schönheit und ihren Seinsgrund, folglich werden sie beide bestehen.
Das Mental will immer wählen, entscheiden - so ist es nicht. Alles, was wir uns vorstellen können, ist doch viel weniger als das, was sein wird. Im Grunde genommen wird jeder, der eine intensive Aspiration und eine innere Gewißheit spürt, aufgefordert werden, sie zu verwirklichen.
Überall, in allen Bereichen und immer und ewig wird alles möglich sein. Und alles, was möglich ist, wird in einem gegebenen Moment sein - in mehr oder weniger ferner Zukunft, aber alles wird sein.
Genauso, wie man zwischen den Tieren und dem Menschen alle möglichen Übergangsstufen entdeckte, die keinen Bestand hatten, wird es auch diesmal zahlreiche verschiedene Entwürfe geben: jeder wird es auf seine Weise versuchen. Und all das zusammen wird helfen, die zukünftige Verwirklichung vorzubereiten.
Man könnte sich fragen: Wird es der menschlichen Spezies ergehen wie gewissen anderen Arten, die von der Erde verschwanden? - Gewisse Arten verschwanden ja von der Erde (aber vermutlich keine, die so lange existierten wie die menschliche Spezies, und erst recht nicht solche, die den Keim des Fortschritts oder die Möglichkeit des Fortschritts in sich trugen). Man hat vielmehr den Eindruck, daß die Evolution einer Kurve folgt, die sich immer dichter einer höheren Spezies annähert. Vielleicht wird alles, was der unteren Art noch zu nahe steht, wegfallen, so wie diese Arten wegfielen.
Man vergißt immer, daß nicht nur alles möglich ist - alles, selbst die widersprüchlichsten Dinge -, sondern daß all diese Möglichkeiten mindestens einen Augenblick des Daseins erleben.
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(Dann beginnt Mutter mit der Vorbereitung der Aphorismen für das nächste Bulletin:)84 - Das Übernatürliche ist ein Natürliches, das wir noch nicht erlangt haben oder noch nicht kennen oder dessen Zugangswege wir noch nicht erobert haben. Der weitverbreitete Hang nach Wundern ist das Anzeichen dafür, daß der Aufstieg des Menschen noch nicht abgeschlossen ist.
85 - Vernunft und Vorsicht lassen uns dem Übernatürlichen mißtrauen, aber daran zu glauben birgt auch eine Art Weisheit.
86 - Große Heilige vollbrachten Wunder. Größere Heilige spotteten über sie. Die größten Heiligen taten beides: sie spotteten darüber und vollbrachten sie.
87 - Öffne deine Augen und sieh, was die Welt wirklich ist und was Gott ist! Entledige dich eitler und bequemer Vorstellungen!
Hast du irgendwelche Fragen?
Ja, ich stelle mir zwei Arten von Fragen...Zwei sehr verschiedene Dinge sind darin enthalten.
Zunächst könnte man fragen: Was ist ein Wunder? Denn Sri Aurobindo sagte häufig, es gebe keine "Wunder", und gleichzeitig sagt er zum Beispiel in Savitri: "Alles ist Wunder hier und kann durch Wunder verändert werden"?Das hängt davon ab, wie man es betrachtet: von dieser oder von der anderen Seite.
Man bezeichnet nur jene Dinge als Wunder, deren Erklärung nicht offensichtlich ist, für die man keine mentale Erklärung hat. Von diesem Standpunkt aus kann man sagen, daß sich eine Vielzahl von Dingen ereignet, die "Wunder" sind, weil man weder das Wie noch das Warum erklären kann.
Was wäre denn ein wirkliches Wunder?Ich sehe nicht, was ein wirkliches Wunder sein könnte. Was ist überhaupt ein Wunder?
Ein wirkliches Wunder... Nur das Mental sieht Wunder, denn es entscheidet mit der ihm eigenen Logik, ob diese oder jene Sache unter den gegebenen Umständen sein kann oder nicht. Doch das sind gerade die mentalen Begrenzungen. Denn wie können sich vom Standpunkt des Höchsten Wunder ereignen? - Alles ist Er selbst, der Sich objektiviert.
Damit kommen wir zum großen Problem des Weges, dem wir folgen, des ewigen Weges, wie Sri Aurobindo ihn in Savitri beschreibt. Natürlich kann man sich vorstellen, daß das, was sich zuerst objektivierte, Gefallen an der Objektivierung fand. Als erstes muß man einräumen, und das erscheint für das Evolutionsprinzip folgerichtig, daß die Objektivierung fortschreitend geschieht, sie ist nicht auf ewig abgeschlossen... (Schweigen) Es läßt sich nur sehr schwer darüber sprechen, denn wir können nicht von unserer gewohnten Vorstellung ablassen, eine feste Größe entfalte sich unbegrenzt und nur eine feste Größe könne einen Anfang haben. Wir haben immer die Vorstellung (wenigstens in unserer Ausdrucksweise) eines "Augenblicks" (lachend), wo der Herr beschließt, sich zu objektivieren. So gesehen ist die Erklärung leicht: Er objektiviert sich schrittweise, fortschreitend, und daraus resultiert die fortschreitende Evolution. Aber dies ist nur eine Redeweise. Denn es gibt keinen Anfang, es gibt kein Ende, und dennoch gibt es ein Fortschreiten. Die Wahrnehmung der Aufeinanderfolge, der Evolution, des Fortschritts besteht nur in der Manifestation. Nur wenn man von der Erde spricht, läßt es sich streng wahrheitsgetreu und vernünftig erklären, denn die Erde hat einen Anfang - nicht in ihrer Seele, aber in ihrer materiellen Wirklichkeit.
Wahrscheinlich hat auch ein materielles Universum einen Anfang.
(Schweigen)
So betrachtet, wäre ein Wunder für ein Universum das plötzliche Eindringen von etwas, das von einem anderen Universum kommt. Und für die Erde (die das Problem auf etwas sehr Verständliches reduziert) ist das plötzliche Eindringen von etwas, das nicht zur Erde gehörte, ein Wunder - eine radikale und sofortige Änderung durch das Einführen eines Prinzips, das nicht zu dieser endlichen Welt, der Erde, gehörte.
Aber hier wiederum wird gesagt, daß im Zentrum jeden Elementes im Prinzip alles sei. Somit ist auch ein solches Wunder nicht möglich.
Man kann sagen, daß der Begriff des Wunders nur einer endlichen Welt, einem endlichen Bewußtsein, einem endlichen Konzept angehört. Es ist das plötzliche Eintreten, Eindringen, Eingreifen, das unvorbereitete Auftauchen von etwas, das nicht in dieser physischen Welt bestand. Offenbar ist notwendigerweise jede Manifestation eines Willens oder Bewußtseins, das einem unendlicheren und ewigeren Bereich als der Erde angehört, ein Wunder auf der Erde. Aber wenn man die endliche Welt und die Verstehensweise der begrenzten Welt verläßt, besteht das Wunder nicht mehr. Der Herr kann mit Wundern spielen, wenn es Ihm beliebt, aber es gibt keine Wunder - Er spielt alle möglichen Spiele.
Man kann Ihn erst verstehen, wenn man spürt, daß Er alle möglichen Spiele spielt - und "möglich" meint nicht möglich nach der menschlichen Auffassung sondern nach Seiner Auffassung.
Dort gibt es keinen Raum für das Wunder, es kann höchstens als solches erscheinen.
(Schweigen)
Wenn das, was der supramentalen Welt angehört, plötzlich erschiene anstatt in einer langsamen Evolution, könnte der Mensch als mentales Wesen - selbst bei perfekter Entwicklung seiner Mentalität und seines mentalen Bereichs - dies ein Wunder nennen, denn es wäre das Eingreifen von etwas, das er nicht bewußt in sich selbst trägt und das in sein bewußtes Leben tritt. Der Hang nach Wundern, der sehr stark ist (viel stärker bei Kindern oder in jung gebliebenen Herzen als bei sehr mentalen Wesen), ist der Glaube an die Verwirklichung der Aspiration zum Wunderbaren, die Verwirklichung dessen, was alles übersteigt, was im normalen Leben erhofft werden kann.Eigentlich müßte man in der Erziehung immer beide Tendenzen gleichermaßen unterstützen: die Neigung, nach dem Wunderbaren zu dürsten, nach dem, was unrealisierbar erscheint, nach etwas, was einen mit dem Gefühl des Göttlichen erfüllt; gleichzeitig sollte man aber bei der Wahrnehmung der gegenwärtigen Welt eine genaue, richtige, ehrliche Beobachtung unterstützen, das Ausschalten aller Einbildungen, eine beständige Kontrolle, einen äußerst praktischen und gründlichen Sinn für die Genauigkeit der Details. Die beiden müßten parallel zueinander laufen. Gewöhnlich tötet man das eine mit der Vorstellung, man müsse dies tun, um das andere wachsen zu lassen - das ist ein völliger Irrtum. Beide können zugleich bestehen, und mit wachsendem Wissen versteht man, daß es zwei Aspekte ein und derselben Sache sind, nämlich einer klaren Sicht und eines höheren Unterscheidungsvermögens. Statt einer begrenzten, engen Sicht und Urteilskraft wird die Urteilsfähigkeit absolut ehrlich, richtig und genau - aber sie ist unermeßlich und schließt einen ganzen Bereich ein, der noch nicht der konkreten Manifestation angehört.
Vom erzieherischen Standpunkt wäre das sehr wichtig.
Die Welt sehen, wie sie ist, genau, schonungslos, auf ganz und gar nüchterne und konkrete Weise, und zugleich die Welt so sehen, wie sie sein könnte, in der freiesten und höchsten Vision, gänzlich erfüllt von Hoffnung und Aspiration und einer wunderbaren Gewißheit - wie die beiden Aspekte des Unterscheidungsvermögens. Was immer wir uns als das Strahlendste, das Wunderbarste, das Mächtigste, das Ausdrucksvollste, das Umfassendste vorstellen können, ist nichts im Vergleich zu dem, was sein kann; gleichzeitig ist unsere peinlich exakte Genauigkeit im geringsten Detail niemals genau genug. Beide sollten sich ergänzen. Wenn man dies kennt (Bewegung nach unten) und Das kennt (Geste nach oben), ist man in der Lage, beide zu vereinen.
Auf diese Weise macht man den bestmöglichen Gebrauch von diesem Durst nach Wundern. Das Bedürfnis nach Wundern ist eine Haltung der Unwissenheit: "Ach, ich hätte so gerne, daß es so wäre!" Das ist eine Haltung der Unwissenheit und Schwäche. Andererseits kennen jene, die sagen: "Ihr lebt in Wundern", nur das untere Ende (und auch das kennen sie nur unvollkommen), und sie haben keinerlei Kontakt mit etwas anderem.
Man muß dieses Bedürfnis nach Wundern in eine bewußte Aspiration auf etwas hin verwandeln, das es schon gibt, das existiert, und das mit hilfe all dieser Aspirationen manifestiert werden wird: All diese Aspirationen sind notwendig, oder sind, wenn man es auf eine wahrere Weise betrachtet, eine Begleiterscheinung - eine angenehme Begleiterscheinung - innerhalb des ewigen Ablaufs.
Im Grunde entgegnen einem die streng logisch veranlagten Leute: "Warum beten? Warum streben, warum bitten? Der Herr tut stets, was Er will, und Er wird tun, was Er will." Das ist völlig klar, man braucht es gar nicht erst zu erwähnen, aber die Begeisterung: "Herr, manifestiere Dich!" verleiht Seiner Manifestation eine intensivere Schwingung.
Sonst hätte er die Welt niemals so geschaffen, wie sie ist - es liegt eine besondere Kraft, eine besondere Freude, eine besondere Schwingung in dieser Intensität der Aspiration der Welt, auf daß sie wieder werde, was sie ist.
Und aus diesem Grunde - teilweise, es ist nicht die ganze Geschichte - gibt es eine Evolution.
Einem auf ewig perfekten Universum, das die ewige Perfektion in Ewigkeit manifestierte, würde die Freude am Fortschritt fehlen. Das spüre ich sehr intensiv. Sehr intensiv. Denn wir sehen nicht über unsere Nasenspitze hinaus, nicht einmal eine Sekunde der Unendlichkeit, und da diese Sekunde nicht alles enthält, was wir fühlen und wissen wollen, beschweren wir uns und sagen: "Oh, nein! die Welt ist nicht gut." Aber wenn wir aus unserer Sekunde heraus ins Ganze eintreten, empfinden wir sogleich sehr intensiv all das, was dieses Bedürfnis nach Fortschritt zur Manifestation beigetragen hat.
Und selbst dies... ist noch auf das empfangende Instrument beschränkt. Es kommt ein Augenblick, wo selbst die schöpferische Kraft dieses Universums sich plötzlich ganz klein fühlt, wenn sie sich nicht mit der schöpferischen Kraft aller anderen Universen verschmilzt und vereinigt.
Auch dort gibt es einen Aufstieg und einen stetigen Fortschritt in der Vereinigung.
(Mutter wendet sich plötzlich Satprem zu)
Das nimmst du doch nicht alles auf?
Aber... Aber ja!(Lachend) Nein, alles am Schluß läßt du weg.
Jetzt haben wir keine Zeit mehr, sonst hätte ich dich vielleicht noch etwas gefragt.Welche Frage?
Warum haben Sri Aurobindo oder du nicht in größerem Ausmaß vom Wunder Gebrauch gemacht, um den Widerstand im äußeren menschlichen Bewußtsein zu überwinden? Warum diese Distanzierung vom Äußeren, dieses Nicht-Eingreifen, wenn man es so ausdrücken kann, diese Zurückhaltung?Was Sri Aurobindo betrifft, so weiß ich nur, daß er mir mehrmals gesagt hat: Als "Wunder" bezeichnen die Leute lediglich Eingriffe in die materielle oder in die vitale Welt, und diese Eingriffe sind immer mit Bewegungen der Unwissenheit und Willkür vermischt.
Sri Aurobindo vollbrachte jedoch eine unvorstellbare Zahl von Wundern im Mental. Natürlich konnte man sie nur mit einer sehr ehrlichen, sehr aufrichtigen und sehr reinen Sicht wahrnehmen - ich konnte sie sehen. Auch andere haben sie gesehen. Aber wegen dieser Vermischung weigerte er sich, auch nur ein einziges materielles oder vitales Wunder zu vollbringen (das weiß ich).
Meine Erfahrung lautet also: Im gegenwärtigen Zustand der Welt müßte ein direktes (materielles oder vitales) Wunder notgedrungen eine Fülle von lügenhaften Elementen berücksichtigen, die man nicht zulassen darf - es wären notgedrungen lügenhafte Wunder. Das kann man nicht zulassen; ich habe das immer abgelehnt. Ich sah, was die Leute "Wunder" nennen, ich sah es beispielsweise bei Madame Theon, aber das verlieh einer Anzahl Dinge eine Daseinsberechtigung, die für mich unzulässig sind.
Ich weiß nicht, ob dies der eigentliche Grund ist oder ob es einfach so war, weil es nicht sein sollte. Das ist alles.
Ich hätte vieles zu sagen, aber... Vielleicht werde ich es dir eines Tages sagen, aber es kann jedenfalls nicht im Bulletin verwendet werden - diese Dinge sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Was die Leute jetzt "Wunder" nennen, ist fast immer von vitalen Wesen geschaffen oder von Menschen, die in Beziehung mit vitalen Wesen stehen, und es ist vermischt - es läßt die Wirklichkeit und die Wahrheit bestimmter Dinge zu, die nicht wahr sind. Auf dieser Basis wirkt es. Das ist unannehmbar.
Eines Tages werde ich es dir vielleicht sagen; aber was ich dir persönlich sagen werde, wird gut für die Agenda sein, nicht für das Bulletin.