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354 S., ISBN 978-3-89427-719-2

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Band 1: Der Göttliche Materialismus
Band 2: Die Neue Spezies
Band 3: Die Mutation des Todes

Aus dem Inhalt:

Einleitung
1. Die Wurzeln
2. Einheit
3. Die Schwingen und Flüge der Shakti
4. Von der Musik und den Farben

Einleitung

Die Mutter und ich sind eins, in zwei Körpern.
- Sri Aurobindo

17. November 1973, 19 Uhr 25. Sie ist gegangen.

Die Ärzte haben sie für tot erklärt - sie waren zu dritt.

Kein Irrtum.

Sie ist gegangen.

Und dennoch ...

Ihr Gesicht war so schmal, so weiß - oh, keine Seligkeit, kein "Friede der Toten": eine ungestüme Konzentration lag auf ihrem Gesicht. Sie, die alle Wonnen und alle Befreiungen der Seele besaß. Eine ungeheure Konzentration, als richtete sie ihre Augen auf ... was? Das Große Rätsel - unerbittlich, ohne Schwanken, ohne ein Zittern, direkt, wie ein Schwert ins Herz der Lüge dringt. Der Tod ist eine Lüge, sagte sie, wir haben es uns in den Kopf gesetzt und unseren Willen darauf gerichtet, über diesen Unfall zu siegen.

Was ist geschehen? Oder vielleicht: was geschieht?

Was betrachtete sie mit ihren geschlossenen Augen, sie, die gesagt hatte: Mit geschlossenen Augen sehe ich besser als mit offenen.

Sie werden mich für tot halten, weil ich mich nicht mehr bewegen und sprechen kann ... Aber du, du weißt es, du wirst es ihnen sagen ...

Du wirst es ihnen sagen ...

Das älteste Rätsel, seit es den Menschen gibt, das mächtigste Geheimnis seit dem alten Ägypten und davor, in dunkler Vorzeit, seit der Mensch stirbt. Im Grunde, solange es den Tod gibt, sagte sie einfach, enden die Dinge immer schlecht. Immer schlecht. Man mag singen, malen, dichten oder Religionen gründen (und dort liegt der tiefere Grund, warum wir Religionen gründen) und philosophieren (auch der Grund, warum wir Philosophien aufstellen), es wird immer mit dieser radikalen Infragestellung enden, die alle unsere Anstrengungen und schönsten Lieder mit Nichtigkeit schlägt. Schon seit einigen Millionen Jahren überlassen wir kommenden Geschlechtern die Sorge und Hoffnung, diese Lorbeeren zu pflücken. Ach, später! - und in Erwartung der Stunde, da auch wir unsere zwei Augen vor diesem Rätsel öffnen, verbleiben wir bei unseren eitlen Liedern. Beseitigen wir diesen Unfall, dann wird sich alles ändern: die Religionen, die Philosophien, die Lieder, das Leben. Es ist das einzige radikale Ereignis der Welt. Es ändert alles und bestimmt alles. Es ist geradezu, als sei es die Frage, die zu lösen mir aufgegeben wurde, sagte sie.

Du wirst es ihnen sagen ...

Das außergewöhnlichste Geheimnis, all dessen Fäden wir noch nicht einmal zu entwirren verstehen - und doch sind alle Fäden vorhanden, alles ist vorhanden in diesem erstaunlichen Epos, in Mutters geheimer Agenda, in der Schritt für Schritt die Erfahrungen eines neuen Übergangs auf der Erde notiert sind. Aber es genügt nicht, die Geheimnisse auszusprechen, genauso wenig wie tantrische Mantras: wir müssen sie unserer Substanz einflößen, es bedarf des kleinen Auslösers, der sie lebendig, kraftvoll und wirksam macht - wir müssen in Mutters Erfahrung eintreten. Wir müssen auf sie zugehen, wie auf der Suche nach der Revolution des Lebens. Solange wir nicht die Revolution des Todes in Angriff genommen haben, revolutionieren wir kein Iota der Welt, selbst wenn wir alle unsere Bomben und kilometerlangen Bibliotheken und mathematischen Gleichungen aneinanderreihen. Wir könnten unseren Planeten in die Luft jagen, und nichts, rein gar nichts wäre verändert - wir würden unsere Subtraktionen und Divisionen anderswo, auf anderen Erden kritzeln, und alles finge wieder von vorne an, von Molekülen über Aminosäuren bis zu einigen weiteren Friedensnobelpreisen gar keines Friedens. Denn nichts ändert sich, solange das nicht verändert wird. Diese Änderung wollen wir bewirken, sagte sie.

Und sie ist gegangen ...

Oder? Was ist das Geheimnis von Mutters "Tod"?

Sri Aurobindo ist gegangen, ohne uns sein Geheimnis zu verraten, sagte sie eines Tages. Aber vielleicht hat sie ihr Geheimnis hinterlassen, das uns erlaubt, Sri Aurobindos Geheimnis zu entdecken, denn es ist dasselbe. Wissen wir, was einer von beiden tat, wissen wir es auch vom anderen: keine Philosophie, trotz der vierunddreißig Bände, die er uns hinterlassen hat, sondern eine lebendige Evolution oder vielmehr eine lebendige Revolution. Eine Revolution, die noch in vollem Gange ist. Sie kamen beide, um diese Revolution, diesen neuen Schritt der Evolution oder diesen neuen Zustand zu erreichen - einen Zustand ohne Tod -, aber dennoch etwas anderes als physische Unsterblichkeit, denn Unsterblichkeit ist lediglich die Kehrseite unserer Sterblichkeit oder vielmehr ihre verherrlichte Fortsetzung ohne Grab - eine so umfassende Revolution des Lebens, daß des Todes eigentliche Wurzel darin nicht mehr wachsen kann und sowohl das Leben als auch der Tod sich verwandeln in ... etwas anderes.

Ziehen wir Bilanz!

Können wir hoffen, daß dieser Körper, der jetzt unser irdisches Ausdrucksmittel ist, sich nach und nach in etwas verwandeln wird, das ein höheres Leben auszudrücken vermag, oder werden wir gezwungen sein, diese Form ganz aufzugeben und eine andere anzunehmen, die noch nicht auf der Erde existiert ...? Wird es eine kontinuierliche Weiterentwicklung geben oder ein plötzliches Aufkommen von etwas Neuem? Führt ein fortschreitender Übergang von unserem jetzigen Sein zu dem, was unser innerer Geist anstrebt, oder wird es zum Bruch kommen, müssen wir die gegenwärtige menschliche Form aufgeben und die Erscheinung einer neuen Form abwarten - eine Form, deren Entstehungsprozeß wir nicht vorhersehen und die in keiner Beziehung zu unserem jetzigen Sein steht?

Das war Ende 1957, gerade ein Jahr, bevor sie sich in die große Erfahrung zurückzog - in das gefährliche Unbekannte, wie sie es nannte - fünfzehn Jahre vor diesem schicksalhaften 17. November 1973. Was ist in diesen fünfzehn Jahren geschehen? Hat sie den "Prozeß" entdeckt?

Wieder diese Frage: Wird es der Spezies Mensch so ergehen wie gewissen anderen Gattungen, die von der Erde verschwanden?

Sie brachten sie von ihrem Zimmer nach unten und betteten sie auf eine mit weißer Atlasseide überzogene Chaiselongue. Endlose Menschenschlangen zogen an ihr vorbei, begleitet vom Surren der Ventilatoren unter der goldglänzenden, brennendheißen Zinkdecke der Halle - alles Nötige, um einen Körper in Geschwindeseile zu zersetzen. Alles war sorgfältig angeordnet, damit der Tod sein Werk so schnell wie möglich vollziehen könne, an ihr, die gesagt hatte: Dieser Körper muß in Frieden gelassen werden ... sie sollen sich bloß nicht beeilen, ihn in die Grube zu stecken ... denn selbst nachdem die Ärzte ihn für "tot" erklärt haben, wird er bewußt sein - die Zellen sind bewußt -, er wird es wissen, er wird es fühlen, und dies wird zu allem Leid, das er bereits ertragen hat, ein weiteres hinzufügen. Dann nahm sie sich zurück: So viel Aufhebens wirkt nur albern - besser nichts sagen.

Sie steckten sie in die Grube, in einem Sarg aus Rosenholz, nahe bei Sri Aurobindo. Sie saß halb in ihrem Sarg, weil ihr Rücken so gekrümmt war - vielleicht von zu viel Leid. Ich war der ganze Schmerz der Welt, ... auf einmal empfunden. Langsam senkte sich der Sargdeckel über ihrem Haupt; gerade noch ein Lichtstrahl fiel auf ihren Nacken. Sie schaute, ganz allein, ihr Gesicht über ihre Brust gebeugt. Schaute wohin?

Dann schloß sich der Deckel - Nacht. Nacht oder was? Fünfundzwanzig Schrauben wurden in ihren Sarg gedreht.

Sie ist fünfundneunzig. Sie kämpfte wie eine Löwin, bis zum Ende. Aber wo ist das Ende?

Draußen wütet der zweite israelische Krieg. November 1973. Soeben wurde zum ersten Mal der Erdölhahn zugedreht - ein winziger Hahn. Die palästinensischen Kommandos schießen in Karthum, in Athen, in Fiumicino. Staatsstreich in Afghanistan, Staatsstreich in Chile, Terrorismus in Irland. Studentendemonstrationen in Barcelona, Bangkok, Griechenland. Kulturrevolution in Libyen, Kulturrevolution in China. Dürre im Sahel, Dollarentwertung, Watergate. Fünfzehnte chinesische Atombombe, fünfte französische Explosion. Dort stehen wir, im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts. Auch Picassos Tod. Vermutlich der Tod einer Welt. Oder der Anfang von etwas anderem.

Sogar ihre Nächsten begannen zu murren. Sie war so allein.

Es waren dreiundzwanzig Jahre seit Sri Aurobindos Abschied.

Wir hören noch seine prophetischen Worte:

Ein Tag mag kommen, an dem sie ohne Hilfe stehen muß, Auf einem gefährlichen Grad des Schicksals der Welt und ihrer selbst. Sie trägt die Zukunft der Welt in ihrer einsamen Brust Und des Menschen Hoffnung in ihrem verlassenen Herzen, Um an einer letzten verzweifelten Grenze zu siegen oder zu versagen. Allein mit dem Tod und nahe dem Abgrund der Vernichtung, Ihre einzige Größe in diesem letzten schrecklichen Akt, Muß sie allein die gefährliche Brücke der Zeit überqueren Und einen Knoten des Welt-Schicksals erreichen, An dem alles gewonnen oder verloren wird für den Menschen.6

Sie murrten. Aber es war das Murren der gesamten Welt - als wäre etwas hineingeworfen worden, das überall ein Aufkochen von Wut verursacht. Doch lassen wir uns nicht täuschen, es geht nicht um eine menschliche Revolte für ein besseres Leben, ein besseres Dasein - selbst dieses Bessere ist wertlos, sagte sie -, nicht um ein bißchen mehr Sozialismus hier, Demokratie da, um Gerechtigkeit oder Brüderlichkeit - auch die beste dieser Brüderlichkeiten bleibt eine Brüderlichkeit des Todes -, nicht darum, das Gefüge auszubessern oder den Erdölhahn zu reparieren - morgen wird er anderswo lecken. Das große Leck überall. Es ist der rote Abend des Westens, den Sri Aurobindo bereits vor dreiundfünfzig Jahren vorhersah, als wir noch auf der Höhe unserer wissenschaftlichen Triumphe und Entdeckungen stolzierten. Es gibt nichts zu entdecken als uns selbst! Es gibt keine Supermacht außer in uns selbst, keine andere Quelle neuer Energie als die innere! Genau das wird der Erde jetzt in den Kopf gehämmert - dieses Etwas, das "hineingeworfen" wurde, diese "supramentale Kraft", die uns drängt und weiterdrängt, damit wir das wirkliche Geheimnis der Materie finden, die wirkliche Macht, das wirkliche Leben ohne Tod, die wirkliche Brüderlichkeit ohne Hinrichtungskommando, die Gerechtigkeit ohne Fallbeil, und Menschen, die Meister ihres Geschicks sind - oder andere Menschen. Während gewaltiger Zeitabschnitte werden die Dinge vorbereitet, die Vergangenheit erschöpft sich, die Zukunft bereitet sich vor. In diesen ausgedehnten, neutralen, eintönigen Perioden wiederholen sich die Dinge unablässig und geben den Anschein, für immer gleich bleiben zu müssen. Dann, zwischen zwei solchen Abschnitten, geschieht plötzlich die Änderung. Wie jener Zeitpunkt, als der Mensch auf der Erde erschien. Jetzt kommt etwas anderes, ein anderes Wesen.

Ist sie gescheitert oder hat sie den "Prozeß", den Durchbruch zum anderen Wesen gefunden?

Hinter diesem "Tod" verbergen sich mehr Geheimnisse, als es scheint.

Das Geheimnis der Zukunft.

Ein schwieriges Geheimnis, dem wir uns mit einem Gebet auf den Lippen und einem Beben im Herzen nähern. So war es vielleicht, als der erste Mensch in seiner Waldlichtung dem ersten furchterregenden Gedanken nahetrat. Aber das Geheimnis der kommenden Welt steckt in keinem Gedanken, es ist supra-mental, es vollzieht sich in der Tiefe des Körpers, in jenem Leben-und-Tod-Knoten, wo das erste Stammeln des Lebens in der Materie entstand - in den Körperzellen, an der Grenze zwischen Biologie und Gebet. Da gibt es kein Geheimnis zu "verstehen", sondern eine Feuerprobe zu bestehen, denn für die Materie bedeutet Verstehen nicht Wissen, sondern Können. Diese Kraft liegt genau an dem engen Berührungspunkt von Leben und Tod, wo die Zellen den alten genetischen Kode verlassen und in das Gesetz des kommenden Zeitalters eintreten. Es ist eine neue Umwandlung, schwieriger als die der Raupe. Die Umwandlung zum nächsten Zeitalter. Das Geheimnis finden, bedeutet zu können. Es bedeutet, standzuhalten vor dem Tod, standzuhalten vor dem Leben, dort, wo dieser Tod erlischt und dieses Leben erlischt - oder in einem anderen physischen Leben aufbrennt, das nicht mehr Leben oder Tod ist, sondern etwas anderes. Vielleicht das göttliche Leben. Eine andere Lichtung. Ein gefahrvoller Durchgang.

Du wirst es ihnen sagen ...

Diesen Durchgang wollen wir zusammen suchen, uns in Mutters großem Urwald vorantasten. Und vielleicht entdecken wir am Ende, in der Lichtung der nächsten Welt, mit den Augen des nächsten Wesens, das, was sie suchte: Ich bin auf dem Weg, die Illusion aufzudecken, die zerstört werden muß, damit das physische Leben ununterbrochen sein kann.

Und täuschen wir uns nicht: Die Entdeckung ist noch nicht getan - sie bleibt zu vollenden.

Vielleicht müssen sogar viele sie machen, damit sie wirklich stattfinden kann.

Vielleicht finden wir Mutter dann wieder, als sei sie nie gestorben.

Und des Todes tiefe Falschheit wird verschwinden.

Nandanam, Deer House

6. Januar 1975


1. Die Wurzeln

Mutters großer Urwald hatte schon sehr früh begonnen. Voller überraschender Umwege ist er, voller Wasserfälle, tiefer Dickichte. Man weiß nicht, soll man sich nach rechts oder links wenden, und vielleicht muß man überall und in alle Richtungen gehen - vielleicht gibt es keinen Weg in Mutters weitem Wald, oder alles ist der Weg. Er beginnt überall, er endet überall, weil jeder Grashalm womöglich alles enthält. Man wandert, es macht Spaß, sagte sie.

Ich durchwanderte gerade alle die menschlichen Strukturen, erzählte sie nach einer ihrer Visionen - denn sie sah gar viele Dinge, diese Mutter, überall, in allem. Mit ihr leben hieß, die Welt mit überraschten Augen zu sehen, als hätte man sie nie zuvor erblickt und wie kein Picasso oder Super-Picasso sie sich je hätte vorstellen können - Picasso war nebenbeibemerkt drei Jahre jünger als sie. Ich durchwanderte alle menschlichen Konstruktionen, aber nicht die gewohnten, sondern Konstruktionen philosophischer, religiöser, spiritueller Art ... sie wurden durch gigantische Gebäude symbolisiert - riesig, so hoch, daß die Menschen nicht größer als dieser Fußschemel zu sein schienen, winzig im Vergleich zu diesen riesigen Dingen. Und während ich darin umherstreifte, kam jeder und behauptete: "Ich habe den wahren Weg." So ging ich mit ihm auf ein offenes Tor zu, das dem Blick eine unermeßlich weite Landschaft bot; aber genau in dem Augenblick, da wir das Tor erreichten, schloß es sich .... Ich fand das höchst belustigend und sagte mir: "Wirklich amüsant!" So sah man also, während jeder redete, durch ein Tor diese Unermeßlichkeit vor sich liegen, eine Fülle von Licht, großartig! Aber sobald ich mich mit der Person dem Tor näherte, schloß es sich.

Da waren viele, viele Menschen, eine ganze Menge! Ständig erschienen neue: bald Männer, bald Frauen, mal Junge, mal Alte, und aus allen möglichen Ländern - es dauerte sehr lange.

Ich erinnere mich, wie ich zu einem von ihnen sagte: "Das ist alles schön und gut, aber eine richtige Nahrung ist das nicht, es läßt einen hungrig." Nun war da einer, der kam ... ich weiß nicht, aus welchem Land: er trug ein dunkles Gewand, hatte schwarze Haare, ein rundliches Gesicht (vielleicht war er Chinese, ich weiß es nicht), er sagte zu mir: "Ah, nicht bei mir! Hier, probiere mal das!" Und er gab mir etwas zu essen, das wirklich vorzüglich war. Oh, es war köstlich! Kräftig biß ich hinein! Daraufhin schaute ich ihn an und sagte ihm: "Ah, du bist geschickt ... Zeige mir deinen Weg!" Er erklärte mir: "Ich habe keinen Weg."

Wir werden also versuchen, ebenso weise zu sein wie dieser Chinese, und werden Mutter nicht in kleine akademische Stücke zerlegen: Wir verspüren immer das Bedürfnis, eine Schachtel in die andere zu stecken, eine Schachtel in die andere! Und sie lachte, denn sie lachte immer - ausgenommen vielleicht in jenen letzten Jahren, und selbst dann noch - und sie fand uns schrecklich ernst. Immer, schon von ganz klein auf, war etwas in mir, das lachte, etwas, das alle Katastrophen, alles Leid sieht - es sieht, und kann sich das Lachen nicht verwehren, so wie man über etwas lacht, das vorgibt zu sein und doch nicht ist. Ja, sie war bereits auf der Jagd nach einer gewissen Illusion, die zerstört werden muß, um das wahre Leben zu leben - und vielleicht ist die hartnäckigste und liebste aller Illusionen unsere Liebe zum Leid und zum Drama. Wir mögen protestieren, es ist dennoch wahr.

Wir werden uns deshalb aufs "Geratewohl" in Mutters großen Wald begeben, ohne irgendeine Richtung oder auch nur den geringsten Umweg außer Acht zu lassen, da möglicherweise die Richtung überall ist und wir nicht genau wissen, was und was nicht zum weglosen Weg gehört und ob nicht das Ende am Anfang liegt wie in einem Kindermärchen.

Haben wir den mächtigen Wald einmal durchstreift, werden wir vielleicht Seen, Gebirge und Höhenlinien sich abzeichnen sehen, aber offen gestanden, das Interessante ist das Gehen.

Eine erstaunliche Großmutter

Vorerst wird sie aber noch nicht Mutter genannt, diese kleine Pariserin, die vierzig Jahre ihres Lebens in Paris verbringen wird (achtunddreißig genauer) - sie heißt einfach Mirra (mit zwei r) und lebt inmitten einer seltsamen kosmopolitischen Sippe.

Eigentlich könnten wir bei der Großmutter beginnen, denn in ihr steckt etwas Sprühendes und sehr Amüsiertes, das direkt an eine bestimmte Seite Mutters erinnert. Sie hieß Mira Ismalun (mit nur einem r) und war 1830 in Kairo geboren. Vermutlich ist es kein Zufall, daß Mutters Wurzeln bis in diese alte Erde Ägyptens zurückreichen - aber Mutter hat viele Wurzeln, uralte Wurzeln, vielleicht überall. Ich bin Millionen Jahre alt und warte ..., sagte sie in jenen letzten Jahren mit einem Blick, der die Welt und den gesamten Widerstand ihrer irdischen Kinder zu tragen schien. Wir erinnern uns der ergreifenden Worte von Walter Pater über die Mona Lisa, mit der Mutter eine seltsame Ähnlichkeit und ein gewisses Lächeln gemeinsam hatte: "Sie ist älter als die Felsen, die sie umgeben ... Sie ist viele Male gestorben und hat das Geheimnis des Grabes erfahren." Die Ismaluns stammen auch aus dem alten Ungarn, und Mira Ismaluns Vater, Saïd Pinto, obwohl Ägypter, streckte seine Wurzeln weit zurück nach Spanien. Verschiedenartigste Winde wehten über diese Wiege, und jene vom Ural vermischten sich mit den Geheimnissen des Tals der Könige und dem ungestümen iberischen Feuer. In der Tat wachten nicht die Männer sondern die Frauen über Mutters Wiege: ein Geschlecht mächtiger Frauen.

Wir befinden uns in der Zeit Mehmed Alis: der Suezkanal war noch nicht gegraben, die Armeen des Paschas lehnen sich gegen die Gewaltherrschaft des türkischen Reichs auf; ein feudales Ägypten, das der modernen Welt trotzt und sich noch an Bonaparte erinnert. Bonapartes Sturm hatte vielleicht etwas in der Luft zurückgelassen, denn auch Mira Ismalun schüttelte kurzerhand die Zwangsjacke ab. Dem damaligen Brauch gemäß wurde sie mit dreizehn Jahren verheiratet, klugerweise mit einem Bankier, nachdem sie ihrem Bräutigam während einer Schiffsreise auf dem Nil begegnet war. "Er schenkte mir ein sehr wertvolles Diadem und ein Körbchen Erdbeeren", erzählte sie in ihren "Memoiren", denn sie hinterließ Memoiren, so bezaubernd und drollig wie kurz, die sie im Alter von 76 Jahren ihrem Enkel, dem Gouverneur Alfassa, auf französisch diktierte. Mit zwanzig schiffte sie sich nach Italien ein, und zwar nicht ohne eine gewisse Kühnheit, wenn man sich die erniedrigende Situation der Frau im mittleren Osten vor mehr als einem Jahrhundert vergegenwärtigt. "Ich sprach nur arabisch, war ägyptisch gekleidet und reiste allein mit meinen zwei Kindern und einer Gouvernante, während mein Mann in Ägypten zurückblieb [ihr Gatte stand immer in Klammern] ... Ich war die erste Ägypterin, die es wagte, Ägypten auf diese Weise zu verlassen." Und sie vergaß nicht zu bemerken: "In meinem himmelblauen ägyptischen Kostüm, das mit Gold und echten Perlen bestickt war, wurde ich als hinreißend empfunden." Dazu trug sie einen "keck in die Stirn gezogenen kleinen Tarbusch mit Goldquaste ... aber ich kannte die Sprache nicht, deshalb nahm ich mir vor, sie schnell zu lernen." Was sie auch schnell tat, ebenso wie Französisch, denn Mira Ismalun war entschieden eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Bald machte sie die Bekanntschaft des Großherzogs, "der mir täglich Blumen sandte, wie auch der Komponist Rossini," und unbefangen fügte sie mit einer Mischung von Koketterie und Humor hinzu: "Obschon ich wohlerzogen und eher streng war, nahm ich all diese Huldigungen gern entgegen."

Ich weiß nicht, ob sie tatsächlich so streng war, jedenfalls verstand sie das Leben ausgezeichnet, liebte es ganz einfach, und war bereits mit einem universellen Geist ausgestattet, der die kleinen patriotischen Grenzen als überflüssige und lästige Erfindungen empfand. Sie steckte ihren ältesten Sohn in ein Wiener Internat, pendelte zwischen Kairo und Europa hin und her, wurde einen zweiten, dann einen dritten Sohn im Collège Chaptal in Paris los: "Ich war begeistert von Paris, und in meinem ungezwungenen Temperament und Charakter fand ich es durchaus statthaft, mit Elvire [ihrer ältesten Tochter, mit einem typisch ägyptischen Namen, wie man sieht] überall hinzugehen. Da aber meine Kleidung eher elegant und ziemlich auffällig war, erweckte ich allgemein große Bewunderung." Aber lassen wir uns nicht täuschen, Mira Ismalun war ganz und gar nicht leichtfertig, sie las Renan, Taine, Nietzsche, Darwin, sie war, wie Mutter, bemerkenswert ausgeglichen und verstand es, Gegensätze in Einklang zu bringen. "Eine meiner beständigsten Lebensregeln war, Herz und Kopf stets in gegenseitigem Gleichgewicht zu halten, um zu vermeiden, mich von den Exzessen des einen oder anderen hinreißen zu lassen ... Was meine Finanzen betrifft, achtete ich immer sehr darauf, Einnahmen und Ausgaben im Gleichgewicht zu halten." So kam ihr die glänzende Idee, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, als sie entdeckte, wie sehr die bedauernswerten ägyptischen Prinzessinnen in ihren Harems danach schmachteten, Paris kennenzulernen; so versorgte sie diese mit der letzten Mode aus dem Hause Worth, mit Schmuck aus der rue de la Paix, sowie mit Parfums und illustrierten Zeitschriften und deckte auf diese Weise sämtliche Kosten ihrer eigenen Extravaganzen. "Überall, wo ich erschien, wurde ich wie eine Königin empfangen und gefeiert, meine imponierende Erscheinung, mein tadelloses Auftreten, meine auffallende Garderobe und mein verschwenderischer Lebensstil machten mich zum Mittelpunkt allgemeiner Bewunderung." Sie brachte ihnen außerdem Porträts mit, denn die kleinen Prinzessinnen hatten großes Verlangen, ihre eigenen Köpfe schmuckbeladen in Öl gemalt zu sehen, und zwar von den besten Pariser Malern - naturgetreue Reproduktionen ihrer Photographien. Und so geschah es, daß Mira Ismalun mit der Pariser Künstlerwelt in Berührung kam, mit dem Atelier von Vienot und Édouard Morisset, dem Vater des zukünftigen Ehemanns der jungen Mirra.

Mira Ismaluns liberale Gesinnung machte nicht nur vor Landesgrenzen halt; auch mit Religionen, die sie vermutlich ebenso eng fand wie Patriotismus, belastete sie sich nicht, sondern überließ jeden seinem ihm genehmen Weg. Als sie merkte, daß ihre älteste Tochter Elvire von einem sehr überzeugten Zimmermädchen zum Katholizismus konvertiert worden war, machte sie ihr nicht nur keine Vorwürfe, sondern ging sofort daran, einen passenden Ehemann derselben Religion ausfindig zu machen, einfach weil es sie freute: "Ich war die erste in Ägypten," notierte sie, "die es ihrer Tochter erlaubte, einen Katholiken zu heiraten" (und, nebenbeibemerkt, noch dazu einen Italiener), "das wurde in unseren Kreisen sehr mißbilligt und setzte mich der Kritik aus; gewisse Familienangehörige nahmen es mir sogar eine Zeitlang übel." Und da sie die liebliche Seite einer Sache nie außer Acht ließ, fügte sie hinzu: "Die Ziviltrauung fand auf dem italienischen Konsulat statt. Es war eine ausgesprochen schöne und intime Feier, und ich trug ein herrliches perlgraues Kleid mit durchbrochener Stickerei ... Nach dieser Zeremonie gingen Elvire und ihr Gatte mit den Trauzeugen zur Kirche, während ich tat, als ob ich nichts merkte. Sehr liberal in meinen Ansichten fühlte ich mich immer am wohlsten."

Sie blieb gerade lange genug in Ägypten, um der Eröffnung des Suezkanals beizuwohnen - "Monsieur Lesseps holte mich mit einer Kavallerieeskorte ab" (wir wissen nicht, wen diese erstaunliche Großmutter nicht kannte) - und ließ ihre zweite Tochter, Mathilde, die Mutters Mutter sein wird, in Alexandria ihrer eigenen Wahl gemäß trauen. Das war im Jahr 1874. "Die Hochzeit wurde in großem Stil im Regierungspalast gefeiert; der Vizekönig war mit sämtlichen Ministern zugegen. Ich trug ein herrliches Kleid, und man fand mich schöner als meine Tochter." Schließlich zog sich diese kleine Araberin, die mit ihrem himmelblauen Wams und niedrig gezogenem Tarbusch Paris erstürmt, Vom Ursprung der Arten gelesen und das Grand Hotel völlig durcheinander gebracht hatte, nach Nizza zurück, wo sie ihre letzten Jahre zwischen dem Mittelmeer und "den ruhigen Gestaden des Genfer Sees" verbringen wird. "Nachdem ich Festlichkeiten und Theater reichlich besucht, sämtliche Großstädte und Kurorte bereist, in enger Bekanntschaft berühmter Persönlichkeiten gelebt ..., dieses großzügige Leben geführt hatte, in dem keine weitere Sorge zu tragen war, als meine Angelegenheiten zu verwalten und, wenn nicht gerade meine Launen, so doch meine berechtigten Wünsche für la belle vie zu befriedigen, war ich weise genug, mich in ein etwas bescheideneres und ruhigeres Leben zu fügen ..." Ihr Gatte begleitete sie "im allgemeinen", notierte sie lakonisch. "Er betete mich an" - was uns nicht überrascht.

Doch das Erstaunlichste an diesem ungestümen, unwiderstehlichen, allen Grenzen gegenüber ungeduldigen Leben, das dennoch dem Niltal entstammte, war ein plötzlicher Schrei, der sich ihr am Ende dieser ganzen abwechslungsreichen Reise entrang, als schienen ihr alle Schranken inakzeptabel, einschließlich der des Todes: "Mit sechsundsiebzig Jahren liebe ich offengestanden das hohe Alter kaum, ich finde das Leben noch schön und rufe mit Goethe aus: 'Über die Gräber, vorwärts!'"

Hier lag bereits ein Samenkorn.

Mirra bei den Materialisten

Bei Mutter fließt ein anderer Rhythmus: tief, weit, still - aber furchtlos. Es bedurfte wahrhaftig der Unerschrockenheit, um sich dorthin zu wagen, wo sie vordrang.

Eine Statue der Leidenschaft und unbesiegbaren Kraft, Ein Absolutes an gebieterischem und sanftem Willen, Eine Ruhe und Gewalt der Götter, Unzähmbar und unveränderlich.2

Sie wurde am 21. Februar 1878 in Paris geboren. Die Zeit der Lichtexplosion bei den Impressionisten. Monet, Degas, Renoir, sie wird sie alle kennenlernen: Ich war das Nesthäkchen. César Franck komponierte gerade "Les Béatitudes", Rodin vollendete "Das eherne Zeitalter". Auch Anatole France mit seiner sanften Ironie wird sie begegnen. Jules Verne hatte bereits seine Reise um die Welt in achtzig Tagen vollendet. Sri Aurobindo, zehntausend Kilometer entfernt, war sechs Jahre alt. Ein Jahr später, 1879, wird er sich nach England einschiffen und dort vierzehn Jahre seines Lebens verbringen.

Sie wohnte am Boulevard Haussmann Nr. 62, in einem heute nicht mehr existierenden Gebäude neben dem alten Kaufhaus Le Printemps. Hier sollte sie bis zum achten Lebensjahr verweilen. Es war kaum die richtige Umgebung für Mutter; in der Tat wird es lange Zeit keinen passenden Rahmen für sie geben, falls sie überhaupt je einen hatte. Mathilde, ihre Mutter, war in Alexandria geboren, wo sie vor nunmehr vier Jahren im Alter von siebzehn einen jungen, nicht sehr vermögenden, türkischen Bankier geheiratet hatte - mit großem Pomp, wie wir sahen -, Maurice Alfassa, geboren 1843 in Adrianopel. Das starke und herrschende Element der Familie aber war Mathilde, sehr verschieden vom heiteren Temperament der Großmutter: eine Eisenstange, sagte Mutter schlicht.

Der Schein trügt. Wir neigen dazu, die eine für wild bewegt, die andere für unbeugsam und autoritär zu halten wie entgegengesetzte Pole, aber es ist ein und derselbe Strom, der durch beide fließt und sich in unterschiedlichen Farbtönen entfaltet - wichtig ist nur, daß der Strom fließt. Und er floß! In Indien nennt man ihn Shakti, die schöpferische Energie. Mathilde war wie Mira Ismalun eine erstklassige Shakti, aber ganz auf den menschlichen Fortschritt und Willen zur Perfektion ausgerichtet: "Meine Kinder sollen die Besten der Welt sein!" Das war kein Ehrgeiz, ich weiß nicht, was es war, erzählte Mutter. Und einen Willen hatte sie! Meine Mutter besaß einen ungeheuren Willen, wie eine Eisenstange! Hatte sie etwas entschieden, so war es endgültig; selbst wenn jemand im Sterben läge, hätte sie nicht nachgegeben. So hatte sie entschieden: "Meine Kinder sollen die Besten der Welt sein!" ... Und das genügte. In dieser Art Halbschatten, in dem die menschlichen Wesen sich bewegen, entzündete dieser Wille zur Vollkommenheit einen kleinen Funken wie einen aufleuchtenden Diamanten, und das genügte, um Mutters Gegenwart anzuziehen - denn Wesen bewegen sich gemäß anderen Gesetzen, als uns scheinen mag, und während wir uns äußerlich wie Marionetten regen, sehen dahinter andere Augen und bewegen sich unfehlbar wie das Glühwürmchen, angezogen von einem gleichen Licht. Aber Mathilde hatte nichts mit Glühwürmchen zu tun, auch Mutter nicht.

Von Anfang an war Mathilde der Pomp des ägyptischen Hofes ebenso unerträglich gewesen wie der soziale Zwang, dem die Frauen damals unterlagen, aber anstatt zu lächeln und nach der Art Mira Ismaluns wie eine Königin darüber hinwegzuschreiten und Nutzen daraus zu ziehen, überwarf sie sich mit allen. Eines schönen Tages weigerte sich die junge Mathilde zum großen Skandal der feinen Leute, dem Khedive ihre Reverenz zu erweisen, zweifellos weil sie das als unvereinbar mit ihrer Menschenwürde betrachtete. So mußte sie ihre Koffer packen. Sie war zwanzig und hatte ein Baby, Matteo (ein italienischer Name in Alexandria ... man wundert sich), Mutters älterer Bruder und intimer Freund. Achtzehn Monate trennten die beiden: er wurde am 13. Juli 1876 in Alexandria geboren. So kam Mathilde 1877 in Paris an. Zweifellos war es vorherbestimmt, daß Mutter auf französischem Boden zur Welt kommen sollte.

Mathilde war auch Kommunistin, zu einer Zeit, als junge, wohlerzogene Mädchen ihre Aussteuer stickten. Und sie blieb Kommunistin, weil sie es sich nun mal in den Kopf gesetzt hatte, bis sie im Alter von achtundachtzig Jahren aus dem Leben schied. Allerdings gibt es da auch eine gegenteilige Geschichte: Mathilde besaß einen Hühnerstall und verkaufte die Eier ihrer Hühner, um das Haushaltsgeld aufzubessern, bis sich eines Tages ein unverschämter Finanzbeamter in den Kopf setzte - auch er -, ihr Steuern abzuverlangen, und zwar nicht nur für die vorhandenen Eier, sondern für sämtliche Eier, die sie je verkauft hatte ... Das konnte sie nie verstehen. "Aber schließlich sind das doch meine Hühner!" Wir wissen nicht, was wohl Karl Marx dazu gesagt hätte, noch ob Mathildes Kommunismus sehr orthodox war - sie verabscheute jegliche Orthodoxie, oder liebte jedenfalls nur die erste Silbe des Wortes: gerade, geradeausgehen und keine Fisimatenten.

Es ging nicht gerade sanft zu am Boulevard Haussmann. Nicht, daß es Mathilde an Bildung gefehlt hätte, im Gegenteil, die junge Alexandrinerin war sehr kultiviert, wenigstens ebenso wie die Goethe lesende Großmutter; Mathilde war sogar weitaus intellektueller, doch sie faßte das Leben wie ein mathematisches Theorem auf, das ununterbrochen und rigoros unter Beweis zu stellen war: Das Leben mußte exakt sein und unermüdlich eine ideale Asymptote anstreben, die nicht Gott war - denn selbstverständlich war sie eine überzeugte Atheistin - sondern eher der Triumph der Vollkommenheit des Homo sapiens. Mirra wird sich ein Beispiel daran nehmen und darüber hinausgehen. Der Mathematiker im Hause war allerdings nicht Mathilde, sondern der Vater, Maurice Alfassa. Mein Vater war ein erstklassiger Mathematiker, erzählte Mutter, vermutlich war er als Bankier weniger geschickt (der Arme - bestimmt war das kein Vergnügen für ihn), denn die Finanzen des Hauses standen nicht immer glänzend. Die Alfassas waren aber nicht arm, weit davon entfernt, außerdem hätte man sich an die reiche Großmutter wenden können (die übrigens mit vier Söhnen gesegnet - "der eine verschwenderischer als der andere" - nicht mehr ganz so reich war), aber das hätte Mathildes spartanischer Würde widersprochen. Man marschierte also im Takt am Boulevard Haussmann; auch Matteo, der Sohn, wird das Polytechnikum* absolvieren. Mutter erhält somit eine solide und rigorose Grundlage, in der Phantasien als Zeitverschwendung verbannt, Religionen als "Schwäche und Aberglaube" verpönt waren und Phänomene des Unsichtbaren kategorisch abgelehnt wurden: "All das sind Geisteskrankheiten", entschied Mathilde. Und keine Widerworte! Das war allerdings ein versteckter Segen, denn ohne dieses unerbittlich materialistische Rüstzeug hätte die kleine Mirra weniger gut der Lawine seltsamer Erlebnisse standgehalten, die seit ihrer frühesten Kindheit auf sie einstürmte. So aber riß sie nur ihre großen Augen weit auf, betrachtete all das behutsam, so wie man ein Insekt unter die Lupe nimmt - und ließ kein Wort davon zu irgend jemandem verlauten, am wenigsten zu ihrer Mutter, die sie sofort zum nächsten Arzt gebracht hätte.

Ein verschlossenes Milieu, sagte Mutter. Eine asketische und stoische Mutter. Es ist erstaunlich, wie rein relativ die menschlichen Vorstellungen und Phantasien sind, denn diese gleiche Energie oder Shakti, die Mathilde animierte, hätte an anderen Orten oder unter anderen Himmeln aus ihr ebensogut einen Yogin in einer Höhle machen können, einen Revolutionär à la Danton, einen besessenen Physiker in seinem Labor oder sogar eine Dame von Welt, die alle Großstädte ideologisch im Sturm erobert, wie Mira Ismalun, nur mit einem anderen Tarbusch. Aber sie hatte diese Grenzen gewählt (wenn sie nicht für sie gewählt wurden). Das beweist, was auch immer wir darüber denken oder sagen mögen, sei es zur Rechten oder zur Linken, daß solche Grenzen lediglich bequeme und zeitweilige kleine Dämme sind in einem gewaltigen Strom, der fließt und sich um keine unserer Erklärungen schert.

Dennoch fehlte in diesem strengen Hause nicht gänzlich ein Funken Phantasie, und erstaunlicherweise versteckte er sich ausgerechnet beim armen Bankier. Wir hegen sogar den leisen Verdacht, daß er insgeheim recht charmant war, dieser große, mitten in Mathildes Gepäck irgendwie vernachlässigte Türke. Er besaß außerdem eine stattliche Reihe verborgener Talente, hatte etwas Russisches oder Kaukasisches an sich, was ihm den Namen "Barin" eintrug. Stark wie ein Türke, der er war, konnte er ein Pferd durch den bloßen Druck seiner Knie zu Boden zwingen, denn er war ein vortrefflicher Reiter (ein Luxus, der von Mathilde untersagt wurde). Er hatte seine Studien in Österreich absolviert, wo er die besten Reitschulen kennenlernte. Er sprach fließend Deutsch, Englisch, Italienisch und Türkisch (bald wurde er als Franzose naturalisiert - durch eine Verordnung vom 28. August 1890, unterschrieben von Präsident Carnot und Staatsanwalt Fallières!). Eines steht fest, man war solide am Boulevard Haussmann: Ein außergewöhnliches physisches Gleichgewicht, sagte Mutter. Und auch davon wird sie ihren Teil erben. Nicht nur kannte er all diese Sprachen, auch was Arithmetik betraf, habe ich nie so einen Kopf gesehen ... Und er liebte Vögel! In unserer Wohnung hatte er sein eigenes Zimmer (weil meine Mutter ihn nicht sonderlich ausstehen konnte), und dort hatte er einen riesigen Käfig - voller Kanarienvögel! Tagsüber schloß er die Fenster ... und ließ alle Vögel frei herumfliegen.

Das war vermutlich der einzige Ausdruck von Poesie in diesem Haus.

Und dann liebte er noch den Zirkus.

Dies waren die soliden Wurzeln der kleinen Mirra. Es wäre allerdings ein Irrtum, hierin die "Erklärung" für Mutters Wesen zu suchen. Sie ist ziemlich unerklärlich, diese Mutter. Aber dort, wo wir nicht mehr erklären können, beginnt die Poesie und vielleicht die wahre Welt - wir erinnern uns an Sri Aurobindo:

Das Universum ist eine endlose Maskerade: Nichts hier ist gänzlich das, als was es uns erscheint, Denn es ist das Traumgesicht einer Wahrheit, Die ohne den Traum nicht völlig wahr wäre.3

Es sei denn, wir gestehen zu, daß Mirra noch andere Wurzeln hatte, viele Wurzeln, die nicht in Europa allein zu suchen sind, ginge man auch vom Ural über das Tal der Könige bis zur spanischen Halbinsel, und ebensowenig in den Vererbungsgesetzen des Herrn Mendel - der übrigens soeben seine Arbeiten in Brünn abgeschlossen hatte -, und selbst wenn wir darauf bestünden, sie, und damit uns alle, in irgendeinen kryptogenetischen Kode einzusperren, der unsere letzte Krypta zu sein scheint, so war gerade sie dazu geboren, diesen Kode zu brechen, dieses äußerste Joch abzuschütteln - wie Mira Ismalun die Fesseln der Konvention und Mathilde den Hof des Khedivs -, um uns aus diesem atavistischen Sumpfloch an die frische Luft zu ziehen, auf eine neue Stufe des Menschen oder in eine neue Art: Wir wollen nicht den herrschenden Gesetzen der Natur gehorchen, selbst wenn hinter diesen Gesetzen Milliarden Jahre der Gewohnheit stehen!


2. Einheit

Ein Kind ist die ursprüngliche Klarheit dessen, was unsere Kultur uns später verschleiert. Man muß viel lernen, um wieder verlernen zu können und zu sich selbst zurückzufinden. Und manchmal findet man sich nie; es bleibt nur die Kultur wie eine Maske über einer großen Leere. Leider haben wir nicht immer das Glück, einem Kind zu begegnen, das uns seine Erfahrung mitteilen kann - und alle Kinder machen die Erfahrung in ungleicher Weise, doch es ist stets dieselbe, im Ausmaß eines Stecknadelkopfes oder eines Ozeans, je nachdem ... je nach was? Könnten wir diese Ungleichheit besser erklären, kämen wir der Wahrheit über die Geburten vielleicht näher als alle Mendelschen Gesetze, zumindest, was die Spezies Mensch betrifft - aber es gibt auch Rosen und Rosen. Offengestanden wissen wir nicht, ob es auch nur zwei gleiche Dinge im Universum gibt, selbst zwei gleiche kleine Blätter am selben Baum, und wir fragen uns, wie man Gesetze aufstellen kann, es sei denn die Gesetze unseres Verstandes: Wir alle sind blind für eine bestimmte Farbe, die wir nicht kennen. Wenn wir nur die Farbe und das Gesetz finden könnten, dann fänden wir vielleicht das, was alle Formen prägt, den Stecknadelkopf oder den Ozean oder das zarte Blättchen im Wind und das, was alles in seiner unzähligen Einheit verbindet. Einstein fehlte nur ein winziges Faktum, um seine Theorie des einheitlichen Feldes zu vollenden. Vielleicht wird ein Kind es finden.

Folglich geht es nicht um außergewöhnliche Visionen im fragwürdigen Stil der Hellseher, nein, obgleich der kleinen Mirra derartige Visionen nicht fremd waren - je außergewöhnlicher etwas ist, desto einfacher ist es, und schließlich ist es so einfach, daß man gar nicht mehr sieht, wie außergewöhnlich es ist.

Die Shakti

Wir müssen festhalten, daß die kleine Mirra in diesem strengen Haus ziemlich grob angefaßt wurde. Wenn es dann etwas zu rauh wurde, setzte sie sich in ihren kleinen Kinderstuhl und betrachtete all das mit ihren großen, sich ständig verändernden Augen - manchmal waren sie haselnußgolden unter der großen Haarschleife, die ihr bereits langes, kastanienbraunes oder vielleicht dunkelblondes Haar zusammenhielt (später wurde es seltsam bernsteinfarben) mit tief in die Stirn geschnittenen Ponys wie die Haartracht der Königin Tiy. Sie schaute. Mutter hat immer viel beobachtet. Sie schaute weder nach rechts noch nach links, nicht einmal nach innen, denn innen war wieder überall außen, auch weinte sie nicht, denn das gehörte nicht zum Programm - schließlich war sie nicht umsonst Mathildes Tochter. Verständnislos betrachtete sie diese rauhe, absonderliche und unklare Welt, die von den hohen Gardinen nach Mottenpulver roch und unter den ersten, von vier Pferden gezogenen Trambahnen erzitterte. Und aus der Heftigkeit ihres Unverständnisses entstand geradezu ein Verständnis des Nicht-Verstehens, eine Art dichte Masse, die "etwas" enthielt - wie die "Erklärung" ohne Worte (sie war fünf Jahre alt) -, das vielleicht Mirra selbst war: eine stumme Verdichtung. Das lebte, das antwortete, das war. Und das vertrieb all die Gespenster. "Das": das Bewußtsein. Ich empfand es wie ein Licht und eine Kraft, ich fühlte es hier über dem Kopf ... Ein sehr angenehmes Gefühl: ich setzte mich in einen kleinen, eigens für mich angefertigten Lehnstuhl, ganz allein in meinem Zimmer, und ... (ich wußte nicht, was es war, nicht im geringsten, in meinem Kopf war alles leer) eine sehr angenehme Empfindung von etwas äußerst Starkem und sehr Leuchtendem oberhalb des Kopfes: Bewußtsein. Es gab mir den Eindruck: das muß ich leben, das muß ich sein (natürlich ohne so viele Worte), und das zog ich herab, weil es wirklich der Sinn meines Lebens war ... Die übrige Zeit verbrachte ich in einem Zustand sprachloser Verwunderung. Ununterbrochen trafen mich Schläge. Alles traf mich wie Dolchstöße - wie Faust- oder Keulenschläge -, und ich fragte mich: "Wie? Wie ist das möglich?" All diese Niederträchtigkeiten, Lügen, Heucheleien ... Und ich sah es in meinen Eltern, in den Ereignissen, bei Freunden, in allem - bestürzend. Dies äußerte sich nicht intellektuell, sondern kam in dieser Bestürzung zum Ausdruck. Bis zu meinem zwanzigsten oder einundzwanzigsten Lebensjahr, als ich dann dem Wissen begegnete und jemanden traf, der mir die Dinge erklärte, lebte ich ständig in dieser Bestürzung: "Was, das ist das Leben? Was, das sind die Menschen? Was ...?" Und ich war wie gemartert von Schlägen ... Doch ich hütete mich, irgend etwas von meinem Kummer meinem Vater oder meiner Mutter gegenüber zu erwähnen, denn meinem Vater war es völlig gleichgültig und meine Mutter schimpfte mich aus (das war immer das erste, was sie tat) - ich ging in mein Zimmer, setzte mich in meinen kleinen Lehnstuhl, und dort konzentrierte ich mich und versuchte zu verstehen - auf meine Art.

Und die Erfahrung kam automatisch: Es genügte, daß ich mich für einen Augenblick hinsetzte, um das zu fühlen: diese Kraft, die kam.

Dies ist Mutters erste Erfahrung und der Schlüssel zu allem.

Ja, eine Kraft wie ein Bewußtsein, denn "das" verstand, es war das Verständnis selbst, rein, unverhüllt, und dennoch war es eine Kraft, weil es zuerst von den Sinnen wahrgenommen wurde - ein Kind tastet, fühlt -, wie eine Dichte, die sie herabzog und die sie mit Wohlbefinden erfüllte. Wenn das herabkommt, hat man tatsächlich das Gefühl, mit Frische und Licht erfüllt zu sein, wie eine Pflanze, die atmet. Es ist sogar, als atmete man zum ersten Mal. Sri Aurobindo nennt sie "Bewußtseinskraft". Es ist die Shakti, der Antrieb der Welten. Doch allzubald verstehen und fühlen wir sie nicht mehr, weil wir sie in Worte, Gedanken, Farben, religiöse oder politische Philosophien oder in Musik kleiden und dann triumphierend behaupten: "Es ist mein Gedanke, meine Musik, mein Evangelium" - mehr oder weniger lautstark, je nach der Intensität des durchfließenden Stromes, aber es ist der Strom, der hier fließt und überall fließt: im Atom, in den Pflanzen oder Galaxien. Wenn wir das hier berühren, berühren wir das auch dort, Tausende von Kilometern entfernt oder in den fremdesten Menschen, den unzugänglichsten Dingen - und nichts ist mehr fremd, nichts mehr unzugänglich, fern oder "außen", weil alles in und durch das fließt: es ist das Bindeglied, die Verbindungsbrücke von allem, das "unmittelbar-Gegenwärtige", die eigentliche Substanz der Welt. Bewußtseinskraft - Shakti. Die Grundlage der Einheit der Welt, genau jene, die wir vergeblich durch Gleichungen, Brüderlichkeit oder Maschinen auszudrücken (oder wiederherzustellen) versuchen - alle unsere Teleskope, Periskope, Fernsprecher und Fernseher sind lediglich unsere unbeholfenen Mittel, jenes "Ferne" wieder zu erfassen, das so nahe liegt, direkt unter unseren Fingern, vor unseren Augen, und in unseren Fingern, in unseren Augen - egal wo, denn es läßt sich unmittelbar erfassen, ohne Augen und ohne Finger, wie ein kleiner Atemzug, welcher der Atem von allem, der Schlüssel zu allem, das Verständnis von allem ist. Und solange wir diese ursprüngliche Substanz der Welt nicht wiedergefunden haben, werden wir vergeblich versuchen, das nahezubringen, was wir künstlich von uns entfernt, abgeschnitten, aus uns hinausprojiziert haben, und vergeblich versuchen, Brüder zu einen, die sich nur dort wiederfinden können, Grenzen zu durchbrechen (oder gewaltsam zu überrollen, was auf das gleiche hinauskommt), die nur dort schmelzen können; und wir mögen noch so oft zum Mond und zu allen Monden fliegen, ohne jemals die Leere unserer Herzen und unseres Geistes zu erfüllen, die sich nur dort erfüllen kann, denn dort liegt die Fülle der Welt, das Leben des Lebens, der Atem, der unsere eitlen Worte, unsere Musik und alle unsere Monde trägt, der die Gedanken hervorbringt, die Musik hervorbringt und alles hervorbringt. Wir sind die überheblichen Werkzeuge einer uns unbekannten Kraft, die uns aber sehr gut kennt und uns vielleicht etwas mehr Lächeln wünschte, ließen wir sie nur in ihrer Arbeit gewähren, anstatt ständig mit "unseren" albernen Ideen, "unseren" albernen Philosophien, "unseren" albernen Religionen und all unseren Albernheiten einzugreifen, die, wie wir langsam merken, nichts retten, nichts wissen und nichts können.

Alle unsere Yoga-Übungen, Meditationen und Konzentrationen sind letztlich nur Mittel, um diese unbedeutende äußerliche Arroganz zum Schweigen zu bringen, diesen Gedankenapparat, der alles verschleiert, alles versperrt, alles trennt - wenn er still ist, ist alles da. Ein Kind weiß das sehr wohl, wie Mirra, aber mit der Fähigkeit, sich mitzuteilen, verliert es bereits den Kontakt, und alles muß wieder aufgebaut oder vielmehr aufgelöst werden. Oh, wir bilden uns ein, wir hätten so viel zu vollbringen auf dieser Welt, während wir in Wirklichkeit alles erst auflösen müssen, bevor wir das allererste Wort der Erkenntnis, der Organisation und der Kraft erreichen! Aber auflösen tut weh, das geht bis hinab in die Körperzellen. Dort muß etwas sehr Radikales aufgelöst werden, bevor wir den großen Strom in seiner unsterblichen und grenzenlosen Reinheit aufnehmen können:

Allmächtige Kräfte liegen verschlossen in den Zellen der Natur 1

Darauf beruht Mutters ganzes Leben, ihre gesamte Arbeit während fünfundneunzig Jahren - neunzig genauer gesagt, sie hat ja mit fünf Jahren begonnen: Ich dachte an nichts anderes, wollte nichts anderes, fand kein anderes Interesse im Leben und vergaß keine Minute lang, daß es das war, was ich wollte. Es gab keine Perioden des Erinnerns und andere des Vergessens, es war andauernd, ununterbrochen, Tag und Nacht ... und ich bin schon über achtzig, erklärte sie uns damals. Wieder und wieder ermahnte sie später die Kinder im Ashram: Ihr müßt aus eurem kleinen Panzer herauskommen, in dem ihr so fest eingeschlossen seid und gegen alles anstoßt - wißt ihr, wie die Nachtfalter gegen das Licht stoßen? ... Das Bewußtsein eines jeden gleicht einem Nachtfalter, es stößt sich hier, stößt sich dort, weil die Dinge ihm fremd sind. Wenn ihr aber, anstatt gegen die Dinge zu stoßen, in sie hineingeht, beginnen sie Teil eurer selbst zu werden. Dann werdet ihr weit, habt Luft zum atmen, Platz euch zu bewegen, ihr stoßt euch an nichts mehr, ihr geht in die Dinge ein, durchdringt sie, versteht sie. Und ihr lebt an vielen Orten gleichzeitig.

Mirra lebte in der Tat an vielen Orten, nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich, denn vielleicht ist das, was wir Vergangenheit oder Zukunft nennen, nicht weiter entfernt, getrennt oder außerhalb der Gegenwart als der Nachbar in seinem Zimmer, der Vater und die Mutter in ihren Grübeleien oder die Katze, die über die Mauer huscht. Wir müssen alles verlernen, was wir über die Welt wissen, um die wahre Welt und die wahre Zeit zu erlernen, in der es weder Uhren noch Särge gibt, und den Raum, in dem man überall sofort zu Hause ist. Aber dazu muß man das Transportmittel kennen, die große Shakti, und wissen, wie sie arbeitet, wie sie vorgeht. Wir müssen eine andere Seinsart erlernen. Ein Kind kann sie uns sehr gut zeigen, weil sie ihm ganz natürlich ist, bevor es von seiner guten Erziehung verdorben wird. Mit Mirra reisen wir ausgezeichnet. Ihr großer Wald birgt die verschiedensten Geheimnisse und mehr als eine Dimension. Nur müssen wir selbst die Erfahrung machen wollen und nicht nur Bücher lesen, die einen genauso staubig und sterblich lassen wie zuvor, zur falschen Stunde einer Uhr, die nichts als unsere Qualen und ungelebten Leben mißt. Wir müssen mit Mirra vorangehen, wir müssen mit Mirra sein. Und es ist erstaunlich, oder vielleicht auch nicht, daß ihr allererster überlieferter Schulaufsatz aus der Zeit vor dem Ende des letzten Jahrhunderts mit den Worten endet: Schlafe nicht in der Gegenwart ein, komm mit in die Zukunft!

Eine Zukunft, die wir sehr wohl aus der Gegenwart erwachsen lassen können.

Der Tanz der Schwingungen

Ähnlich wie Mira Ismalun war auch die kleine Mirra vor Grenzen ungeduldig, doch ihre tiefe Entrüstung galt nicht den künstlichen Grenzen aus Stacheldraht, mit denen wir unsere Mutter Erde zerstückelt haben, sie stieß sich überall an den viel realeren Bastionen, hinter denen die Menschen sich verschanzen: bei ihrer Mutter, ihrem Vater, ihren kleinen Freundinnen, in allem, was einem auf Schritt und Tritt begegnet: Man kann materiell keinen Schritt außerhalb seines Körpers tun, ohne auf schmerzliche Dinge zu stoßen, sagte sie. Manchmal berührt man eine Substanz, die angenehm, harmonisch und warm ist und in einem höheren Licht vibriert. Doch das ist selten. Die Blumen, manchmal bei den Blumen - auch da nicht immer. Aber diese materielle Welt, oh, ... überall wird man gestoßen, gekratzt, zerrissen - gestoßen durch alle möglichen Dinge, die sich nicht entfalten; wie wenig entfaltet das menschliche Leben doch ist! So zusammengeschrumpft, hart, ohne Licht, ohne Wärme, von Freude ganz zu schweigen. Sie schaute, beobachtete alles, verbrachte ihre Zeit in der Betrachtung dieses menschlichen Rätsels. Tastend erlernte sie die Funktionsweise der großen Shakti.

Sie hatten den Boulevard Haussmann verlassen, um in das Square du Roule Nr. 3 zu ziehen, wo Mirra bis zu ihrer Heirat im Alter von neunzehn Jahren wohnen sollte; es änderte nichts: alles blieb gleich, nur mit neuen Gardinen und anderen Wänden. Und jener die Wesen und Dinge durchdringende Blick intensivierte sich, zog mehr von dieser Kraft in sie und ihre Umgebung: das floß, bewegte sich - konnte gehandhabt werden. Auch sah sie, daß es bei den anderen genauso war, nur mit unterschiedlichen Intensitäten - es bewegte sich ebenfalls, ging ein und aus - alles bewegte sich in dieser Kraft oder wurde durch sie bewegt. Wie konnte es da Mauern geben, wieso Mauern? Sie beobachtete, und das war viel faszinierender als der Zirkus, zu dem ihr Vater sie mitnehmen wollte, viel faszinierender als das Geschwätz ihrer kleinen Freundinnen. Und ausgerechnet Mathilde empörte sich eines Tages: "Du bist ein gefühlloses Monster!" Aber sie fand gerade diese "Gefühle" genauso schneidend und hart wie die Mauern, nur eine andere Variante, einen in den Mauern zu verschlucken. Sie schwieg und beobachtete: "Mirra die Schweigsame" - und das fanden die Leute unerträglich, denn nichts ist ihnen unerträglicher als das, was anders ist: das gibt ihnen keine Möglichkeit, dich zu verschlingen, also kratzen und stoßen sie, um mit Gewalt zu nehmen, was ihnen entgeht, und dann zeigt sich genau das Gegenteil der lobenswerten "warmen Gefühle", deren Mangel sie dir vorwerfen: Selbst guter Wille ist aggressiv, selbst Zuneigung, Zärtlichkeit, Anhänglichkeit - all das ist so aggressiv wie nur möglich. Wie Rutenschläge. Und das sind sie. Unermüdlich betrachtete Mirra all das, um es "auf ihre Weise" zu verstehen. Dann stellte sie fest, daß das, was von den Menschen ausging - manchmal sogar von Gegenständen -, verschiedene Ebenen in ihr berührte, auf denen "etwas" die Bewegung empfing (den Gedanken, das Gefühl, die Worte anderer oder auch ohne jegliche Worte, in der "Stille" menschlicher Anwesenheit), etwas reagierte, antwortete. Hier wurde eine kleine Note berührt: es vibrierte. Und nicht nur berührte es verschiedene Ebenen in ihr, auch war das, was da vibrierte, von sehr unterschiedlicher Beschaffenheit. Mirra entdeckte die Schwingungen, die sie ebenso leidenschaftlich, ebenso gründlich studierte, wie ein Chemiker seine spezifischen Valenzen und Reaktionen mißt. Ohne es zu wissen, entdeckte sie die berühmten "Bewußtseinszentren" oder Chakras, die eine so bedeutende Rolle in der indischen Literatur spielen. Doch all das war eine einzige Bewegung, der auch diese "Kraft" angehörte, die sie manchmal über sich, manchmal in sich, in den Wesen und Dingen, hier und dort fühlte. Dieser ganze Kreislauf erfüllte sie mit Staunen und Interesse - und mittendrin diese kleinen seltsamen Mauern ... Man nahm sie mit, einer soeben verstorbenen Verwandten einen letzten Besuch abzustatten (zweifellos wollte Mathilde sie auf ihren eigenen Stoizismus drillen), ihre "erste Tote" also, für die sie sich in keiner Weise interessierte und mit der sie keine besonderen Gefühle verbanden, doch plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, ihre Kehle schnürte sich zusammen, und wie von großem Kummer ergriffen kam sie dem Weinen nahe - sie beobachtete all das gelassen, mit einem gewissen Erstaunen über diese Invasion, und auf einmal verstand ich: ach so, der Kummer der anderen ist in mich eingedrungen! Es fließt, bewegt sich, geht hinein, geht hinaus, geht vom einen zum anderen, und alles steht miteinander in Verbindung - wir sind wie ein Marktplatz, sagte sie ... Die Schwingungen bewegen sich in einem einzigen einheitlichen Feld. Lediglich die Kompliziertheit oder Obstruktion der Schwingungen erweckt den Eindruck von etwas Unabhängigem und Getrenntem. Aber in Wirklichkeit ist nichts getrennt oder unabhängig: es ist eine einzige Substanz, eine einzige Kraft, ein einziges Bewußtsein, ein einziger Wille, der sich in zahllosen Seinsarten bewegt.

Es paßte Mirra absolut nicht, wie ein öffentlicher Marktplatz zu sein und sich vom Kummer der anderen oder von den Wutausbrüchen ihres Bruders Matteo überfallen zu lassen: Ein furchtbar ernster Junge und schrecklich lerneifrig - oh, es war fürchterlich! Aber auch ein sehr starker Charakter, ein starker Wille ... Er hatte etwas Interessantes (als er sich auf das Polytechnikum vorbereitete, studierte ich mit ihm, weil es mich interessierte). Wir standen einander sehr nah (nur achtzehn Monate lagen zwischen uns). Er war sehr brutal, aber zugleich von außergewöhnlicher Charakterstärke. Nachdem er mich dreimal fast umgebracht hätte und meine Mutter ihn nach dem dritten Mal warnte: "Beim nächsten Mal wirst du sie umbringen", beschloß er, daß es nicht wieder vorkommen sollte - und es geschah nie wieder. Entschieden eine energische Familie! Bei Matteos Wutanfällen spürte sie deutlich, wie etwas in einem Zentrum im Unterleib zu vibrieren begann: diese Zentren waren wie schwingende Knotenpunkte, die entsprechend der jeweiligen Ebene, mehr oder weniger verkrampft, bebend empfingen und aussandten; manchmal war es auch sehr sanft, eine leichte Wellenbewegung (aber das lag sehr viel höher im System). Sie beobachtete all das sehr genau - und anstatt sich von der Schwingung anstecken zu lassen und ihrerseits in Wut zu geraten, sah sie, daß es genügte, einfach den Strom zu unterbrechen. Dazu brauchte man nicht wie Matteo seinen Willen anzustrengen oder Selbstbeherrschung auszuüben: man unterbricht den Strom, und es ist vorbei! Nichts kommt mehr durch. Sie entdeckte die außerordentliche Ansteckungskraft der Schwingungen: Alle Schwingungen sind ansteckend, und es gibt deren eine Unmenge! Ein Tanz von Schwingungen. Aber sie war keineswegs darauf erpicht, die sympathische (oder antipathische) Krankheit des Nachbarn aufzuschnappen; Mirra wollte Meister im eigenen Haus sein, kein treibender Korken auf dem Meer. Wissenschaftlich genau alle Schwingungswerte kennen - wenn man in diesen Studien wissenschaftlich wird, dann ist man nicht mehr wie ein Korken: eine Welle wirft dich hierhin, die nächste dorthin. Eine Naturbewegung zieht vorbei ... (oh, die Natur! Wie sie sich über die Menschen lustig macht! Mein Gott, wenn man das sieht! Wirklich Grund, sich zu empören! Ich verstehe nicht, warum sie sich nicht auflehnen!), die Natur läßt eine Welle der Begierde durchziehen, und schon rennen sie alle wie die Hammel ihren Begierden nach; die Natur läßt eine Woge der Gewalt vorbeiziehen, und erneut leben sie wie ein Rudel von Schafen ihre Brutalität aus, und so geht es weiter, bei allem. Nehmen wir den Zorn: die Natur schnalzt mit den Fingern, und alle werden wütend. Sie braucht nur eine Geste zu machen - eine Geste ihrer Laune -, und die Menschenmassen folgen.

Mirra begnügte sich nicht damit, den Strom zu unterbrechen. Sie entdeckte, daß man ihn lenken kann. Anstatt ihn im Kopf aufzustauen und eine mentale Gärung zu verursachen, wie sie es nannte, sah sie, daß man ihn auf andere Ebenen lenken kann, auf jede beliebige Ebene, ihn sogar nach außen auf die anderen und die Umstände projizieren kann, und daß dies eine Wirkung hat. Und wenn man ihn auf die Herzebene und noch tiefer nach innen zog, begann es sehr sanft und weit zu werden und einen Rhythmus anzunehmen wie ausgebreitete Schwingen. Das war der "reine" Strom, die reine Shakti ohne große Geschichten. Ihr mißfielen all die menschlichen Geschichten, die sich dem Strom beimischten; zunächst einmal verwirrt das alles, und man versteht überhaupt nichts mehr: wie ein Kieselstein das klare Spiegelbild des Tümpels trübt. Man mußte sehr ruhig und klar sein, damit es unverzerrt hindurchfließen konnte. Sie suchte den reinen Strom, aus dem einfachen Grund, daß es so viel angenehmer war: man tanzte, war federleicht. Sie erkannte den Kreislauf der Shakti sehr deutlich und sah, wie er sich unterwegs den Ebenen entsprechend in Gefühle, Wünsche und sogar Gedanken kleidete - er wurde schwerfällig, schlammig und nahm alle möglichen Farben an, doch es war nicht mehr die Farbe, und die ganze Welt schien sich zu entfärben. Er wurde grau und schwer - opak. Er begann, viel zu denken. Er wurde hart und kompliziert. Und dann pfft! blies sie darauf, machte sich spiegelklar, und schon war alles wieder hell, offensichtlich, einfach. Die außerordentliche Einfachheit in allem. In dieser Klarheit ordnete sich alles wie durch ein Wunder. War es nötig, etwas zu wissen, so sagte der Strom es einem sehr deutlich, er ließ kleine Tropfen von Worten herabfließen: Ein kleiner Regen weißen Lichts, und nach kurzer Zeit war es, als ließe dieser kleine Regen Worte sprießen, als besprühe er die Worte - und die Worte kamen. Und daraus entstand alsbald eine Art Tanz, eine Quadrille, und wenn die Quadrille gut geformt ist, wird der Satz deutlich. Das ist wirklich lustig. Es ist so lustig und verspielt wie kleine Irrlichter, die hier und dort auftauchen, einen Tanz vollführen, sich gruppieren - wirklich amüsant. Auch wenn man etwas zu tun hat, bringt es einen durchaus dazu, ohne daß man darüber nachzudenken braucht: Es zieht hier, drückt dort, weist Leute ab, die man nicht zu sehen braucht, oder zieht wiederum andere an - es führt sogar Umstände herbei. Alles ordnet sich auf eine andere Weise, einem anderen Modus oder Rhythmus entsprechend, fast wie ein Wunder. Und wir wissen nicht, warum wir "fast" sagen: es ist ein Wunder. Aber es ist ein so natürliches Wunder, daß man nicht darüber redet, es nicht einmal wahrnimmt (außer Mirra vielleicht, die immer alles mit ihren großen haselnußfarbenen Augen beobachtete - manchmal waren sie auch smaragdgrün oder schwarz oder himmelblau; seltsame Augen, die sich ständig veränderten ... vielleicht je nach dem Lichtregen und der Ebene, auf der sie gerade schaute). Unkomplizierte Wunder. Im Grunde genommen bringt nur der Verstand die Komplikationen und braucht "Wunder", weil er das schlichte Wunder, in dem er ständig lebt, völlig verbarrikadiert hat. Und er erfindet Maschinen als Ersatz für die Luft, die er atmet. Besonders gut atmet er ja auch nicht, er erstickt sogar, aber das Ersticken scheint ihm das Gefühl des Lebendigseins zu geben. Seltsame Welt. So viel war Mirra klar.

Mirras scharfe Beobachtung beschränkte sich nicht nur auf sich selbst und die anderen, auch nicht auf diese Art fühlende Sicht der Schwingungen, wie sie es später nennen wird (denn es ist fast ein Berühren - es ist eine Berührung - eine Sicht, die nicht in den Augen stattfindet, sondern überall im Körper, als blinzelten in den Zellen Tausende von kleinen Augen; tatsächlich vermuten wir, daß unsere runden Augen außen einfach eine entwicklungsgeschichtliche Konvention sind, daß man in Wirklichkeit aber überall sehen kann, auf allen vielfarbigen Ebenen, wie Mutters weiter, sich ständig verändernder Blick; nur aus Faulheit haben wir uns hier festgelegt, weil wir die Gewohnheit haben, alles zu fixieren und dann feierlich zu erklären: "Es ist das Gesetz!" - ja, das Gesetz unserer eigenen Trägheit). Ihre Beobachtung umfaßte alles, und kein einziger Gegenstand war leblos für sie. Sie wanderte durch die Tuileries, den Bois de Boulogne, den Jardin des Plantes, artig, still, ihre kleine Hand an die Faust des großen Türken geklammert, und sah diesen gleichen Strom in allem fließen und eine Art Brücke zwischen ihr und den Dingen bilden. Weilte ihr Blick lange genug auf einer Blume, einem Baum oder dem großen Python im Jardin des Plantes - schweigend, denn der geringste Gedanke brachte alles durcheinander -, so spürte sie in ihrem Innersten eine mehr oder weniger prompte Antwort, einen Kontakt, einen Austausch, etwas, das in ihr auf der einen oder anderen Ebene vibrierte, wie eine Sprache ohne Worte vielleicht, vor allem aber eine Art Duft, der seinen eigenen Sinn übertrug, als sei auch der Duft eine Sprache - eigentlich ist alles eine Sprache: Formen, Bewegungen, Farben, alles spricht, wir sind die einzigen, die diese Sprache nicht mehr verstehen! Eine universelle Sprache, denn in Wirklichkeit gibt es nur eine Sprache: die Sprache des Bewußtseins. Im Vergessen dieser einen Sprache erheben sich alle unsere Babeltürme. Und auch hier offenbarte sich eine ganze Skala und erweckte ihr Interesse: In den Schwingungen gibt es Unterschiede, die den Unterschieden im Geschmack ähnlich sind. Das sind Schwingungen, nichts als Schwingungen, aber es bestehen unter ihnen so etwas wie Geschmacks-, Farb- oder Intensitätsunterschiede, vielleicht auch Unterschiede in der Kraft - hauptsächlich natürlich Unterschiede der Beschaffenheit ... Ich kenne nicht den wissenschaftlichen Begriff, mit dem man Schwingungen voneinander unterscheidet, aber so ist es. Es sind fast nur Empfindungen, aber Empfindungen ... manche Schwingungen haben abgerundete Winkel. Einige kommen horizontal, andere vertikal. Und dann gibt es solche, die sind ... ja, als sähe man sie durch ein stark vergrößerndes Mikroskop: einige sind abgerundet, andere spitz, einige sind dunkler, andere heller; einige stören den Körper ganz besonders, manche werden sogar als gefährlich empfunden. Eine ganze Chemie der Schwingungen sollte sie es bald nennen.

Ganz besonders interessierte sie sich für die Blumen (auch Katzen, aber in einem anderen Zusammenhang). In den Blumen spürte sie das Fließen der Kraft auf besonders reine Weise, einen besonderen Klang der Schwingung, einen sprechenden Duft könnte man es nennen, der sie in ihrem eigenen Körper mit seinem Sinn und seiner Wirkung auf die Zellen erfüllte: Diese hier hat einen reinigenden Duft, sagte sie von einer winzigen gelben Blume mit gerundeten Blütenblättern, die einem Gänseblümchen glich, mit ihr habe ich mich einmal von einer beginnenden Erkältung geheilt. So kam es, daß sie später Hunderten von Blumen einen Namen gab, einfach entsprechend der Qualität der Schwingung, die sie in ihr wachriefen: Ah, Hingabe! rief sie eines Tages auf indischem Boden aus, als sie einen kleinen Zweig Basilikum in der Hand hielt ... Es vibriert, sagt etwas aus - alles sagt etwas aus. Da gibt es die "Zärtlichkeit" und die "Aspiration", die "Neue Schöpfung", den "Ruf der Freude", die "Supramentale Sonne", "Flamme", "Licht in den Zellen", "Transformation", das "Göttliche Bewußtsein in der Materie", "Gnade", "Transparenz" und Hunderte anderer. Und die kleine gelbe Blume, die wie ein Gänseblümchen aussieht, nannte sie "Einfachheit". Das sind bewußte Schwingungen in der Natur. Duft, Farbe und Form sind einfach der spontane Ausdruck einer wahren Bewegung. Mutters großer Wald ist voller überraschender Düfte. Es gibt Düfte, die euch erleichtern, als öffneten sie Horizonte - sie machen euch leichter, fröhlicher; andere Düfte erregen euch (die gehören zu der Kategorie, die ich meiden lernte); und was die Gerüche, die einen abstoßen, betrifft, die rieche ich nur, wenn ich will: wenn ich wissen möchte, rieche ich sie; will ich es nicht, dann nehme ich ihren Geruch nicht wahr. Unglücklicherweise haben auch Menschen einen Geruch, einen "psychologischen Geruch", wie Mutter sagte. Ich rieche den psychologischen Zustand der Leute, wenn ich in ihre Nähe komme, ich rieche ihn, er hat einen Geruch - es gibt sehr spezielle Gerüche, eine ganze Skala. Menschen gehören wahrscheinlich nicht zu den Wesen, die am angenehmsten riechen, aber vielleicht nur, weil sie vergessen haben, was den Duft eines Wesens ausmacht, seine wahre Farbe, seine reine Schwingung: ein gewisser Klang im Inneren, wie unsere eigene Musik mit den Grillen und Mangusten - oder überhaupt keine Musik. Unser wahrer, natürlicher Name. Als ein Kind Mutter eines Tages fragte, wie es käme, daß eine Blume gewisse Farben des Spektrums absorbiere und alle anderen reflektiere und uns deshalb rot, gelb oder weiß erscheine, antwortete sie in ihrer überraschenden Art: Die Wissenschaftler sagen, daß es auf der Zusammensetzung ihrer Atome beruht, ich sage, es hängt von der Art ihrer Aspiration ab. Das ist die wahre Bewegung der Welt. Ihr Rhythmus der Wahrheit, ihr Atem. Das reine Strömen der großen Shakti, der Duft aller Düfte, die wahre Farbe der Dinge, der Sinn, der allem Sinn gibt.

Es ist die große Muttersprache der Welt.

Der große Körper

Der Eindruck mag entstehen, die Erfahrungen der kleinen Mirra seien einmalig und außergewöhnlich - und diese scharfsinnige Wahrnehmung der Schwingungen nahm tatsächlich mit den Jahren erstaunliche Proportionen an, wie eine Geschichte zeigt, die uns Mutter sehr viel später an einem Novembertag 1964 erzählte: Seit meiner frühesten Kindheit bin ich äußerst empfindlich gegen die Zusammensetzung der Luft: die "Lüfte" haben sozusagen jede ihren eigenen Geschmack, ihre Farbe und Beschaffenheit, und ich war imstande, sie so genau zu unterscheiden, daß ich manchmal ausrief (ich war noch Kind): "Oh, die Luft dieses Landes oder jenes Ortes ist hierher gekommen!" Dieser Sinn war sehr hoch entwickelt: wenn ich den Ort wechselte, konnte ich zum Beispiel dank der Luftveränderung plötzlich von einer Krankheit geheilt werden ... Vor einigen Tagen stellte ich nun fest: "Es liegt etwas Neues in der Luft." Und zwar etwas sehr Unangenehmes, sehr Bösartiges, und ich spürte, daß dieses "Etwas" (natürlich sprach ich mit niemandem darüber) einen ganz besonderen Geruch hatte, äußerst subtil, nicht physisch, mit der Kraft, die vitalen Schwingungen von den physischen zu trennen, also eine ausgesprochen schädliche Substanz ... Sofort begann ich daran zu arbeiten (es dauerte Stunden), die ganze Nacht verbrachte ich damit, dem entgegenzuwirken. Ich versuchte herauszufinden, welche höhere Schwingung dem entgegenwirken könnte, bis es mir endlich gelang, die Atmosphäre zu klären. Aber die Erinnerung blieb sehr deutlich. Wenige Tage später berichtete man mir, die Chinesen hätten im Norden Indiens ein Gebiet zum Testen eines gewissen Typs von Atombomben ausgesucht und die Bombe dort zur Explosion gebracht. Als ich das erfuhr, erinnerte ich mich plötzlich des "Geruchs". Diese geradezu mikroskopische Präzision ist aber nicht außergewöhnlich, sie ist in Wirklichkeit die natürlichste und die am weitesten verbreitete Erfahrung überhaupt ... außer für die menschliche Spezies.

Sie las im großen Buch des Universums, mit den Pflanzen, den Eichhörnchen und dem riesigen Python - den sie völlig ruhig betrachtete oder vielmehr erlebte, denn sie fürchtete sich vor nichts (und vielleicht wurden ihre Augen dann smaragdgrün, wie ich sie manchmal sah); sie bewegte sich gemäß einem rhythmischen Gesetz, das sie unmittelbar zu dem führte, was sie brauchte, zur gewollten Begegnung, zur notwendigen Erfahrung, auf tausend direkten Umwegen des gewaltigen Stroms, und das sie aus drei Meter Höhe sanft auf die Flintfelsen in Fontainebleau fallen ließ - kennst du die Flintfelsen in Frankreich? - ohne auch nur eine Schramme zu hinterlassen. Sie lebte mit der großen Shakti, strömte in ihrer unteilbaren Einheit. "Instinkt" mögen wir sagen, denn wir haben die Gewohnheit, alles, was wir nicht verstehen, mit Silben zu versehen (griechisch-lateinischen, wenn möglich), wie der Zauberer, um den Bann dieser kleinen lästigen Dinge zu beschwören, die sich nicht in unsere unrhythmischen Gesetze einordnen lassen. Aber haben wir erst einmal den Instinkt zur Verantwortung gezogen und uns auf den Vater des Vaters berufen, der den Sohn des Sohnes zeugte, werden wir zu guter Letzt auf die große ursprüngliche Gesamtheit stoßen, wo Wesen, die noch keine Menschen waren, also noch nicht mit einer neokortikalen Blende ausgestattet waren, sich inmitten hoher Farne und wandernder Sterne frei bewegten, unmittelbar auf ihr Ziel zu, als bildeten sie einen einzigen Körper. Bleibt nur eine Frage, und das ist die einzige relevante Frage: Warum ließ die Natur, die immer genau weiß, was sie tut, und keine einzige Abzweigung verfehlt, um ihr Königreich zu bereichern, diese kleinen Blenden sich aufs mannigfaltigste vermehren - zuerst ein Hirn, dann ein zweites Hirn, dann ein drittes, eine wahre Explosion, immer verfeinerter, immer dichter, immer mehr gewunden und ineinander verschachtelt, um unsere Reptilienwahrnehmung zu überdecken (mesenzephal, da wir das Griechisch-Lateinische nun mal bevorzugen), dann das "limbische System" oder jenes mit Lappen und Läppchen und Protuberanzen und verpackte das ganze schließlich in dieser fast krebsartigen Wucherung, die aus uns den Homo sapiens macht - abgeschnitten von allem, "sapiens" nur, was unser winziges Elend im Käfig betrifft, ausgestattet mit zahllosen Werkzeugen, um das zu ersetzen, was wir nicht mehr zu sehen, zu fühlen, zu hören oder "instinktiv" zu wissen fähig sind? Wir kennen die Welt nicht, wir kennen nur eine Übertragung der Welt in die Sprache unseres Gehirns. Nein, hier handelt es sich nicht um eine Dichotomie sondern um eine vollständige Abtrennung vom großen Erdenkörper - darin besteht unsere ganze Qual und unser ganzes Elend. Diese einzige Frage zu lösen, ist vielleicht der Grund, warum die Natur die Frage aufwarf, als errichte sie alle notwendigen Hindernisse, um eine größere Perfektion zu erreichen. Vielleicht war ihre Welt zu weit für die Büffelherden und Protozoen, die alle miteinander vermischt in ihrem trüben Weltenkörper umhertrieben und blind ihrem Gesetz folgten, gemäß einem viel älteren und radikaleren Kommunismus als dem unsrigen; vielleicht war es notwendig zu trennen, abzugrenzen, in kleine Bogenabschnitte zu zerlegen, um diese allzugroße Immensität, diese zu weite Sicht zu verschleiern, dieses vielleicht unerträgliche Licht zu dämpfen und kleine Individuen zu schaffen, die sich selbst als Einheit wahrnehmen und dank ihrer Begrenztheit sich selbst verstehen können. Wenn aber erst einmal die ganze Kurve durchlaufen ist, mit ihren tausend direkten Umwegen und Windungen, die Fragen und Probleme aufwarfen - viele Fragen und viele Probleme - und immer angestrengter denkende, getrenntere und ängstlichere Individuen hervorbrachten, wenn wir gründlich gelernt haben, daß wir nichts wissen und nichts können, daß wir aber ein Individuum sind, viel reicher dank all seinem Elend und all seinen Fragen, die schließlich ein seltsames Feuer innen entzünden, das keiner Lampe entstammt, ein Feuer, das sich tastend sogar durch die alten Mauern hindurch mitzuteilen scheint und das, ohne es zu sehen, ein größeres, ähnliches Licht berührt, ohne Worte versteht und sich sehnt - oh, sich nach mehr Raum, mehr Wahrheit, mehr Licht und Sicht sehnt! - dann ist vielleicht im langsamen Gang der Evolution der Augenblick gekommen, den großen Strom durch andere, weniger begrenzte Zentren fließen zu lassen, die Blenden zu durchbrechen und dem Kokon des Verstandes zu entschlüpfen, in dem uns Mutter Natur vor einer verfrühten Geburt in die Welt schützte, und es ist Zeit, zum großen Körper zurückzukehren, ohne aber diesen Punkt der Individualität zu verlieren, sei es auf mystische, kosmische oder egalitäre Weise, den die Natur mit so großer Sorgfalt aufgebaut hat. Denn vielleicht liegt darin die große evolutionäre Bestimmung, die kommende supra-mentale "Menschheit", die Sri Aurobindo und Mutter ankündigten, das neue Wesen, das fähig sein wird, gleichzeitig das Bewußtsein des Punktes und des Ganzen zu haben.

Und zwar physisch, in den Zellen.

Ein individuelles Wesen, des Ganzen bewußt.

Jedes individuelle Wesen des Ganzen bewußt.

Es gibt etwas, das mehr ist als das bloße Aufbrechen des illusorischen Panzers der Individualität in die Unendlichkeit, schrieb Sri Aurobindo. Zu sein und völlig zu sein, ist das Ziel der Natur in uns ... und völlig zu sein bedeutet, alles zu sein, was ist.

Dann werden alle unsere Leiden getilgt, alle unsere Qualen mit einem weiten Lächeln abgegolten sein, und unsere blinden Augen werden in tausend sichtbaren und unsichtbaren Farben entflammen, die wir verbannt hatten, jedes in seiner unverwechselbaren Farbe; wir werden das rhythmische Gesetz lernen, das alles rhythmisiert, die kleine Musik tief im Inneren, die überall ihre Musik wiedererkennt, die unverwechselbare Schwingung, die wir sind und die überall direkt zugegen ist, durch alle Zeiten, alle Räume, alle Orte, durch die Meere und Wälder der großen Shakti, auf dem Weg zu ihrem Ziel der Freude in jedem Augenblick.


3. Die Schwingen und Flüge der Shakti

Mirras strenge Familie war in der Tat ein idealer natürlicher Boden: Da gab es nichts, was nachzuahmende Erfahrungen suggeriert oder ausgelöst hätte, ausgenommen einen Hang zur Materie mit allem, was der Wind da hineinzusäen vermag, es sei denn, es war bereits vorhanden - aber heruntergefallen von wo? Ein geheimnisvoller Wind jedenfalls, er blies von weiter her als vom Ural, von Chromosomen ganz zu schweigen - und warum ausgerechnet dieses kleine Feld zwischen den Kanarienvögeln des großen Türken und Mathildes Grundsätzen? Obendrein liebte sie Mathematik sehr, diese kleine, inzwischen heranwachsende Mirra, und wie! Noch dazu verstand ich's, es hatte Sinn.

Eine andere Schwerkraft

Dennoch ereigneten sich Dinge auf diesem schroffen Boden, die wenig mathematisch waren und wohl kaum mit Newtons Gesetzen übereinstimmten - Mutter konnte Gesetze nie leiden, weder "moralische" noch newtonische oder sonst welche, was man ihr mehr als einmal zum Vorwurf machte: Aber natürlich verstößt es gegen die Regeln! rief sie eines Tages in Gegenwart einer gewissen schockierten Person aus, die ungehalten (oder vielmehr auf Schicklichkeit bedacht) war. Alles, was ich tue, verstößt gegen die Regeln, das ist meine Gewohnheit. Wozu sonst bin ich da? Die Regeln gingen auch von allein weiter. Wir haben den Vorfall bereits erwähnt, der sich im Wald von Fontainebleau ereignete, wo sie eines Tages, von ihren Freundinnen verfolgt, losrannte, ohne auf den Weg zu achten, und sich plötzlich auf der Böschung über einer frisch mit Flintsteinen beschotterten Straße befand - vom eigenen Elan getragen, fiel sie hinunter: Ploff! da flog ich durch die Luft. Ich war zehn oder höchstens elf Jahre alt, und es kam mir nicht der leiseste Gedanke, daß es etwas Besonderes sei, ein Wunder oder sonstwas - ich war einfach in die Luft geworfen und fühlte mich von etwas getragen, einfach so; etwas trug mich und setzte mich buchstäblich auf den Boden, auf die Steine. Aber interessant an diesem Vorfall, den man durch alles mögliche erklären kann, ist Mirras eigener Kommentar: Es schien mir ganz natürlich, verstehst du? Kein Kratzer, kein Stäubchen, nichts, ich war völlig unversehrt. Ich bin einfach sehr langsam gefallen. Als schließlich alle herbeistürzten, um nach mir zu sehen, sagte ich: "Aber es ist nichts! Ich habe nichts!" Ja, es ist "nichts", auch nicht der leiseste Gedanke - vor allem kein Gedanke, denn hätte sie auch nur eine Sekunde lang gedacht, wäre sie ganz schön auf die Nase gefallen oder noch schlimmer. Aber wo liegt das "Schlimme"? Man denkt nicht daran, dann kommt es auch nicht, klar! Man findet das ganz natürlich, und so wird man natürlich getragen. So einfach ist das. Die Einfachheit selbst. Vielleicht haben wir in unserem Kopf eine nichtvorhandene Schwerkraft erfunden? Oder gibt es vielleicht eine andere Art von Schwerkraft?

In ihrer erfrischenden Unbefangenheit sagte mir Mutter eines Tages: Ich kannte keine Regeln, also brauchte ich auch nicht dagegen anzukämpfen.

Ein anderer Vorfall (aber deren gibt es viele) spielte sich im großen Salon im Square du Roule ab. Ein weiträumiger Salon, dekorativ und eher langweilig, aber nicht für Mirra - obwohl sie kein Wort sagte; sie sagte nie etwas, diese eigenwillige Schweigsame, sie handelte: Nun sollt ihr sehen, wie man tanzt! ... Die kleinen Freundinnen bildeten einen Kreis, die kleinen runden Tische im Stil Ludwig des XV. (oder XVIII. - wer auch immer) wurden aus dem Weg geschoben, und ich stellte mich in die Ecke des Salons, wo ich den längsten Weg von einer Ecke zur anderen vor mir liegen hatte. Ich sagte ihnen: "Mit nur einem Schritt in der Mitte ..." (der Salon war mehr als zehn Meter lang), und ich tat es. Ich schwang mich hoch (wobei ich nicht einmal das Gefühl hatte, zu springen sondern eher zu tanzen, wie ein Spitzentanz), landete auf den Zehenspitzen, schnellte sofort wieder hoch und erreichte die andere Ecke - das bringt keiner allein fertig, nicht einmal ein Weltmeister ... Ohne Anlauf, ich stand in der Ecke und hoppla! einfach so (ich sagte im Stillen "hoppla"), frrt! landete ich auf den Zehenspitzen, schnellte wieder hoch und erreichte die andere Seite des Salons - ich wurde ganz offensichtlich getragen. Und Mirra fügte hinzu: Viele solche Dinge geschahen, und immer erschienen sie mir völlig natürlich; nie hatte ich den Eindruck, etwas Wunderbares zu tun - alles war natürlich. Wenn sie den Eindruck von etwas Wunderbarem gehabt hätte, hätte das "Wunder" überhaupt nicht stattgefunden, sie wäre mitten im Salon auf dem Bauch gelandet. Vielleicht erfanden wir das Wunderbare als eine Art unwahrscheinliche Lüge über unsere einzig wahre Maschine - oder aber die Maschine ist absolut "wunderbar" in einem unkomplizierten Universum, frei sogar von Newtons Schwerfälligkeit? Und Mutter bemerkte: Die Seele war sehr lebendig in diesem Augenblick (wahrscheinlich hatte sie keinen Namen für diese völlig natürliche Angelegenheit, und hätte sie diese benannt, hätte die Seele sich vermutlich ebenso schnell wieder verflüchtigt wie die Rehe im Wald von Fontainebleau - die in aller Ruhe nah an sie herankamen), die Seele widersetzte sich mit aller Kraft dem Eindringen der materiellen Logik der Welt - alles schien mir völlig natürlich. Ich sagte mir einfach: nein, mir kann nichts zustoßen. Und manchmal fragt man sich, ob der Unfall der Welt nicht in unseren Gedanken passiert. Änderten wir unser Denken, passierte vermutlich überhaupt nichts - oder auf eine andere, vielleicht charmante Art - wer weiß? Dieser "anderen Art" wollen wir auf die Spur kommen. Denn das wirklich Interessante sind schließlich nicht diese banalen Vorfälle, sondern der Keim, den sie enthalten. Viele Jahre später - etwa 75 Jahre später - während Mutter die Erinnerung an dieses tanzende Schweben in der Luft wachrief, erkannte sie plötzlich die seltsame Verbindung zwischen dieser ungewöhnlichen Schwerelosigkeit und einem gewissen inneren Zentrum, das sie schon damals ganz deutlich in der Nähe des Herzens fühlte: eine Art harmonische Wellenbewegung ging davon aus ... wie eine weite Bewegung von Flügeln. Das gleiche Zentrum übrigens, in das sie die Shakti hineinzuziehen pflegte, um sich Matteos Wutausbrüchen oder Mathildes Abfuhren zu entziehen: dieselbe Schwingung. Vielleicht gibt es eine Schwingungsweise, die sich Newtons und allen unseren Gesetzen entzieht.

Wir müssen das Gesetz der "weiten Flügel" erlernen.

Aber sagen wir es lieber gleich, es geht nicht so sehr darum, sich in die Lüfte zu erheben, als vielmehr aus der erstickenden Maschine herauszukommen, die hinter ihrer Maske ein realeres Leben für uns verbirgt. Wo ist die Realität - wo? Wo ist das wirkliche Leben, das wahre Leben? Wie sieht es aus? Das war genau die Frage, die schlagartig wie eine Revolution über Mirra hereinbrach, als sie zwölf Jahre alt war. Ich war noch ein Kind, als man mir sagte, daß alles aus Atomen besteht (so drückte man sich damals aus). Man sagte mir: "Siehst du diesen Tisch? Du glaubst, es sei ein Tisch, solide und aus Holz, es sind aber nur Atome in Bewegung." Ich erinnere mich, beim ersten Mal, als man mir das sagte, löste es eine Art Revolution in meinem Kopf aus, gefolgt von einem Gefühl der völligen Irrealität aller Erscheinungen. Plötzlich sagte ich: "Aber wenn es so ist, dann ist nichts wahr!"

Das war Mutters erste entscheidende Erfahrung.

Hier beginnt der erste bedeutende Abschnitt ihres Lebens und ihre Jagd auf die trügerischen Erscheinungen, die mehr als achtzig Jahre dauern sollte. Eine grundsätzliche Infragestellung von allem - aber weder in metaphysischer noch mystischer Weise, sondern völlig handfest und materiell. Was ist die materielle Realität der Erde? Die wahre Erde?

Was ist wahr? Die Atome, der Tisch oder Ali Babas fliegender Teppich ...? Oder vielleicht ist alles wahr, die Atome, der Tisch und der fliegende Teppich - und dazu noch etwas anderes, was all das in einer totalen Sicht zusammenfaßt, vielleicht unsere nächste Sicht, wenn wir das zerebrale Zerlegen satt haben. Wir müssen die "neue Art" finden. Wir müssen mit Mirra genau "schauen". Aber was ist das für eine andere Art? Das wissen wir noch nicht. Vielleicht werden wir es im Vorangehen entdecken, und wer weiß, vielleicht wird sich die ganze Welt verändern: ein Wunder weit größer als Newtons Apfel, der noch die ärgerliche Gewohnheit hatte zu fallen. Vielleicht müssen wir nur eine Gewohnheit ändern, eine alte Gewohnheit, die auf eine gewisse Großhirnrinde zurückgeht. Vorausgesetzt, wir gehen bis zu den Zellen und löschen dort ihre Erinnerung - eine böswillige und falsche Erinnerung, die uns ins Grab stolpern läßt. Und warum das Grab, da wir doch wissen, daß unsere Mutter Natur uns zu keinem unnötigen Umweg, keinem Abgrund führt, der nicht seine geheime, noch unvollendete Vollkommenheit in sich birgt?

Aber wir greifen vor.

Eine andere Geschichte

Nicht nur der Raum, auch die Zeit verhielt sich Mirra gegenüber mit Leichtigkeit. Oh, alles ist so leicht und transparent, wenn man nur selbst leicht ist. Warum die Welt zu verbessern suchen, wo diese ursprüngliche Welt hier erst einmal geklärt werden müßte! Wie Hampelmänner wenden wir uns nach außen, während doch innen die gewaltige Geschichte der Welt fließt, der einzige Faden, der alle unsere Geschichten webt. Der Faden ist da, aber wir beachten ihn nicht, so sehr sind wir in unsere schwerwiegenden Probleme vertieft, die nur die Probleme unserer falschen Vorstellung sind. Sie steckten die kleine Mirra in eine Privatschule - meine Mutter fand den Besuch des Gymnasiums unschicklich für ein junges Mädchen! - "Le Cours des Feuillantines", wenn ich mich recht erinnere, und da wurde ihr, wie uns allen, sorgfältig die verkehrte Welt beigebracht, diejenige, die auf Landkarten verzeichnet, in Atome und "goldene Zeitalter" zerlegt ist - wobei wir letztlich feststellen, daß so golden jene gar nicht waren. Und was unsere Atome betrifft, so müssen wir erst herausfinden, ob sie nicht eine weitere Maske von etwas anderem sind, das wieder etwas anderes verbirgt, das noch etwas anderes verbirgt - wo aber ist das Ding? Ja, wir verfügen über eine ganze Reihe von Wahrheiten, und solange sie bestehen, sind sie so unfehlbar wie der Papst oder die heiligen Lehrstühle, und wir gehen über zur nächsten, genauso unwiderlegbaren Wahrheit, bis auch sie vergeht; unterdessen sind wir festgefahren und verkrustet von der Nasenspitze bis ins Rückenmark, solange es nur wissenschaftlich und historisch ist - aber nicht Mirra. Sie ließ sich nicht so leicht täuschen. Als sie Geschichte studierte, enthüllte diese sich ihr durch unschuldige kleine Illustrationen: Ich las, und plötzlich war es, als ob das Buch durchsichtig wurde oder die geschriebenen Worte durchsichtig wurden, und ich sah darin andere Worte oder Bilder. Die Geschichte begann aus den Büchern zu tanzen, wurde lebendig und war nicht immer so, wie es die schwarz auf weiß gedruckten Worte erzählten. Aber daß wir jetzt nicht auf die Idee verfallen, Mirra hätte einem "Phänomen" beigewohnt (wirklich, wir wissen weder, wo die Phänomene anfangen, noch wer die Phänomene sind), sie fand das genauso natürlich, wie mit den Tieren zu verstehen, mit Blumen zu fühlen und über die Straße zu schweben: Ich wußte gar nicht, wie mir geschah, es schien mir so natürlich, daß ich dachte, es ginge jedem so. Da ich mit meinem Bruder sehr vertraut war, sagte ich ihm: "Siehst du, in den Geschichtsbüchern erzählt man dir Unsinn; sie behaupten: so ist es. Aber es ist nicht so, sondern so!" Und mehrere Male erhielt ich sehr präzise Korrekturen.

Nicht nur Bücher, Wesen und Tiere waren für sie transparent: auch die Orte fingen an, sich anders zu bewegen, als enthielten sie ihre Vergangenheit gleichzeitig mit ihrer Gegenwart - und vielleicht spielt sich alles gleichzeitig ab, auch die Zukunft: wäre unser Blick auf sie gerichtet, würde sie schneller wachsen, und wer weiß, vielleicht durchbräche sie diese kleine Gegenwartskruste, nicht dicker als eine Seite der Geschichte, und ließe ihre goldenen Strahlen hindurchschlüpfen. Eines Nachts besuchte sie mit ihren Freundinnen Versailles, und auf einmal war der Park mit Lichtern erfüllt (das heißt, die elektrische Beleuchtung war verschwunden), mit Lichtern aller Art: Fackeln, Laternen ... und einer Menge Leute, die in Gewändern im Stil Ludwigs XIV. einhergingen! Mit weit offenen Augen betrachtete ich all das, während ich mich an der Brüstung festhielt, um sicher zu sein, daß ich nicht umfiel; denn ich war "meiner selbst" nicht mehr ganz sicher. Ich betrachtete all das, und plötzlich sah ich mich dort unter den Leuten mitten im Gespräch, ich war also jemand (ich erinnere mich nicht mehr, wer), auch diese beiden Bildhauer Brüder waren da ... [Mutter versuchte vergebens, sich an ihre Namen zu erinnern], jedenfalls waren alle möglichen Leute zugegen, und ich sah mich selbst dort mitten im Gespräch, sagte Dinge.

Wer also war dieses "Ich" ...? Sogar für Mirra war das ein wenig verwirrend - aber nicht weiter erstaunlich, eher etwas, das es "zu studieren" galt, bis sich weitere Einzelheiten ergaben. Die Welt war für sie keine feststehende Größe in einem ewig linearen Ablauf, da gab es allemal Hügel und Mulden, Tiefen und überraschend aufschießende Höhen - "es ist amüsant". Übrigens rieselten sie wie Regen herab, diese bizarren "Ichs", und trugen alle möglichen Kostüme. Auch die Gegenstände waren seltsam, sie blieben nicht brav eingeschlossen in ihrem Stein oder ihrer Ornamentik, sondern fingen an, ihre Geschichte zu erzählen - nicht mit Worten zu "erzählen", denn Worte sind den Gelehrten vorbehalten (die die Welt so genau kennen, daß sie sie ganz in Wörterbücher gesteckt haben) - nein, so wie Murmeltiere erzählen oder wie Pythonschlangen oder Chrysanthemen, in der Sprache der Steine, die sich sehr gut bewegen (aus den Aussagen der Gelehrten zu schließen), aber nicht nur in ihren Atomen sondern durch ihr Bewußtsein, einem allesumfaßenden Bewußtsein, denn es gibt nur ein einziges Bewußtsein und nicht zwei. Und diese kleinen Finger, die heute über einen Amethysten oder ein altägyptisches Schmuckkästchen streichen, erinnern sich in ihren Zellen, so wie jenes sich in seinen Atomen erinnert, diesem alten Freund schon einmal begegnet zu sein (denn auch Gegenstände haben ein "Gedächtnis", ebenso Orte und Häuser). Wir haben viele alte Freunde, vielleicht ist in unseren Zellen die ganze Welt unser Freund, nur haben wir die Sprache vergessen, in der man sich begegnet. Sie besuchte den Louvre, und das Guimet Museum, dort fand ich Dinge wieder, die ich in früheren Zeiten benutzt hatte. Auf diese Weise konnte ich später den Hergang rekonstruieren. Oder es war die Mumie im Guimet Museum, die ihr plötzlich ihre Geschichte erzählte. Ich hatte meinen ersten Kontakt mit dieser Mumie im Guimet Museum als neun- oder zehnjähriges Kind ... Im Guimet Museum sind zwei Mumien: in der einen ist nichts mehr lebendig geblieben, in der anderen jedoch ist der "Geist der Form" noch sehr bewußt - so bewußt, daß man einen Kontakt mit diesem Bewußtsein aufnehmen kann. Und in ihrer Unbefangenheit fügt Mutter hinzu: Es ist klar, wenn eine Bande von Idioten kommt und dich mit großen Augen verständnislos anstarrt und außerdem Bemerkungen fallen wie: "Ah! Er sieht so oder so aus", dann ist das bestimmt kein Vergnügen.

Das stimmt. Manchmal begegnet sogar eine Mumie jemandem, der sie versteht.

Hätte man Mirra etwas von "Wiedergeburt" erzählt, hätte sie vermutlich selber verwundert die Augen aufgerissen; immerhin befinden wir uns im Zeitalter von Taine und Renan, zwischen Mathilde und ihrem Bankier. Aber in Mirras Alter findet man das völlig natürlich, es ist einfach eine andere Verhaltensweise der Natur, nicht viel absonderlicher als die Damen, die am Sonntag unter ihren Sonnenschirmen reihenweise zur Kirche des St. Philippe de Roule strömten. Auf jeden Fall war sie keineswegs geneigt, mit irgend jemandem ihrer Umgebung darüber zu sprechen, Gott bewahre! Für meine Mutter war all das absolut tabu: solche Themen wurden vermieden - sie machten einen wahnsinnig. So konnte sich ihre Erfahrung ohne jede Einmischung oder Kritik von außen spontan und voll entfalten, wie eine etwas eigenwillige Petunie inmitten all dieser vernünftigen und positivistischen Blumenbeete unseres guten Jahrhunderts. Man könnte wie Mathilde behaupten, das alles sei eine Art Geisteskrankheit oder krankhafte Einbildung - worauf Mutters Antwort lauten würde: Was soll's, habt die Einbildungen, die euch Fortschritte machen lassen! Nie hatte sie darauf bestanden, daß man an irgend etwas "glaube", nicht mehr an "Gott" als an den Teufel, sondern daß jeder einfach seine Erfahrung mache - sie wird stets nur sagen: "So ist meine Erfahrung". Das Ziel ist eins und führt jenseits der Gipfel - aber jeder kann auf seinem eigenen Weg diesen Gipfel erreichen, seinen eigenen Berg erklimmen, nicht den eines anderen.

Wohlgemerkt, sie sagte "jenseits der Gipfel", sie, die eine wissenschaftliche Ausbildung genossen hatte, und hier ist etwas, das seltsam nachklingt, wie jenes "über die Gräber, vorwärts" von Mira Ismalun. Vielleicht weil das eine nur die Kehrseite des anderen ist ... oder seine unvermeidliche Ergänzung.

Doch es lohnt sich, den Berg der kleinen Mirra näher zu betrachten, denn er mag etwas Licht auf die absonderlichen Windungen unserer Maulwurfshügel werfen, die hier und dort auftauchen, in einem 19. oder 20. Jahrhundert, auf einem Feld Frankreichs oder Patagoniens, plötzlich, ohne daß man wüßte warum, wie eine unvorhergesehene kleine Luke mit Ausblick auf ulkige Kostüme und ein ganzes Repertoire von Neigungen und Impulsen, die von anderswo, von weither aufzusteigen scheinen - wo anderswo? wie anderswo? Wir stehen draußen, wie ein Reisender ohne Gedächtnis mit tausend verlorenen Spuren und einer Geschichte, die vielleicht hier weder beginnt noch endet.

Verfolgt von einem Selbst, dessen wir uns nicht entsinnen, Getrieben von einem Geist, den wir noch werden müssen ... Tragen wir den Schmerz von Brüsten, die nicht mehr atmen 3

Aber die Erfahrung geht weiter - chaotisch und völlig unerwartet, irgendwo, bei jedem beliebigen Anlaß, sei es vor einem Porträt von Clouet im Schloß von Blois oder zwischen den Seiten eines Wörterbuchs: Es war in Blois. Wir besuchten gerade ein Museum, als ich plötzlich wie angewurzelt vor einem Gemälde stehen blieb ... warte, wer war es nur? Coué ... nein, Clouet! Die Prinzessin von Clouet ... eine der Prinzessinnen. Und ich fing an, laut zu denken: "Seht doch, seht! Schaut nur, was dieser Mensch aus mir gemacht hat! Wie er mich zurechtgemacht hat! Seht, er hat es so dargestellt, aber in Wirklichkeit war es anders, und zwar so!" Einzelheiten. Plötzlich merkte ich, daß die Leute mir zuhörten (physisch war ich nicht sehr bewußt). Also beherrschte ich mich. Aber eines stand fest, das war ich! Das war mein Porträt, das war ich! Sie hatte viele Spuren, diese Mutter, das muß man schon sagen. Glücklicherweise wurde sie nicht in China geboren, sonst hätten wir weit zu laufen. Und wer weiß? Hier jedenfalls ist nur von diesem Planeten die Rede, von unserer gegenwärtigen kleinen Luke mit Ausblick auf diese menschliche Reise; aber wie viele andere Planeten haben diese Reise hier vorbereitet? Planeten, die wir nie kennen werden, die verschwunden sind oder sich endlos fortbewegen wie kleine beflügelte Distelblüten, hier und da verstreut über große Sternenfelder. Und wir erinnern uns an Sri Aurobindo: Die Erfahrung des menschlichen Lebens auf einer Erde spielt sich nicht zum ersten Mal ab. Sie fand schon Millionen Male statt, und das langwierige Drama wird sich noch Millionen Male wiederholen. In allem, was wir jetzt tun, in allen unseren Träumen, unseren Entdeckungen, unseren schnellen oder schwierigen Errungenschaften ziehen wir unbewußt Nutzen aus der Erfahrung unzähliger Vorläufer, und unsere Arbeit wird uns unbekannte Planeten und noch unerschaffene Welten befruchten.

Aber wir würden gerne die gegenwärtige Welt ein wenig fruchtbarer gestalten, durch ein besseres Verständnis ihres Wirkens, das heißt, indem wir besser leben; denn letzten Endes zählt nur das - Theorien ... mein Gott, mögen sie in Bibliotheken vermodern! Hier können wir eine weitere Erfahrung Mirras als Beispiel wählen, eine aus hundert anderen. Diesmal war es in Italien, das sie im Alter von fünfzehn Jahren mit ihrer Mutter besuchte: Es frappierte mich wirklich! Es war aber auch beeindruckend: plötzlich die Erinnerung, im Gefängnis des Dogenpalastes erdrosselt worden zu sein! ... Ich besuchte mit meiner Mutter und einer Gruppe von Reisenden den Dogenpalast in Begleitung eines Fremdenführers. Er führte uns durch unterirdische Gewölbe zu den Gefängnissen. Dort begann er eine Geschichte zu erzählen (die mich nicht sonderlich interessierte), als ich plötzlich von einer Art Kraft ergriffen wurde - einfach so -, die in mich drang, und ohne zu wissen, wie mir geschah, befand ich mich in einer Ecke und sah ein geschriebenes Wort. Genau in diesem Augenblick erwachte in mir die Erinnerung, daß ich es war, die es geschrieben hatte. Die ganze Szene erschien wieder vor mir: Ich hatte es auf die Mauer geschrieben (ich sah es, ich sah es mit meinen physischen Augen vor mir; die Schrift war erhalten geblieben, und der Fremdenführer erklärte, man habe all die Mauern unberührt gelassen, auf denen Gefangene in der Zeit der Dogen etwas geschrieben hatten). Und die Erinnerung ging weiter: ich sah, ich spürte wie Leute hereinkamen, mich packten ... (ich war mit einem anderen Gefangenen zusammen) ich stand da, Wachen kamen herein, packten mich am Nacken, fesselten mich, und dann (ich stand mitten unter den Dutzend Leuten, die dem Fremdenführer zuhörten, nahe einem kleinen Fenster, das direkt über dem Kanal lag) das Gefühl, plötzlich emporgehoben und durch dieses Fenster geworfen zu werden ... Du verstehst natürlich, mit fünfzehn Jahren! Ich sagte zu meiner Mutter: "Komm, laß uns hier rausgehen!" Und sie lachte. Oh, dieses unbeschreibliche Lachen von Mutter! Wie sie lachte, wie sie sich über alles amüsierte mit einer leisen Schalkhaftigkeit, die so sehr Sri Aurobindos Humor ähnelte.

Ein wachsender Blick

Jedenfalls liegt die Frage nicht darin, welcher Wind diesen kleinen beflügelten Samen auf jenes Feld trieb oder in so ungleiche Chromosome - obwohl man sich das fragen könnte -, nicht einmal im Versuch irgendeiner "Ahnenforschung im Unsichtbaren" über Mutter, worüber sie noch mehr gelacht hätte als über die Pinguine der ersten Stummfilme. Welche Bedeutung hat es schon, ob sie die Tochter eines Dogen war (und obendrein erdrosselt wurde) oder die Prinzessin von Navarra und Kaiserin von Rußland oder China? Als bestünde der Sinn dieser schwierigen menschlichen Reise darin, immer aufgeblasenere, immer mehr betitelte und gebieterische Persönlichkeiten zu kultivieren; eine Welt, in der es am Ende nur noch Pharaone und Sultane gäbe, als wären wir nicht bereits genug von Tyrannen belastet! Auch nicht darin, immer intelligentere Genies und Super-Goethes oder Super-Beethovens hervorzubringen; eine Welt schließlich, in der es solche Fluten von Literatur und Musik gäbe, daß wir uns vielleicht zu Tode langweilen oder uns übersättigen würden. Als diene dieser großartige menschliche Aufstieg aus Schmerz, Chaos und Konflikt nur dazu, das gleiche alte Lied bis in alle Ewigkeit zu wiederholen, nur grandioser, lautstärker. Und wenn alles zu "Bestsellern" geworden ist, was nützt uns das, solange wir nicht unsere kleine Melodie innen gefunden haben, die alles bezaubert? Ja, wo bleibt das, wofür die fahrenden Sänger sangen, das, wofür die Bildhauer meißelten oder die Barden dichteten und die Helden eroberten - all diese Wanderer in der großen menschlichen Invasion - wo steckt es? Wo? Dieses einzige, nie eroberte Königreich, diese Note, die alles erfüllt, diese kleine Farbe keiner Leinwand und keiner Kunstgalerie? Morgen, morgen sagen sie, aber morgen kommt nie! Die wahre Person hinter all diesen Gestalten, wo ist sie? So traben wir dahin, kostümiert und immer zahlreicher auf der menschlichen Landstraße, als wäre niemand da im Inneren.

Nein, was wir uns richtiger fragen sollten angesichts der Fluten von "Ichs", die unter den ruhigen Augen der kleinen Mirra aus allen Ecken hervorzuquellen schienen, ist nicht, wer sie waren - wir haben alle tausendmal gelebt -, sondern warum diese tausend Male, diese Namen und Nöte, die wir in weißer oder schwarzer Haut erlebten, nicht mitsamt allen anderen im selben Schwall des Vergessens verschlungen wurden?

Was bewirkt, daß es bleibt - daß es für Mirra oder einige andere Privilegierte blieb? Was bewirkt, daß es noch lebt und vielleicht für immer lebt? Was ist es, das den Gesten eines Augenblicks, einem Kiesel in unseren Händen, einem banalen Winkel oder jenem Park eines schönen Abends und der tausendmal gelebten Sinnlosigkeit diese unzerstörbare kleine Schwingung verleiht? Das Leben ist so vergeblich. Wir glaubten es groß und golden in unseren Geschichtsbüchern, wie am Hofe des Großmoguls, doch das Leben besteht aus tausend Schritten und kleinen Treppen im Kopf und Gehsteigen unter den Füßen, die nirgendwo wirklich hinführen oder zu einem Irgendwo so ähnlich hier wie da. Hier oder da finden wir uns wieder oder verlieren uns, als hätten wir all diese Schritte nie getan, all diese Mauern nie gesehen, all diese Minuten nie erlebt. Was ist? Was lebt? Wenn es ist, dann ist es immer - oder gar nicht. Wenn es lebt, dann lebt es immer, oder es ist kein Leben, sondern eine kleine, gut aufgezogene Mechanik, die sich in nichts auflöst mitsamt dem Rest. Nein, das Leben ist nicht grandios - aber sind wir überhaupt darin?

Eine kleine Geschichte hat mich mehr frappiert als alle anderen unter den tausend Erinnerungen der kleinen Mirra, gerade wegen ihrer bis ins einzelne gehenden Banalität, wenn man so sagen darf. Mittlerweile war es nicht mehr Mirra sondern bereits Mutter, die eines Morgens einem Kleinkind begegnete, nicht älter als ein oder zwei Jahre. Ohne daß sie wüßte warum, kam es ihr sehr vertraut vor - vertraut durch seine Augen, durch "etwas", das da in der Tiefe mit einer gewissen stummen Dankbarkeit leuchtete. Daraufhin hatte sie im Laufe des Nachmittags eine Vision: Ich befand mich in einem prächtigen Gebäude, einem Monument - immens, palastartig! - aber es war vollkommen nackt, da war nichts, außer einem Ort mit wunderschönen Malereien; dort erkannte ich, daß es Malereien aus dem alten Ägypten waren. Ich verließ meine Gemächer, betrat einen großen, hallenähnlichen Saal, wo auf dem Boden eine Art Rinne an den Wänden entlang lief, um das Wasser zu sammeln. Da sah ich den Kleinen (der halbnackt war) darin spielen. Ich war sehr schockiert und sagte: "Das ist widerlich! Dieses Kind ist unausstehlich, es tut immer genau das, was es nicht tun soll!" Ich ließ den Erzieher rufen, und als er kam, tadelte ich ihn: "Was! Sie lassen das Kind darin spielen?" (Ich hörte die Töne, die ich von mir gab, und wußte, was sie besagten, die Übersetzung war auf Französisch - aber an die Töne selbst erinnere ich mich nicht mehr). Daraufhin eilte der Erzieher sofort auf mich zu und sagte (bei seiner Antwort erwachte ich): "So wünscht es Amenhotep." ... Auf diese Weise erfuhr ich seinen Namen.

Was bedeutet uns Amenhotep? Doch diese Rinne gibt zu denken! Eine Rinne, die nach 3500 Jahren noch besteht (die XVIII. Dynastie), mit einem Baby darin. Was läßt selbst eine Rinne fortdauern?

Man könnte vielleicht ganz naiv sagen: um sich zu erinnern, muß es jemanden geben, der sich erinnert. Und wer erinnert sich, wer schaut? - Eine uralte Gewohnheit des alltäglichen Schauens: wie das unserer Bücher, unserer Väter, unserer Mütter oder unserer Kinos für Millionen; ein vorgefertigter Blick, der nur seinen kleinen Wunsch sieht, seine kleine Idee im Kopf, seine Sympathie oder Antipathie, Staffagen und Szenen für nichts, was sich wirklich abspielt, höchstens eine Geschichte so ähnlich Millionen anderen, daß es egal ist, wer da zuschaut, ob im Sakkoanzug oder in Peplon, in Kathargo oder Köln, in diesem Jahrhundert, das vor oder nach Christus sein könnte, mit Unterschieden nur in der Hektik. Aber dieser reine Blick plötzlich, für nichts, wie ein Schrei, der alles zerreißt, diese ganze Staffage und das Herz mitsamt den Millionen Sinnlosigkeiten zerreißt - wie ein plötzliches Aufklaffen vor einer entsetzlichen Leere ... die vielleicht das erste Etwas in einem ganzen Leben ist, dieses zugespitzte Etwas ohne Namen, ohne Gesicht, ohne alles, wie ein Blick, der sich selbst anblickt, wie ein Loch so schmerzend, daß es fast überwältigend ist, vielleicht endlich das erste Stammeln eines Wesens, ohne Worte, ohne Gedanken, ohne zu wissen oder zu verstehen, seine reine Schwingung, sein innerer Schrei - das ist es, was sich erinnert. Als wäre das die einzige Erinnerung. Wenn sich das öffnet, wird alles in seiner Ewigkeit erblickt: eine Rinne oder eine Tönung des Himmels, ein Gesicht oder eine kleine Katze, die über die Mauer huscht, es ist alles das gleiche, weil es Dasselbe ist, das man überall erblickt, in allem, innen oder außen, oder das sich überall selbst erblickt - das, was überall aufbricht, überall vibriert, ohne Anfang, ohne Ende, ohne Zeitalter, ohne Zeit, das, was sich überall regt und alles verbindet, das Gestern mit vor tausend Jahren, diesen Kiesel mit jener achtlosen kleinen Hand, diesen Ort hier mit jenem Ort von damals, die kleine Form unter der Haartracht eines Pharaos oder einer Kapuze, aber was bedeuten ihr schon Hauben und Mützen, solange nur jemand schaut - die Bewußtseinskraft, Shakti. Ein Blick, der sich ein-, zweimal öffnet und dann danach dürstet, sich immer wieder zu öffnen, überall, in einem Tempel oder ohne Tempel, mitten auf der Straße und in tausend vorbeischreitenden Nöten - ein Blick, der sich von Leben zu Leben erweitert, eine Schwingung, die immer deutlicher wird, eine Kraft, die sich sammelt, als wäre sie das einzige, das nicht eines Tages an den Rand einer Gruft in die überwältigende Niederlage unserer Körper flieht, eine Erinnerung ohne Gedächtnis und dennoch die Erinnerung von allem, ein kleines Königreich aus nichts, das fortdauert und das überall sein eigener Herrscher ist, denn es ist das Königreich der großen Shakti, und die gesamte Welt ist ihre Sphäre.

Und eines Tages wird dieser Blick sich nicht mehr schließen, nie mehr.

Manche Wesen haben vieles erblickt, während andere wie Blinde kommen und gehen. Manche Wesen sammelten Tropfen für Tropfen die kleinen rosigen, blauen oder bunten Perlen der großen Shakti und wurden zum Gebirgsbach, zur kleinen Quelle, zum Wildwasser oder zum mächtigen Fluß - und manchmal zum Ozean. Das ist der einzige Unterschied, und weder unsere Chromosomen noch sämtliche Mendelschen Gesetze können das erklären. Eine Evolution weder der Arten noch Talente, sondern des Bewußtseins und der Kraft. Oder vielmehr die Evolution von Millionen Blicken eines einzigen Bewußtseins, das mehr und mehr wächst, sich immer lebensvoller, immer stärker selbst entdeckt: Kaskade oder Katarakt. Eine optische Evolution vielleicht? Aber es ist der gleiche Tropfen vom gleichen Etwas. Es ist der gleiche mächtige Fluß, der fließt und fließt, durch Jahrhunderte hindurch, durch unsere kleinen und großen Plagen, unsere Philosophien, unsere Systeme, unsere tausendfachen Käfige, ob golden oder schwarz. Er, der all diese Millionen Menschen vorantreibt, all diese kleinen blauen oder schwarzen Blicke aus einem großen, uns unbekannten Land, und der uns langsam aber sicher zu jenem nächsten Augenblick seines gewaltigen Ganges führt, zur jähen Wende unserer Schmerzen, wo alle unsere Blenden fallen, weil sie nicht mehr nötig sein werden, um unseren kleinen Schrei in einem Käfig zu erwecken.

Dann findet jeder seinen wahren Namen unter allen Kostümen oder ohne Kostüm, seine einzigartige Schwingung, seine unersetzliche Musik in der großen Gesamtheit, sein endlich wiedererlangtes Gedächtnis und seine weiten Flügel. Und wir werden unsere Augen vor unserer Erde öffnen, als hätten wir sie nie gesehen.

Vielleicht wird es eine andere Erde sein.

Eine andere Geschichte.

Eine andere Schwerkraft unter den Sternen.

Endlich unser wahres Land und unser unzerstörbarer Körper.

Über die Gräber, vorwärts - über die Gipfel, vorwärts.


4. Von der Musik und den Farben

Meist fallen diese spontanen Erfahrungen dem Fallbeil des Mentals zum Opfer - und gewiß halten wir alle bestimmte Fäden, verfügen über Zeichen und Bruchstücke von Erinnerungen, nur wissen wir nicht, daß es Erfahrungen sind, daß es eine Erfahrung gibt, deshalb reden wir von "Träumen", "Eindrücken"; es ist vage, verschwommen und wird schnell von der Logik der kartesianischen Welt verdeckt, die sich wie eine Glocke über uns stülpt. Früh wird uns beigebracht, wie man zu leben hat, das heißt, wie man mit allem Anstand erstickt. Nachher sagen wir dann: das sind Mystiker, Spinner, Scharlatane, und selber klammern wir uns an alle möglichen nicht sehr philosophischen Religionen, weil wir das Eine, das Einfache nicht erfassen, das alle unsere Fäden entwirrt. Aber vielleicht ist es gut so. Die Menschen bedürfen einer soliden, logischen und rationalen Vorbereitung, um der großen einfachen Wahrheit auf ebenem Fuße entgegentreten zu können, ohne dabei in ihrer allzugroßen Weite zu versinken oder eine kleine exotische Lagune für den gesamten Stillen Ozean zu halten. Im wunderbaren Walten der Natur scheint es fast, als schütze uns jede Unwahrheit oder jede Abweichung eines Zeitalters vor einer für unsere notdürftigen Kähne noch zu gefährlichen Wahrheit, so daß es vielleicht nirgendwo Lüge oder Irrtum gibt sondern einfach eine im Maße unserer Möglichkeiten wachsende Wahrheit. Könnten wir uns nur immer der größeren Weite hinter und jenseits von allem entsinnen, würden wir den kindischen Streitereien zwischen sogenannten "Materialisten" und "Spiritualisten" schnell ein Ende setzen, denn sie sind nichts weiter als "Isten" von etwas, das erst noch geboren werden muß und das vermutlich weder der reinen Materie der einen noch dem reinen Geist der anderen entspricht - es ist ... etwas anderes, ohne "Ismus": vielleicht die wahre Erde, die wir hinter unseren Brillen des materialistischen oder spirituellen Homo sapiens noch nicht sehen.

Die großen Wellen

Mirra war unbelastet von solchen Widersprüchen. Mit ihrem ruhigen Blick betrachtete sie das Blendwerk dieser Welt, wie auch das anderer Welten, als nicht mehr und nicht minder denn ein "zu studierendes" Phänomen, eine bestimmte Verhaltensweise ein und desselben Dinges, das vielleicht nur für uns auf die eine oder die andere Seite verbannt ist. Wenn es keine Gefängnisse mehr gibt, verschwinden auch die Seiten, das ist klar. Sie malte, musizierte, spielte viel Tennis: seit ihrem achten Lebensjahr war sie eine "begeisterte" Tennisspielerin, und sie blieb es unermüdlich, bis sie achtzig war. Das Malen schien eine wichtigere Rolle zu spielen (besonders Portraits bedeuteten ihr viel: menschliche Gesichter waren für sie ein weit größeres Rätsel als Pharaone oder Mathematik), und so kam es, daß sie Henri Morisset, ihrem zukünftigen Ehemann, begegnete, einem jungen Schüler von Gustav Moreau und Klassenkamerad Rouaults. Eingeführt in diese Kreise wurde sie von ihrer erstaunlichen Großmutter, die sich unter Mathildes argwöhnischen Augen weiterhin lebensprühend in der Hauptstadt vergnügte. Mira Ismalun hatte eine Schwäche für die junge Mirra, was uns nicht wundert: Sie hielt mich für die einzige vernünftige Person in der ganzen Familie (!) und zog mich ins Vertrauen. Dennoch hatte die Malerei, die sie als Zwölfjährige begann, für sie weniger Bedeutung - oder zumindest nicht mehr -, als es scheinen mag, und wir hegen den Verdacht, daß sie sich dafür begeistert hatte, um Mathilde ein wenig zu ärgern und das zu glatt polierte Höflichkeitsjoch am Square du Roule abzuschütteln, wie eine gewisse Person in einem Theaterstück verriet, das sie später schrieb: In einer bürgerlichen, durchaus ehrenwerten Familie geboren, die Kunst eher als Zeitvertreib denn als Karriere betrachtete und Künstler als unseriöse, leicht zu ausschweifendem Lebenswandel neigende Leute mit einer äußerst gefährlichen Geringschätzung des Geldes, fühlte ich wohl aus Protest das zwingende Bedürfnis zu malen. Ja, so wie Mathilde auf ihre Weise das Joch des Khedivs abwarf oder Mira Ismalun die Traditionen des feudalen Ägypten. Wäre ich in Indien geboren worden, hätte ich alles zerschlagen! vertraute mir Mutter eines Tages an. Wir glauben ihr gerne.

Nicht weit entfernt bereitete Sri Aurobindo sich in London darauf vor, dem britischen Joch einige Stöße zu versetzen.

Wir wissen nicht, ob Mirra eine große Malerin geworden wäre, zweifellos aber eine große Musikerin - hätte sie je Wert auf Größe gelegt - und tatsächlich versteckt sich in Mutter eine Musikerin, deren außergewöhnliche "Improvisationen" die Welt noch überraschen werden. Zehn Bücher müßte man schreiben, um anzufangen, über Mutter zu sprechen! Und übrig bliebe noch genug Ungesagtes für Generationen von Exegeten, über die sie sich auf liebenswürdige Weise lustig machte. Ich höre Töne dort oben ... oh, wunderschön, entzückend! Und ich weiß überhaupt nicht, was es ist. Ich spiele, aber ohne zu hören, was ich spiele; ich horche auf das andere ... Das ist sehr lustig. Da amüsiert sich einer - einer, der sich amüsiert und mich gewissermaßen zwingt zu spielen. Ich setze mich hin, und er sagt mir: "So fängst du an!" Also fange ich so an, dann schmückt er es aus und improvisiert. Plötzlich sagt er: "Ah, das genügt!" und weg ist er! ... Ich weiß nicht, wer er ist. Und Mutter lachte.

Wieder ein anderes Mal erzählte sie mir: Ich höre ständig etwas wie große musikalische Wellen. Ich brauche mich nur ein wenig zurückzuziehen, und schon ist es da, ich höre es. Es ist immer da. Es sind keine Töne, und doch ist es Musik. Große musikalische Wellen. Seltsamerweise hängen diese "großen Wellen" auch mit der erwähnten "Flügelbewegung" zusammen, die Mirra so sanft auf die Flintsteine von Fontainebleau setzte - vielleicht ist unsere Welt rhythmischer, als wir denken, und ihre Musik erhabener. Zuerst müssen wir aber unsere eigene Musik innen entdecken, denn wie könnten wir sonst die Musik da oben hören, die vielleicht auch innen ist, die vielleicht ein und dieselbe Musik überall ist. Als ich vor Jahren ein bestimmtes Buch schrieb, sagte mir Mutter plötzlich: Ich weiß nicht, wie ich dir helfen könnte, aber ich werde dir Musik senden, und tatsächlich kam es wie ein sehr weiter Rhythmus, der vielleicht Musik war und sich beim Herabkommen in Worte kleidete - und das wählte die Worte automatisch, als erzeugte der Ton das Wort oder führte das ihm entsprechende Wort herbei. Aber der geringste Gedanke störte den Ton, und alle Worte wurden falsch. Die Gedanken nahmen auf tieferer Ebene automatisch Form an, fast ohne mein Tun, als würden sie durch die Musik erzeugt, ein Nebeneffekt der Musik und von geringerer Bedeutung: wenn man den Rhythmus verlor, dann verlor man auch den Gedanken. Vielleicht weil das Denken wie der ganze Rest, sei es unsere Architektur, unsere Malerei, unsere Gesten oder Revolutionen, nur der Ausdruck dieser mächtigen Flut der Shakti ist, die alles mit ihrem Rhythmus beflügelt - welch Wunder, wenn wir stets den klaren Fluß zu finden wüßten! Schöpferisch sein heißt, die große Musik wiederzuentdecken, uns mit dem reinen Rhythmus in Einklang zu bringen und ihn fließen zu lassen. Aber meistens sind wir nur auf "unsere" Ideen eingestimmt: wir übersetzen alles durch das unklare Gewirr unseres Verstandes - und selbstverständlich wird der Rhythmus verkehrt, werden die Gedanken und das ganze Leben verkehrt. Es ist nicht mehr die Bewegung weiter Flügel, sondern die Bewegung von etwas, das zappelnd gegen alle Stäbe seines Käfigs stößt. Könnte ich nur über ein Orchester mit zweihundert Musikern verfügen, rief Mutter aus, das wäre wirklich interessant! Leider verfügte sie nur über ein ärmliches Harmonium mit Blasebalg, später über eine nicht viel bessere elektrische Orgel, so muß man es wie mit einer Pipette aufsammeln und dann tropfenweise wiedergeben; natürlich wird es auf diese Weise sehr abgeschwächt! Aber selbst diese kleinen Tropfen warten darauf, entdeckt zu werden, und vielleicht wird sie eines Tages denjenigen finden, der zu unserem Staunen diese großen Wellen keiner menschlichen Musik mit einem Orchester zu interpretieren versteht. Eine Art Meditation in Tönen.

Der Durchbruch nach oben

Doch sie meditierte nicht. Bis sie zwanzig war, kam sie nie auf den Gedanken, daß man meditieren und aus alledem eine komplizierte Geschichte machen könnte: es war vollkommen einfach, so sehr Teil des Lebens selbst, daß es ihr äußerst merkwürdig erschienen wäre, sich mit gekreuzten Beinen abseits setzen zu müssen für etwas so Natürliches wie das Atmen. Ihre "Meditation" bestand darin, überall dieses Feuer in sich zu tragen, diese scharfe Intensität, die allen äußeren Schein zerreißt, diesen Blick, der das Wahre zu sehen verlangt, die wahre Welt, die Wahrheit in allem, diesen Drang nach Vollkommenheit, der nur die Vorahnung einer geheimen Vollkommenheit in den Dingen ist - nur für die äußeren Augen entstellt, pervertiert und verkümmert -, und dieser Drang schuf eine Intensität, als sei man ständig auf der Suche nach dem wahren Gesicht der Welt, einem rätselhaften Sich-Erinnern in allem: in den Wesen, Begegnungen, Gegenständen, in einem Klavier, das man stundenlang behämmert, als wolle man ihm seinen wahren Klang entreißen (sie übte täglich mehrere Stunden am Klavier), in einer Leinwand, die man bearbeitet, als wolle man eine unmögliche Farbe aufleuchten lassen oder vielleicht das unerträgliche Weiß mit einem Schrei zerreißen, in einem mathematischen Problem, in das man sich vertieft, als wolle man Linien und Rauminhalte durchbrechen, das Problem einer Welt durchbrechen, die in eine vielleicht nicht-euklidische Geometrie eingeschlossen ist: Mein Bruder studierte höhere Mathematik, um ins Polytechnikum einzutreten, und er fand es schwierig. Ich schaute mir das an [ja, sie "schaute" immer und unermüdlich], und alles war klar: das Warum, das Wie, es war klar. Der Professor mühte sich ab, mein Bruder plagte sich, und auf einmal sagte ich: "Aber das geht so!" Ich sah, was für ein Gesicht der Professor da machte ... Anscheinend ging er zu meiner Mutter und sagte ihr: "Es ist eigentlich ihre Tochter, die studieren sollte!"

Etwas explodierte dann eines Tages unter dem steten Druck dieser Intensität des Blickes. Es geschah in einem Konzert, während eines Violinvortrages des großen belgischen Violinisten Ysaye, ein Gefährte Rubinsteins: Als ich zum ersten Mal das Konzert in D-Dur von Beethoven hörte - in D-Dur für Violine und Orchester - dort, wo plötzlich die Violine einsetzt (nicht ganz am Anfang, erst spielt das Orchester, dann nimmt die Violine auf), bei den ersten Klängen der Violine (Ysaye spielte die Violine, was für ein Musiker!) ... Schon bei den ersten Klängen war es, als öffnete sich plötzlich mein Kopf, und ich wurde in eine solche Herrlichkeit versetzt, oh, es war über alle maßen schön! Über eine Stunde befand ich mich in einem Zustand der Glückseligkeit ... Und wohlgemerkt, ich wußte nichts von diesen Welten, erzählte Mutter, ich besaß keinerlei Wissen. Aber so kamen alle meine Erfahrungen, ohne daß ich sie erwartete oder suchte. Über diese Explosion nach oben ist in der indischen Literatur viel Tinte geflossen. Es handelt sich um die Öffnung des Zentrums oberhalb des Kopfes, das Sahasradala, der "tausendblättrige Lotos", die direkte Kommunikation mit dem Fluß der großen Shakti und ihren Welten von Licht und Schönheit, die wir uns ungeschickt bemühen, durch unsere harten Schädel zu übersetzen. Von nun an wird die junge Mirra die Welt anders sehen, nicht mehr nur durch die transparenten Seiten eines Geschichtsbuches oder im verborgenen Gemurmel der Blumen und Steine und den geheimen Schwingungen der Wesen, sondern in ihrem anderen Ursprung, darüber, in ihrer Urquelle - in Erwartung eines weiteren Wandels der Sicht (vielleicht noch viele weitere Wandel), und zwar innerlicher, mehr in der Tiefe der Dinge, im Herzen der Materie, wo vielleicht der geheime Ursprung liegt, im Atom und den Zellen des Körpers wie in den Unendlichkeiten der Shakti. Denn Mirra hörte nie auf zu "schauen", und sogar die unermeßlichen Weiten schienen ihr noch ein Schleier vor "etwas anderem" zu sein, das vielleicht nicht bloß unermeßlich war. Sie war zu sehr "Materialistin", um die Materie nicht noch mehr zu lieben als die Wissenschaftler und sie schöner zu wollen als deren sämtliche quantentheoretische Gleichungen.

Von nun an brach alles unter Mirras Augen hervor, nichts war mehr in seiner photographischen Plattheit eingeschlossen. Ich betrachtete ein Gemälde, und plötzlich geschah dasselbe: es öffnete sich in meinem Kopf, und ich sah den Ursprung des Bildes - welche Farben! ... Selbst Wesen öffneten sich, wie Bilder, und hinter ihren Worten oder Taten gaben sie die wahre, sie animierende Bewegung preis, die Schwingung, die ihre Gesten bewegte, den Rhythmus oder die Farbe, die ihre Seele oder Seelenlosigkeit tönte, und alles war wie die zahllosen farbigen Wirbel eines Kaleidoskops, das endlos die tausendfachen Facetten der Shakti drehte und weiterdrehte - oft auch nur die tausend Arten, eine einzige kleine Farbe zu entstellen und zu fälschen, die ein so hübsches Bild hätte ergeben wollen. Ich sehe das physische Ding (das Wort oder die Tat) und gleichzeitig diese farbige, lichtvolle Übertragung - beide übereinander. Wenn zum Beispiel jemand spricht, dann übersetzt sich das in verschiedenartige Bilder, ein Formen-, Lichter- und Farbenspiel (Farben, die nicht immer leuchtend sind!), wie Flecken, wie fließende Formen, und auf diese Weise wird es ins Gedächtnis der Erde aufgenommen. Aus diesem Grund drücken sich die Dinge, die aus diesem Bereich ins aktive Bewußtsein der Leute kommen, in eines jeden eigener Sprache aus, mit den ihnen gewohnten Worten und Ideen - weil sie keiner Sprache und keiner Idee angehören, sondern der präzise abdruck dessen sind, was geschieht. Dieser Abdruck heftet sich an Orte, Häuser, Gegenstände sowie an unsere Zellen: eine ungeheure lebendige und genaue Geschichte, wie die farbige Wahrheit der Welt. Unsere Tonbandaufnahmen sind vielleicht doch keine so neue Erfindung; wir "erfinden" immer eine Karikatur dessen, was es schon gibt. Und später erkannte Mutter plötzlich: Das ist es also, was die Leute sehen, die ultra-moderne Bilder malen! Und mit einem schelmischen Lächeln, das ihre Lippen verzog und ihre Wangen wölbte, wie ein kleines Mädchen, das sich das Lachen verbeißt, fügte sie hinzu: Nur, da sie selber sehr zusammenhangslos sind, ist das, was sie sehen, auch zusammenhangslos!

Die Welt öffnete sich, und alles öffnete sich, das Entfernte rückte nahe, das Unbekannte dort vibrierte, als sei es hier, das hier Bekannte versank wie in die Tiefe der Jahrhunderte; jedes Ding war eine Welt, die vielleicht die ganze Welt in sich enthielt. Die Musik verschmolz mit den Farben und diese zerflossen im gleichen großen Rhythmus, der auch Gedichte oder Geometrie bilden konnte, je nachdem, ob er hierin oder dorthin wehte, der auch eine Gravitation oder andere Gravitationen erzeugen konnte, je nach ... vielleicht je nach der Wahrheit unseres Blickes. Ein Blick, der immer wahrer wird - der mit der Raupe auf einer einzigen, schmalen Linie der Welt zwinkerte oder mit dem Maulwurf auf gewundenen Pisten, der unzählige Rillen und kleine Längenkreise auf seinen Landkarten zog und die Galaxien in eine Seifenblase einschloß, bis zu dem Tag, wo er seine eigene Seifenblase zum Platzen bringt und alles in einer anderen Geometrie von neuem beginnt. Und vielleicht waren all diese mentalen Stützen notwendig, um uns vor einem psychedelischen oder anders gearteten Sturz in eine für unser Bewußtsein zu große Welt zu schützen. Aber die Reise ist noch nicht zu Ende, der wahre Blick existiert noch nicht - die Welt existiert noch nicht! Die Welt wird mehr und mehr das, was sie ist. Die Welt ist ein wahr werdender Blick. Wir müssen an Bewußtsein wachsen, wir müssen jene Augen öffnen, die nicht am Gitter kleiner Weltkarten hängen bleiben. Und wenn wir unseren wahren Blick öffnen, wenn wir vollkommen wahr sind, dann wird die Welt vollkommen das sein, was sie ist, und alle unsere Gesetze werden herabpurzeln wie die Bauklötze eines Kindes im Garten der Götter.

Denn das gewaltige Kaleidoskop der Welt kann sich auch im Handumdrehen unvorhergesehen wenden.