410 S., ISBN 978-3-89427-711-6

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Sri Aurobindo

Die Grundlagen der indischen Kultur und die Renaissance in Indien

Sri Aurobindos unter diesem Titel zusammengefaßte Aufsätze liefern ein einzigartiges Gesamtporträt der indischen Kulturgeschichte und ihrer Offenbarungen auf den Gebieten Religion und Spiritualität, Kunst, Literatur und Politik. Dabei werden die dem indischen Wesen eigentümlichen Strukturen bloßgelegt und als Basis einer von allen anderen Zivilisationen verschiedenen Kultur ausgewiesen. Insbesondere werden die Unterschiede zur westlichabendländischen Kultur herausgearbeitet, angeregt durch die heftige Auseinandersetzung des Verfassers mit englischen "Kulturkritikern" der ersten Jahrhunderthälfte. Die scharfe Zurückweisung der damals verbreiteten, heute auch westlicherseits widerlegten europäischen Indien-"Erkenntnisse" beflügelt den Verfasser, in ausführlichen Analysen die Entwicklungen Indiens auf den verschiedenen kulturellen Gebieten einschließlich der Staatskunst sachlichobjektiv und zugleich tiefschürfend-interpretativ darzustellen, sowie rückhaltlos die späteren Fehlentwicklungen und das Nachlassen der schöpferischen Kraft zu vermitteln.

"Wenn wir die rechte Sicht der indischen und jeder anderen Zivilisation anstreben", schreibt Sri Aurobindo, "ist wichtig, daß wir uns an die zentralen, lebendigen, vorherrschenden Aspekte halten und nicht vom Wirrwarr der Nebensächlichkeiten und Einzelheiten irregeführt werden." Eine Zivilisation, eine Kultur müsse zuerst in ihren einleitenden, grundlegenden, dauerhaften zentralen Motiven, im Herzen ihres ständigen Prinzips betrachtet werden. Als solches arbeitet er für Indien heraus: "Die indische Kultur erkennt den Geist als die Wahrheit unseres Wesens und unser Leben als Wachstum und Entfaltung des Geistes. Sie erkennt das Ewige, das Unendliche, das Höchste, das Allwesen. Sie betrachtet dies als das verborgene höchste Selbst von allem. Das ist, was sie Gott, das Permanente, das Wirkliche nennt, und sie betrachtet den Menschen als die Seele und eine Kraft dieses Gott-Wesens in der Natur. Die fortschreitende Entwicklung des begrenzten Bewußtseins des Menschen zu diesem Selbst, zu Gott, zum Universalen, Ewigen Unendlichen hin, mit einem Wort, sein Wachsen in ein spirituelles Bewußtsein durch Entwicklung seines gewöhnlichen unwissenden natürlichen Wesens zur erleuchteten göttlichen Natur, ist für indisches Denken der Sinn des Lebens und das Ziel menschlichen Daseins."

Darüber hinaus erfährt der Leser, daß Indien in seinen großen Epochen durchaus den Blick für die Bedürfnisse und Notwendigkeiten des niederen und äußeren Lebens hatte und deren Befriedigung sorgsam verfolgte, daß es sich den im Menschen grundangelegten Mächten in Handel und Gewerbe, in Handwerk und Kunsthandwerk, in der Gestaltung des sozialen Lebens auf allen Ebenen erfolgreich stellte, wenn es auch den geistigen Mächten stets den höheren Rang einräumte und am spirituellen Leitmotiv festhielt. Von daher fällt es dem Verfasser nicht schwer, äußere Einflüsse dort, wo sie überlegen sind, positiv zu bewerten und ihre Assimilation, ihre schöpferische Einbeziehung in die Entwicklung Indiens zu empfehlen. Andererseits sieht er Indiens seinsgeschichtliche Funktion darin, Bewahrerin der Spiritualität durch die Jahrtausende zu sein.

Die Aufgabe eines (freien) Indien in der Welt von heute und morgen wird klar umrissen in der Definition dessen, was Renaissance (Wiedergeburt) für Indien bedeutet: "Die Wiederfindung der alten spirituellen Erkenntnis und Erfahrung in all ihrem Glanz, ihrer Tiefe und Fülle ist ihr erstes wesentlichstes Werk. Das Einströmen der Spiritualität in neue Formen von Philosophie, Literatur, Wissenschaft und kritischer Erkenntnis ist das zweite. Ein originaler Umgang mit den modernen Problemen im Licht des indischen Geistes und das Bemühen um eine größere Synthese spiritualisierter Gesellschaft ist das dritte und schwierigste. Ihr Erfolg in diesen drei Grundrichtungen bestimmt das Maß ihres Nutzens für die Zukunft der Menschheit."

Übertragung aus dem Englischen von Wilfried Huchzermeyer unter Mitarbeit von Rolf Hinder


Aus dem Inhalt

Kapitel 1:

Die Streitfrage: Ist Indien zivilisiert?

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Ein Buch mit diesem etwas überraschenden Titel wurde vor einigen Jahren von Sir John Woodroffe, dem bekannten Gelehrten und Autor von Werken über tantrische Philosophie, veröffentlicht, um ein extravagantes jeu d'esprit von William Archer zu beantworten. Dieser bekannte Theaterkritiker hatte sein gewohntes natürliches Arbeitsfeld verlassen und sich auf ein Gebiet begeben, auf dem sein Anspruch auf Kommentar vollendete und kühne Unwissenheit war. Er griff das gesamte Leben und die Kultur Indiens an und warf die größten Errungenschaften dieses Landes - Philosophie, Religion, Dichtung, Malerei, Skulptur, Upanischaden, Mahabharata, Ramayana - in einen Topf, in dem er sie als abstoßende Masse unsagbarer Barbarei einhellig verdammte. Damals vertraten viele die Ansicht, auf einen Kritiker seiner Art zu antworten, hieße einen Schmetterling oder vielleicht in diesem Fall eine Hummel zu rädern. Aber Sir John Woodroffe vertrat beharrlich den Standpunkt, daß selbst eine Attacke aus solcher Unwissenheit nicht ignoriert werden dürfe. Er nahm sie als ein besonders nützliches Beispiel von allgemeiner Art auf, erstens, weil sie die Frage vom rationalistischen und nicht vom christlichen und missionarischen Standpunkt aus aufwarf, und zweitens, weil sie die zugrundeliegenden gröberen Motive all solcher Attacken aufdeckte. Sein Buch war jedoch nicht so sehr als Antwort auf einen bestimmten Kritiker wichtig, sondern weil es mit großer Schärfe und Kraft die gesamte Frage des Überlebens der indischen Zivilisation und der Unvermeidbarkeit eines Krieges zwischen den Kulturen aufwarf.

Die Frage, ob es in Indien eine Zivilisation gab oder gibt, ist nicht mehr strittig; denn all jene, deren Meinung etwas gilt, erkennen die Gegenwart einer besonderen und großen Zivilisation, die ihrem Charakter nach einzigartig ist, an. Sir John Woodroffes Anliegen war es, den Konflikt zwischen europäischer und asiatischer Kultur offenzulegen, und, mehr als das, die besondere Bedeutung und den besonderen Wert der indischen Zivilisation aufzuzeigen, die Gefahr, in der sie sich jetzt befindet, und das Unheil, das ihre Zerstörung für die Welt bedeuten würde. Der Autor hielt ihre Bewahrung für ungemein wichtig für die Menschheit und war der Ansicht, sie befinde sich in großer Gefahr. Im Verlaufe der rapiden Wandlungen, die sich im Gefolge des gegenwärtigen Tornados von Umstürzen in der Welt ergeben, könnte die Kultur des alten Indien, attackiert vom europäischen Modernismus, überwältigt im materiellen Bereich, verraten von der Indifferenz ihrer Kinder, auf immer zugrunde gehen - zugleich mit der Seele der Nation, die sie in Händen hält. Das Buch war eine dringende Aufforderung an uns, dieser heiligen Treuepflicht mehr gerecht zu werden, die nahende Gefahr zu erkennen, die sie bedroht, und in der Stunde der Prüfung fest und treu unseren Mann zu stehen. Es dürfte nützlich sein, als Einführung zu dieser überaus wichtigen Frage knapp den Inhalt des Buches in seinen wesentlichen Aussagen zusammenzufassen.

Wahre Zufriedenheit in dieser Welt ist das rechte irdische Ziel des Menschen, und wahre Zufriedenheit liegt im Entdecken und Bewahren einer natürlichen Harmonie von Geist, Mental und Körper. Eine Kultur hat ihren Wert in dem Maße, in dem sie den rechten Schlüssel zu dieser Harmonie gefunden und die sie ausdruckenden Motive und Bewegungen organisiert hat. Und eine Zivilisation ist zu beurteilen nach der Art, in der all ihre Prinzipien, Vorstellungen, Formen, Lebensweisen darauf hinarbeiten, jene Harmonie zustandezubringen, ihr rhythmisches Spiel zu lenken und ihr Fortdauern oder die Entwicklung ihrer Motive sicherzustellen. Eine Zivilisation, die dieses Ziel verfolgt, kann überwiegend materiell sein wie die moderne europäische Kultur, überwiegend mental und intellektuell wie die alte griechisch-römische oder vorwiegend spirituell wie die immer noch fortdauernde Kultur Indiens. Indiens zentrales Konzept ist das des Ewigen, des Geistes, der hier in die Materie eingefaßt ist, involviert und ihr immanent, und sich auf der materiellen Ebene evolviert durch Wiedergeburt des Individuums, die Stufenleiter des Seins aufwärts, bis er im mentalen Menschen in die Welt der Ideen und den Bereich bewußter Sittlichkeit, dharma, eintritt. Diese Errungenschaft, dieser Sieg über die unbewußte Materie, entwickelt seine Grundlinien, erweitert seinen Bereich, erhöht seine Ebenen, bis die wachsende Manifestation des sattwischen oder spirituellen Teiles des mentalen Mediums das individuelle mentale Wesen im Menschen in den Stand setzt, sich mit dem reinen spirituellen Bewußtsein jenseits des Mentals zu identifizieren. Indiens Gesellschaftssystem ist auf diesem Konzept errichtet. Seine Philosophie formuliert es. Seine Religion ist ein Aufstreben zum spirituellen Bewußtsein und dessen Fruchten. Seine Kunst und Literatur sind in gleicher Weise aufwärts gerichtet. Sein ganzes Dharma oder sein Daseinsgesetz ist auf ihm begründet. Fortschritt hat seinen Platz in diesem Konzept, aber es ist der spirituelle Fortschritt, nicht der äußerliche Selbstentfaltungsprozeß einer immer mehr prosperierenden und leistungskräftigen materiellen Zivilisation. Die Begründung des Lebens auf diesem hohen Konzept und der Drang zum Spirituellen und Ewigen sind es, die den besonderen Wert von Indiens Zivilisation ausmachen. Und es ist seine Treue - mit welchen menschlichen Mängeln auch immer - zu diesem höchsten Ideal, die sein Volk zu einer gesonderten Nation in der Menschenwelt gemacht hat.

Aber es gibt andere Kulturen, die von einem anderen Konzept und sogar einem entgegengesetzten Motiv geleitet werden. Und durch das Gesetz des Kampfes, welches das erste Daseinsgesetz im materiellen Universum ist, geraten verschiedene Kulturen unweigerlich in Konflikt miteinander. Ein tiefverwurzelter Drang in der Natur treibt sie zu dem Versuch, sich auszuweiten, die unvereinbaren Elemente oder Gegensätze zu zerstören, zu assimilieren und zu ersetzen. Konflikt ist in der Tat nicht das letzte und ideale Stadium; denn dieses tritt ein, wenn verschiedenartige Kulturen frei, ohne Haß, Mißverständnis oder Aggression, ja mit einem fundamentalen Gefühl der Einheit, ihre gesonderten Motive entwickeln. Aber solange das Prinzip des Kampfes vorherrscht, muß man sich dem niederen Gesetz stellen; es ist fatal, wenn man sich mitten in der Schlacht entwaffnet. Die Kultur, die ihre lebendige Sonderung aufgibt, die Zivilisation, die eine aktive Selbstverteidigung vernachlässigt, wird verschlungen werden, und die Nation, die durch sie lebte, wird ihre Seele verlieren und zugrunde gehen. Jede Nation ist eine Shakti oder Kraft des evolvierenden Geistes in der Menschheit und lebt durch das Prinzip, das sie verkörpert. Indien ist die Bharata Shakti, die lebendige Energie eines großen spirituellen Konzepts, und Treue zu ihm ist das ureigene Daseinsprinzip Indiens. Durch dieses Prinzip nur ist es eine der unsterblichen Nationen. Dies allein war das Geheimnis seiner erstaunlichen Dauer und seiner ständigen Überlebens- und Erneuerungskraft.

Das Prinzip des Kampfes erhielt den weiten historischen Aspekt eines zeitalterlangen Zusammenstoßes und Konfliktdruckes zwischen Asien und Europa. Dieser Zusammenstoß, dieser wechselseitige Druck hatte seine materielle Seite, aber wies auch einen kulturellen und spirituellen Aspekt auf. Sowohl materiell wie spirituell hat Europa sich wiederholt auf Asien geworfen, Asien ebenfalls auf Europa, um zu erobern, zu assimilieren und zu dominieren. Es gab eine ständige Wechselfolge, ein Vor- und Zurückfluten dieser beiden Meere von Macht. Ganz Asien hatte stets die spirituelle Tendenz mit mehr oder weniger Intensität, mit mehr oder weniger Klarheit; aber in dieser essentiellen Angelegenheit ist Indien die Quintessenz der asiatischen Seinsweise. Auch Europa besaß zur Zeit des Mittelalters eine Kultur, bei der durch das Dominieren des christlichen Gedankens - das Christentum war jedoch asiatischen Ursprungs - das spirituelle Motiv die Führung übernahm. Damals gab es eine wesenhafte Ähnlichkeit ebenso wie einen gewissen Unterschied. Dennoch war die Differenz kulturellen Temperaments im Ganzen gesehen konstant. Seit einigen Jahrhunderten ist Europa materiell, raubgierig, aggressiv geworden und hat die Harmonie des inneren und äußeren Menschen, die die wahre Bedeutung von Zivilisation und die wirksame Grundbedingung für wahren Fortschritt ausmacht, verloren. Materieller Komfort, materieller Fortschritt, materielle Effektivität sind zu den Göttern geworden, die Europa anbetet. Die moderne europäische Zivilisation, die in Asien eingedrungen ist und die alle gewaltsamen Angriffe auf indische Ideale repräsentiert, ist die wirkungsvolle Form dieser materialistischen Kultur. Indien hat, im Einklang mit seinem spirituellen Motiv, nie an den physischen Angriffen Asiens auf Europa teilgenommen. Seine Methode war stets Infiltration der Welt mit seinen Gedanken und Ideen, ein Vorgang, den wir auch heute wieder beobachten. Aber es ist nun physisch von Europa besetzt, und diese physische Eroberung muß notwendigerweise mit einem Versuch kultureller Eroberung in Verbindung gebracht werden. Auch jene Invasion hat einigen Fortschritt erzielt. Auf der anderen Seite hat die englische Herrschaft Indien in den Stand gesetzt, seine Identität und seinen Gesellschaftstypus noch zu bewahren. Sie hat das Land sich selbst gegenüber erweckt und hat es, bis es sich seiner Kraft bewußt wurde, gegen die Flut geschützt, die andernfalls seine Zivilisation ertränkt und zerbrochen hätte. [[Diese These kann nicht ohne Einschränkung akzeptiert werden. Die englische Herrschaft hat durch ihr allgemeines Prinzip gesellschaftlicher und religiöser Nichteinmischung einen direkten und gewaltsamen Kontakt, einen bewußten und gewollten gesellschaftlichen Druck verhindert. Aber sie hat alle zuvor bestehenden Zentren und Instrumente indischen Gesellschaftslebens unterminiert, ihrer lebendigen Kraft beraubt und durch eine Art unsichtbaren Zersetzungsprozeß nur eine verrottende Schale ohne Expansivkraft oder bessere Defensivkraft als die der Trägheit und Passivität hinterlassen.]] Es ist nun Sache Indiens, seine Kräfte zurückzugewinnen, seine kulturelle Existenz gegen den Fremdeinfluß zu verteidigen, den eigenen gesonderten Geist, sein Wesensprinzip und seine charakteristischen Formen zum eigenen Heil und zum Gesamtwohl der menschlichen Rasse zu bewahren.

Aber es werden viele Fragen aufgeworfen, so vor allem diese: Ist ein solcher Geist der Verteidigung und des Angriffs der rechte Geist, sind Vereinigung, Harmonie, Austausch unser rechtes Temperament für den kommenden menschlichen Fortschritt? Ist nicht eine vereinigte Weltkultur der breite Pfad der Zukunft? Kann eine übertrieben spirituelle oder eine übermäßig weltliche Zivilisation die gesunde Grundlage für menschlichen Fortschritt oder menschliche Vollkommenheit sein? Eine glückliche oder gerechte Aussöhnung dürfte ein besserer Schlüssel zur Harmonie von Geist, Mental und Körper sein. Und dann haben wir noch die Frage, ob die Formen indischer Kultur ebenso intakt gehalten bleiben müssen wie der Geist. Die Antwort des Autors auf diese Fragen findet sich in seinem Gesetz von der schrittweisen Entfaltung des spirituellen Fortschritts der Menschheit, ihrem Erfordernis, durch drei aufeinanderfolgende Stadien voranzuschreiten.

Die erste Stufe ist die Periode des Konflikts und Wettstreits, die in der Vergangenheit stets vorherrschte und die Gegenwart der Menschheit immer noch überschattet. Denn selbst wenn die gröbsten Formen des materiellen Konflikts abgeschwächt sind, überlebt der Konflikt als solcher dennoch, und der Kulturkampf tritt mehr in den Vordergrund. Die zweite Stufe bringt das Stadium des Einvernehmens. Die dritte und letzte ist gekennzeichnet durch den Geist des Opfers, bei dem sich jeder, weil alles als das eine Selbst erkannt ist, zum Wohle der anderen gibt. Die zweite Stufe hat für die meisten noch kaum begonnen; die dritte gehört einer nicht bestimmbaren Zukunft an. Einzelne haben die höchste Stufe erreicht. Der vervollkommnete Sannyasin, der befreite Mensch, die Seele, die eins geworden ist mit dem Geist, kennt alles Sein als sich selbst, für ihn sind alle Selbst-Verteidigung und aller Angriff ohne Nutzen. Denn Wettstreit gehört nicht zum Gesetz seiner Vision; Opfer und Selbstgabe sind das Prinzip seines Handelns. Aber kein Volk hat dieses Niveau erreicht, und einem Gesetz oder Prinzip unfreiwillig oder unwissend zu folgen oder entgegen der Wahrheit des eigenen Bewußtseins, ist falsch und selbstzerstörerisch. Wenn man sich töten läßt wie das vom Wolf angegriffene Lamm, so bringt dies kein Wachstum, wird keine Entwicklung gefördert, kein spirituelles Verdienst sichergestellt. Einvernehmen oder Einheit mögen zur angemessenen Zeit kommen, aber es muß eine tiefere Einheit sein mit freier Differenzierung, nicht ein Verschlingen des einen durch den anderen oder eine unstimmige und unharmonische Mischung. Auch kann sie nicht kommen, bevor die Welt für diese größeren Dinge bereit ist. Die Waffen niederlegen im Kriegszustand heißt, Zerstörung einzuladen, und das kann keinem kompensierenden spirituellen Zweck dienen.

Das Spirituelle und das Weltliche müssen in der Tat vollkommen harmonisiert werden, denn der Geist wirkt durch das Mental und den Körper. Aber die rein intellektuelle oder vorwiegend materielle Kultur der Art, wie Europa sie jetzt bevorzugt, trägt in ihrem Herzen den Keim des Todes; denn das lebendige Ziel von Kultur ist die Verwirklichung des Himmelreiches auf Erden. Obwohl Indiens Drang auf das Ewige gerichtet ist, da dies stets das Höchste, das ganz und gar Wirkliche ist, bewahrt Indien in seiner eigenen Kultur und Philosophie noch eine höchste Aussöhnung des Ewigen mit dem Zeitlichen und braucht sie nicht außerhalb zu suchen. Auf der Grundlage desselben Prinzips ist die Form der wechselseitigen Abhängigkeit von Mental, Körper und Geist in gleicher Weise wichtig wie der reine Geist; denn die Form ist der Rhythmus des Geistes. Daraus folgt, daß ein Zerbrechen der Form bedeutet, den Selbstausdruck des Geistes zu schädigen oder ihn zumindest großer Gefahr auszusetzen. Ein Wechsel der Formen kann und wird erfolgen, aber die neue Formgebung muß ein neuer Selbstausdruck oder eine neue Selbstschöpfung sein, die von innen her entwickelt wird. Sie muß den Stempel des Geistes tragen und sollte nicht servil den Verkörperungen einer Fremdkultur entliehen sein.

Wo steht Indien nun wirklich in dieser kritischen Stunde der Not, und in wieweit kann man sagen, daß es noch fest verankert ist in seinen ewigen Fundamenten? Indien ist bereits weitgehend von europäischer Kultur in Mitleidenschaft gezogen, und die Gefahr ist längst nicht vorüber; vielmehr wird sie in der unmittelbaren Zukunft größer, beharrlicher, bedrängender und gewaltsamer sein. Asien erlebt seinen Neuaufstieg. Aber diese Tatsache selbst wird den Versuch intensivieren - und tut dies bereits -, der für das Gesetz des Wettbewerbs natürlich und legitim ist: den Versuch der europäischen Zivilisation, Asien zu assimilieren. Denn wenn Indien kulturell umgewandelt und bezwungen ist, dann wird dies, wenn das Land wieder in der materiellen Ordnung der Welt zählt, nicht verbunden sein mit einer drohenden Invasion Europas durch das asiatische Ideal. Es ist ein Kulturstreit, der noch weiter kompliziert wird durch eine politische Streitfrage. Asien muß kulturell zu einer Provinz Europas werden und politisch Teil einer europäisierten, wenn nicht europäischen Einheit sein; andernfalls konnte Europa kulturell zu einer Provinz Asiens werden, asiatisiert durch den dominierenden Einfluß wohlhabender, gewaltiger, mächtiger asiatischer Volker im neuen Weltsystem. Das Motiv von Archers Attacke ist frank und frei ein politisches Motiv. Der Refrain all seiner Rede ist, daß der Neuaufbau der Welt in den Formen einer rationalistischen und materialistischen europäischen Zivilisation geschehen müsse und deren Richtlinien zu folgen habe. Seinem Argument nach wird Indien, wenn es an seiner eigenen Zivilisation festhält, wenn es deren spirituelles Motiv hegt, wenn es bei ihrem spirituellen Grundprinzip bleibt, sich abheben von dieser hellen, leuchtenden, rationalistischen Welt als eine lebendige Weigerung, ein häßlicher "Makel". Entweder muß es sein ganzes Wesen europäisieren, rationalisieren, materialisieren und durch diesen Wandel Freiheit verdienen, oder aber es muß unterworfen bleiben und von seinen kulturellen Vorgesetzten verwaltet werden: sein Volk von 300 Millionen religiösen Wilden ist mit fester Hand niederzuhalten, zu unterweisen und zu zivilisieren von seinen edlen und erleuchteten, christlich-atheistischen europäischen Wächtern und Lehrmeistern. Eine groteske Aussage der Form nach, aber in der Substanz enthält sie den Kern der Sache. Was nun die Attacke betrifft - die nicht global ist, denn Verständnis und Würdigung der indischen Kultur sind jetzt mehr verbreitet als zuvor, so erwacht Indien und verteidigt sich gegen sie, aber nicht genug und nicht mit jener Beherztheit, klaren Schau und festen Entschlossenheit, die allein das Land aus der Gefahr befreien könnten. Heute ist diese nahe. Möge Indien seine Wahl treffen - denn die Wahl muß es jetzt treffen -, zu leben oder zugrundezugehen.

Man darf die Warnung nicht leicht nehmen; Äußerungen von europäischen Publizisten und Staatsmännern aus jüngerer Zeit sowie Bücher und Schriften, die gegen Indien gerichtet sind, und die Tatsache, daß sie von der Öffentlichkeit westlicher Länder mit Freude und Begeisterung aufgenommen wurden, weisen auf die Realität der Gefahr hin. In der Tat entspringt sie als Notwendigkeit der gegenwärtigen politischen Situation und dem kulturellen Trend der Menschheit in diesem Augenblick gewaltigen, entscheidenden Wandels. Wir brauchen dem Autor nicht in allen Ansichten zu folgen, die er in seinem Buch zum Ausdruck bringt. Ich selbst vermag nicht voll und ganz seiner Lobpreisung der mittelalterlichen Zivilisation Europas zu folgen. Dessen Interessen, die Schönheit seiner künstlerischen Motive, seine tiefen und aufrichtigen spirituellen Impulse sind für mich überschattet von seiner beträchtlichen Neigung zu Unwissenheit und Obskurantismus, seiner grausamen Unduldsamkeit, seiner abstoßenden früh-teutonischen Härte, Brutalität, Wildheit und Grobheit. Er scheint mir ein wenig zu hart mit der späteren europäischen Kultur umzugehen. Dieser überwiegend ökonomische Zivilisationstypus war häßlich genug mit seiner Tendenz zu utilitaristischem Materialismus, und wir würden einen großen Fehler begehen, wenn wir diesen nachahmten; und dennoch erhielt er einen Aufwärtstrend durch einige edlere Ideale, die viel für die Rasse getan haben. Aber selbst diese sind grob und unvollkommen in ihrer Form und müssen in ihrer Bedeutung spiritualisiert werden, bevor sie vom Mental Indiens ganz akzeptiert werden können. Ich denke auch, daß der Autor die Kraft der indischen Erneuerung ein wenig unterschätzt hat. Ich meine nicht ihre äußere aktuelle Kraft, denn diese ist sehr ungenügend, sondern die Unausweichlichkeit ihres Elans, ihrer spirituellen und potentiellen Kraft. Und er hat ein wenig zu viel gemacht aus dem Typ des servilen Inders, der dem überaus unterwürfigen Gedanken Ausdruck zu geben vermag, daß "europäische Institutionen der Standard sind, an dem sich Indiens Bestrebungen orientieren". Abgesehen von der schnell dahinschwindenden Klasse, der dieser Sprecher angehört, trifft dies jetzt nur in einem einzigen Bereich zu, dem politischen, - eine sehr wichtige Ausnahme, gewiß, und eine, die einer Gefahr von gewaltigem Ausmaß das Tor öffnet. Aber selbst hier deutet sich ein tiefer Geisteswandel an, obgleich er noch keine bestimmte Form angenommen hat und nun einer neuen Invasion von furiosem Europanismus entgegentreten muß, der von der militanten Grobheit des proletarischen Rußland inspiriert wird. Auch hier mißt er nicht dem wachsenden Vordringen indischen spirituellen Denkens in Europa und Amerika genügend Bedeutung bei, was Indiens bezeichnende Antwort auf die europäische Invasion ist. Von dieser Perspektive her bekommt die ganze Frage einen anderen Aspekt.

Sir John Woodroffe fordert uns zu einer entschlossenen Selbstverteidigung auf. Aber bloße Verteidigung kann im modernen Kampf nur in Niederlage enden, und wenn die Schlacht zu schlagen ist, so ist die einzig gesunde Strategie ein beherzter Angriff, der eine starke, lebendige und mobile Verteidigung als Grundlage hat; denn nur durch jene Aggressivkraft kann die Defensive selbst wirksam sein. Warum ist eine gewisse Klasse von Indern immer noch in allen Bereichen hypnotisiert von der europäischen Kultur, und warum sind wir alle immer noch hypnotisiert von ihr im Bereich der Politik? Weil man ständig alle Kraft, Schöpfung, Aktivität auf Seiten Europas sah und alle Unbeweglichkeit oder Schwäche einer statischen kraftlosen Verteidigung auf Seiten Indiens. Doch woimmer der indische Geist zu reagieren vermochte, mit Energie angreifen und mit glänzendem Erfolg schaffen konnte, begann der europäische Glanz sogleich seine hypnotische Kraft zu verlieren. Niemand empfindet jetzt das Gewicht des religiösen Angriffs von Europa, der zu Beginn sehr stark war, weil die schöpferischen Aktivitäten der Hindu-Erneuerung die indische Religion zu einer lebendigen und wachsenden, einer stabilen, triumphierenden und selbstsicheren Kraft gemacht haben. Das Siegel wurde diesem Werk durch zwei Ereignisse aufgeprägt, durch die theosophische Bewegung und den Auftritt Swami Vivekanandas in Chicago. Beides zeigte die spirituellen Gedanken, für die Indien steht, nicht mehr in der Defensive, sondern aggressiv eindringend in die materialisierte Mentalität des Okzidents. Ganz Indien war in seinen ästhetischen Vorstellungen vulgarisiert und anglisiert durch die englische Erziehung und den englischen Einfluß, bis die helle und plötzliche Morgenröte der bengalischen Kunstschule ihre Strahlen weit genug warf, um in Tokio, London und Paris gesehen zu werden. Dieses bedeutende kulturelle Ereignis hat bereits eine ästhetische Revolution im Lande herbeigeführt, bislang in keiner Weise vollständig, aber unwiderstehlich und der Zukunft gewiß. Dasselbe Phänomen gilt auch für andere Bereiche. Selbst im Bereich der Politik war dies der innere Sinn der Strategie der sogenannten Extremisten-Partei in der Swadeshi-Bewegung; denn es war eine Bewegung, die versuchte, die frühere scheinbare Unmöglichkeit politischer

Schöpfung durch den indischen Geist nach anderen als imitierten europäischen Mustern aufzuheben. Wenn diese Bewegung einstweilen fehlschlug - nicht aufgrund einer falschen Inspiration, sondern aufgrund feindlichen Drucks und der von einer vergangenen Dekadenz verbliebenen Schwäche -, wenn ihre anfänglichen Schöpfungen zerbrochen wurden oder dahinsiechten und ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt wurden, so wird sie doch als Wegweiser auf den Straßen bleiben. Der Versuch wird notwendigerweise erneuert werden, sobald ein weiteres Tor unter günstigeren Bedingungen geöffnet wird. Bis jener Versuch erfolgt und gelingt, bedroht eine ernste Gefahr die Seele Indiens; denn eine politische Europäisierung wurde eine gesellschaftliche Wende derselben Art nach sich ziehen und kulturellen und spirituellen Tod in ihrem Gefolge bringen. Der Angriff muß erfolgreich und schöpferisch sein, wenn die Verteidigung wirksam sein soll. Wir müssen dieser großen Frage ihre weitere, weltumspannende Bedeutung geben, wenn wir sie in ihren wahren Perspektiven betrachten wollen. Das Prinzip des Kampfes, Konflikts und Wettbewerbs beherrscht noch immer die internationalen Beziehungen und wird dies auch in Zukunft für einige Zeit tun; denn selbst wenn Krieg in der nahen Zukunft aufgrund eines bislang noch unwahrscheinlichen glücklichen Geschickes abgeschafft wird, wird der Konflikt andere Formen annehmen. Gleichzeitig ist eine gewisse wechselseitige Nähe des Lebens der Menschheit das augenfälligste Phänomen des Tages. Der (Erste) Weltkrieg hat dies in grober Weise verdeutlicht; indessen bringt die Nachkriegszeit all seine Konsequenzen und die Fülle seiner Schwierigkeiten heraus. Dies ist bislang noch nicht wirkliches Einvernehmen und noch weniger der Anfang wahrer Einheit sondern nur ein erzwungenes physisches Einssein, das uns durch die Erfindungen der Naturwissenschaft und moderne Lebensumstände aufgezwungen wird. Aber dieses physische Einssein muß notwendigerweise seine mentalen, kulturellen und psychologischen Ergebnisse zeitigen. Zunächst wird es wahrscheinlich Konflikte in mancher Richtung eher zuspitzen als entschärfen, politische und wirtschaftliche Kämpfe vielfacher Art wachsen lassen und auch einen Kulturkampf beschleunigen. In diesem Bereich mag es am Ende eine verschlingende Vereinigung und eine Zerstörung aller anderen Zivilisationen durch einen aggressiven europäischen Typus herbeiführen. Ob jener Typus eine Wirtschaftsbourgoisie oder ein Arbeiter-Materialismus sein wird oder ein rationalistischer Intellektualismus, läßt sich nicht leicht voraussagen, aber dies ist gegenwärtig in der einen oder anderen Form die vorherrschende Realität. Auf der anderen Seite könnte es zu einem freien Einvernehmen mit einem tieferen Einssein führen. Aber das Ideal einer vollständigen Sonderung der Völker, wobei jedes von ihnen seine streng separierte Kultur entwickelt mit einem Zulassungsverbot für andere führende Gedanken und Kulturformen von außerhalb, wird sich wahrscheinlich nicht behaupten, obgleich es eine Zeitlang verbreitet war und an Kraft gewann. Wenn dies geschehen sollte, so müßte das ganze Ziel der Vereinigung, das sich in der Natur vorbereitet, in Stücke zerfallen, eine unwahrscheinliche, obschon nicht völlig unmögliche Katastrophe. Europa dominiert die Welt, und es liegt auf der Hand, eine verwestlichte Welt vorauszusagen mit nur geringfügigen Unterschieden solcher Art, wie sie in einer europäischen Einheit zulässig wären, die sich der rigorosen wissenschaftlichen Aufgabe der Entwicklung und Organisation des materiellen Lebens widmet. Über diese Möglichkeit fällt der Schatten Indiens.

Sir John Woodroffe zitiert die Behauptung von Professor Lowes Dickinson, der Gegensatz bestehe nicht so sehr zwischen Asien und Europa, als vielmehr zwischen Indien und dem Rest der Welt. Diese Aussage hat etwas Wahres an sich; aber der kulturelle Gegensatz zwischen Europa und Asien bleibt ein nicht ausgeschalteter Faktor. Spiritualität ist nicht das Monopol Indiens; wie auch immer sie sich im Intellektualismus verbirgt oder hinter anderen verhüllenden Schleiern verborgen liegt, ist sie doch ein notwendiger Bestandteil der menschlichen Natur. Aber man muß unterscheiden zwischen einer Spiritualität, die zum Leitmotiv und zur bestimmenden Kraft sowohl des inneren als auch des äußeren Lebens gemacht wird, und einer Spiritualität, die unterdrückt ist, die nur unter Masken hervortreten darf oder als eine mindere Kraft hereingebracht wird, wobei ihre Herrschaft zugunsten des Intellekts oder eines dominierenden materialistischen Vitalismus zurückgewiesen oder hintangestellt wird. Erstere war der Typus der alten Weisheit, der zeitweilig in allen zivilisierten Ländern - wortwörtlich von China bis Peru - allgemein verbreitet war. Aber alle anderen Nationen haben sich von ihm entfernt und seine Vorherrschaft vermindert oder sich ganz von ihm entfernt wie in Europa. Oder sie befinden sich jetzt, wie in Asien, in Gefahr, ihn zugunsten des vordringenden ökonomischen, kommerziellen, industriellen, intellektuell-utilitaristischen modernen Typus aufzugeben. Indien allein blieb, mit welchem Absinken oder welcher Verminderung von Licht und Kraft auch immer, dem Herzen des spirituellen Motivs treu. Indien allein leistet immer noch hartnäckigen Widerstand; denn die Türkei, China und Japan, so sagen seine Kritiker, sind jener Narrheit entwachsen, was sagen will, sie sind zugleich rationalistisch und materialistisch geworden. Ganz gleich, was Einzelne oder eine kleine Gruppe der Bevölkerung getan haben mögen, allein Indien als eine Nation hat sich bis jetzt geweigert, seine angebetete Gottheit aufzugeben oder seine Knie zu beugen vor den starken herrschenden Idolen wie Rationalismus, Kommerzialismus und Ökonomismus, den erfolgreichen ehernen Göttern des Westens. In Mitleidenschaft gezogen wurde es, aber noch nicht bezwungen. Mehr als seine tiefere Intelligenz mußte sein oberflächliches Mental viele westliche Ideen hereinlassen - Freiheit, Gleichheit, Demokratie und andere - und sie mit seiner vedantischen Wahrheit aussöhnen. Aber Indien hat sich bei diesen Gedanken in der westlichen Form ganz und gar nicht wohlgefühlt, und so versucht es bereits in seinem Denken, ihnen eine indische Form zu geben, was unweigerlich eine Wendung zum Spirituellen bedeutet. Der erste Drang, englische Ideen und englische Kultur nachzuahmen, ist vorüber; aber ein neuer und gefährlicherer hat ihn jüngst abgelöst, der Drang, kontinental-europäische Kultur im allgemeinen und die grobe und heftige Wendung des revolutionären Rußland insbesondere nachzuahmen. Auf der anderen Seite bemerkt man eine deutlich zunehmende Erneuerung der alten Hindu-Religion und die ungeheure Tragweite eines spirituellen Erwachens und seiner bedeutsamen Bewegungen. Diese zwiespältige Situation kann nur zu einem von zwei Resultaten führen. Entweder wird Indien bis zur Unkenntlichkeit rationalisiert und industrialisiert, und es wird dann nicht mehr Indien sein, oder aber es wird zum Führer in einer neuen Weltphase, durch sein Beispiel und seine kulturelle Infiltration die neuen Tendenzen des Westens fördern und die menschliche Rasse spiritualisieren. Das ist die eine radikale und brennende Frage, um die es geht: Wird das spirituelle Motiv, das Indien repräsentiert, sich in Europa durchsetzen und dort neue Formen schaffen, die dem Westen angemessen sind, oder wird europäischer Rationalismus und Kommerzialismus für immer dem indischen Kulturtypus ein Ende setzen?

Die Frage, die wir also stellen sollten, lautet nicht: Ist Indien zivilisiert? Sie lautet: Soll jenes Motiv, das seine Zivilisation herangebildet hat, oder aber das alt-europäische intellektuelle bzw. das neu-europäische materialistische Motiv die menschliche Kultur leiten? Soll die Harmonie des Geistes, des Mentals und des Körpers sich auf dem groben Gesetz unserer physischen Natur gründen, nur rationalisiert oder höchstens berührt von einem wirkungslosen spirituellen Schimmer, oder soll die dominierende Kraft des Geistes die Führung übernehmen und die geringeren Kräfte von Intellekt, Mental und Körper zu einer größeren Bemühung um höchste Harmonie, ein siegreiches, sich stets entwickelndes Gleichgewicht zwingen? Indien muß sich verteidigen, indem es seine kulturellen Formen neugestaltet, um mit größerer Kraft, Tiefe und Vollkommenheit sein altes Ideal zum Ausdruck zu bringen. Sein Vorstoß muß die so befreiten Lichtwellen in prächtigen konzentrischen Kreisen über die ganze Welt ausbreiten, die es einst, in fernen Zeitaltern, besaß oder zumindest erleuchtete. Der Eindruck eines Konflikts muß eine Weile geduldet werden, solange der Angriff einer entgegengerichteten Kultur fortdauert. Aber da dies tatsächlich mithelfen wird, zu all dem Besten hinzuführen, das das fortgeschrittene Denken des Okzidents hervorbringt, wird es im Beginn eines Einvernehmens auf höherer Ebene und einer Vorbereitung auf Einheit gipfeln.

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Sobald die Frage nach der indischen Zivilisation jene größere Streitfrage eröffnet hat, verliert sie ihre enge Bedeutung und geht in einem sehr viel weiteren Problem unter: Liegt die Zukunft der Menschheit in einer Kultur, die sich allein auf Verstand und Wissenschaft gründet? Ist der Fortschritt des menschlichen Lebens die Bestrebung eines Mentals, eines kontinuierlichen Kollektivverstandes - zusammengesetzt aus einer sich ständig wandelnden Summe vergänglicher Einzelner -, der aus der Dunkelheit des unbewußten materiellen Universums hervortrat und in ihm herumstolpert auf der Suche nach klarem Licht und einem sicheren Halt inmitten seiner Schwierigkeiten und Probleme? Und besteht Zivilisation in der Bemühung des Menschen, jenes Licht und jenen Halt in einem rationalisierten Wissen und einer rationalisierten Lebensweise zu finden? Eine systematische Erkenntnis der Mächte, Kräfte, Möglichkeiten der physischen Natur und der Psychologie des Menschen als eines mentalen und physischen Wesens ist dann die einzige wahre Wissenschaft. Eine systematische Anwendung jenes Wissens zum Zwecke progressiv-gesellschaftlicher Effektivität und Wohlfahrt, was sein kurzes Dasein wirksamer, erträglicher, komfortabler, glücklicher, besser eingerichtet und reicher ausgestattet sein läßt mit den Freuden von Mental, Leben und Körper, ist dann die einzig wahre Lebenskunst. All unsere Philosophie, all unsere Religion - wenn wir davon ausgehen, daß Religion noch nicht überwunden und zurückgewiesen wurde - all unsere Wissenschaft, unser Denken, unsere Kunst, unsere gesellschaftliche Struktur, unsere Gesetze und Institutionen müssen sich auf dieses Daseinskonzept gründen und diesem einen Ziel und Streben dienen. Das ist die Formel, die die europäische Zivilisation akzeptiert hat und um deren Verwirklichung in der einen oder anderen Form sie noch ringt. Es ist die Formel einer klug mechanisierten Zivilisation als Grundlage einer rationalen und utilitaristischen Kultur.

Ist nicht die Wahrheit unseres Wesens vielmehr diejenige einer in der Natur verkörperten Seele, die sich selbst zu erkennen, sich selbst zu finden, ihr Bewußtsein zu erweitern, zu einer größeren Daseinsweise zu gelangen sucht, sich im Geiste weiter zu entwickeln und in das volle Licht der Selbsterkenntnis und eine göttliche innere Vollkommenheit hineinzuwachsen strebt? Sind nicht Religion, Philosophie, Wissenschaft, Denken, Kunst, Gesellschaft, ja alles Leben eben Mittel nur zu diesem Wachstum, Werkzeuge des Geistes, die zu seinem Dienst zu gebrauchen sind, versehen mit diesem spirituellen Ziel als ihrer hauptsächlichen oder zumindest letztlichen Tätigkeit? Dies ist die Vorstellung von Leben und Sein - das Wissen von ihm, wie geltend gemacht wird -, für die Indien bis gestern stand und noch weiter zu stehen strebt mit all jenem, was am beständigsten und kraftvollsten in seiner Natur ist. Es ist die Formel einer spiritualisierten Zivilisation, die durch Vervollkommnung, aber auch durch Überschreiten von Mental, Leben und Körper zu einer hohen Seelen-Kultur strebt.

Ob die zukünftige Hoffnung der Rasse in einer rationalen und einer klug mechanisierten oder in einer spirituellen, intuitiven und religiösen Zivilisation und Kultur liegt, - das ist dann die entscheidende Frage. Wenn der rationalistische Kritiker bestreitet, daß Indien zivilisiert ist oder je zivilisiert war, wenn er die Upanischaden, den Vedanta, Buddhismus, Hinduismus, alte indische Kunst und Dichtung zu einer Masse von Unkultur erklärt, zur nichtigen Produktion eines beharrlich barbarischen Mentals, so meint er damit schlicht, daß Zivilisation synonym und identisch sei mit dem Kult und der Praxis des materialistischen Verstandes und daß alles, was unter oder über diesem Standard liegt, nicht diesen Namen verdient. Eine zu metaphysische Philosophie, eine zu religiöse Religion - wenn nicht überhaupt alle Philosophie und alle Religion - alles zu idealistische und alles mystische Denken, alle mystische Kunst und jede Art von okkultem Wissen, alles, was verfeinert und in seinem Forschen hinausgeht über den begrenzten Horizont des Verstandes, der sich mit dem physischen Universum beschäftigt und ihm daher bizarr, übermäßig verfeinert, übertrieben, unbegreifbar erscheint, alles, was auf den Sinn des Unendlichen antwortet, alles, was eingenommen ist vom Gedanken des Ewigen - und eine Gesellschaft, die zu sehr von Gedanken beherrscht wird, die diesen Dingen entspringen, und nicht allein von intellektueller Klarheit und dem Streben nach materieller Entwicklung und Effizienz, seien nicht die Produkte von Zivilisation, sondern der Sproß einer subtilen Barbarei. Aber diese These beweist offenbar zu viel: Der überwiegende Teil der großen Vergangenheit der Menschheit würde unter ihr Verdikt fallen. Selbst die alte griechische Kultur würde ihm nicht entrinnen. Ein großer Teil des Denkens und der Kunst der modernen europäischen Zivilisation selbst wäre in jenem Fall als zumindest halbbarbarisch zu verdammen. Ganz offenbar können wir nicht, ohne der Übertreibung oder dem Widersinn anheimzufallen, den Sinn des Wortes einengen und die Bedeutung des vergangenen Strebens der Rasse ihres Inhaltes berauben. Die indische Zivilisation in der Vergangenheit war und ist anzuerkennen als die Frucht einer großen Kultur, nicht weniger als die griechisch-römische, die christliche, die islamische oder die spätere Renaissance-Zivilisation Europas.

Aber die Grundfrage bleibt offen; der Disput ist nur auf seine Kernfrage eingegrenzt. Ein gemäßigterer und scharfsinnigerer rationalistischer Kritiker würde den Wert der vergangenen Errungenschaften Indiens eingestehen. Er würde nicht Buddhismus und Vedanta und alle indische Kunst, Philosophie und gesellschaftliche Konzepte als barbarisch verdammen, aber er wurde immer noch geltend machen, daß dort für die menschliche Rasse keine heilsame Zukunft liegt. Der wahre Fortschritt erfolge über den Weg des europäischen Modernismus, die mächtigen Werke der Naturwissenschaft und das große moderne Abenteuer der Menschheit, deren Bestrebungen ihr gutes Fundament nicht in Spekulation und Imagination haben, sondern in überprüfter und greifbarer wissenschaftlicher Wahrheit, ihren mühsam vermehrten Schätzen sicherer und fest erprobter wissenschaftlicher Organisation. Ein indisches Mental, das seinen Idealen treu ist, wurde dagegen behaupten, Verstand und Wissenschaft und andere Hilfsmittel hätten zwar ihren Platz im menschlichen Streben, aber die wirkliche Wahrheit gehe über sie hinaus. Das Geheimnis unserer letzten Vollkommenheit ist tiefer in uns, in den Dingen und in der Natur zu entdecken; es ist zentral zu suchen in spiritueller Selbsterkenntnis und Vollkommenheit und in der Begründung des Lebens auf jener Selbsterkenntnis.

Wenn die Sache so formuliert wird, können wir sogleich sehen, daß die Kluft zwischen Ost und West, Indien und Europa jetzt sehr viel weniger tief und unüberbrückbar ist als vor dreißig oder vierzig Jahren. Der grundlegende Unterschied bleibt weiter bestehen; das Leben des Westens ist immer noch hauptsächlich beherrscht von dem rationalistischen Gedanken und einem Hauptinteresse am Materiellen. Aber auf den Gipfeln des Denkens und immer weiter nach unten hin vordringend durch Kunst, Dichtung, Musik und allgemeine Literatur erfolgt ein gewaltiger Wandel. Ein Ausgreifen nach tieferen Dingen, eine verstärkte Rückkehr zu Forschungsinteressen, die verbannt worden waren, ein Drang nach höherer, noch unverwirklichter Erfahrung, eine Zulassung von Gedanken und Vorstellungen, die der westlichen Mentalität lange fremd waren, können überall beobachtet werden. Diesen Prozeß unterstützte, wie es von ihm unterstützt wurde, ein gewisses Eindringen indischen und östlichen Denkens und Einflusses. Hier und da finden wir sogar eine wachsende Anerkennung des hohen Wertes oder der überlegenen Größe des alten spirituellen Ideals.

Dieses Einsickern begann in einem sehr frühen Stadium des engen Kontaktes zwischen dem fernen Osten und Europa, deren unmittelbarer Anlaß die englische Besetzung Indiens war. Aber zunächst war es ein geringer und oberflächlicher Kontakt, im besten Falle ein intellektueller Einfluß auf einige höher entwickelte Denker. Akademisches Interesse oder engagierte Hinwendung von Gelehrten und Denkern zu Vedanta, Sankhya, Buddhismus, die Bewunderung für die Feinsinnigkeit und Weite des indischen philosophischen Idealismus, der nachhaltige Einfluß der Upanischaden und der Gita auf große Geister wie Schopenhauer und Emerson und einige geringere Denker, dies war der erste enge Einlaß für die Fluten. Der Eindruck war im besten Falle nicht sehr tief, und der kleine Effekt, den er gehabt haben mag, wurde unwirksam gemacht, eine Zeitlang sogar aufgehoben durch den großen Strom des wissenschaftlichen Materialismus, der die ganze Lebensanschauung des späten 19. Jahrhunderts überflutete.

Aber jetzt sind andere Bewegungen aufgetaucht und haben sich mit triumphalem Erfolg des Denkens und Lebens bemächtigt. Philosophie und Denken haben sich in einer scharfen Biegung vom rationalistischen Materialismus und seinen selbstsicheren Absolutismen entfernt. Auf der anderen Seite hat der indische Monismus, als erste Konsequenz der Suche nach einem geweiteten Denken und einer weiteren Schau des Universums in subtiler, aber kraftvoller Weise viele Menschen unter seinen Einfluß gebracht, wenn auch oft in seltsamen Verkleidungen. Auf der anderen Seite entstanden neue Philosophien, die zwar nicht unmittelbar spirituell, eher vitalistisch und pragmatisch sind, doch aufgrund ihrer größeren Subjektivität bereits indischen Denkweisen näherstehen. Die alten Grenzen wissenschaftlichen Interesses begannen einzubrechen. Verschiedene Formen psychischer Forschung, neue Ansätze in der Psychologie und sogar ein Interesse an Psychismus und Okkultismus sind zunehmend in Mode gekommen und setzen sich trotz der Bannsprüche orthodoxer Religion und Wissenschaft mehr und mehr durch. Die Theosophie mit ihren umfassenden Kombinationen von alten und neuen Glaubenssätzen und ihrer Hinwendung zu alten spirituellen und psychischen Systemen hat überall Einfluß ausgeübt, der weit über den Kreis ihrer erklärten Anhänger hinausgeht. Nachdem sie lange Zeit mit Verleumdung und Spott bekämpft wurde, hat sie viel dazu beigetragen, den Glauben an Karma, Reinkarnation, andere Seinsebenen, an die Evolution der verkörperten Seele durch Intellekt und Psyche zum Geist zu verbreiten - Gedanken, die die ganze Lebenseinstellung verändern müssen, wenn sie einmal akzeptiert sind. Selbst die Naturwissenschaft gelangt ständig zu Schlußfolgerungen, die bloß auf der physischen Ebene und in ihrer Sprache Wahrheiten wiederholen, die das alte Indien bereits vom Standpunkt spiritueller Erkenntnis aus in der Sprache von Veda und Vedanta ausgesprochen hatte. Jeder dieser Ansätze führt direkt oder in seiner wesentlichen Bedeutung zu einer größeren Annäherung zwischen dem Geist von Ost und West und in jenem Ausmaß zu einer Wahrscheinlichkeit besseren Verstehens indischen Denkens und indischer Ideale.

In einigen Richtungen ist der Einstellungswandel bemerkenswert weit fortgeschritten und scheint ständig zuzunehmen. Sir John Woodroffe zitiert einen christlichen Missionar, der "mit Verwunderung das Ausmaß sieht, in dem der Hindu-Pantheismus begonnen hat, die religiösen Vorstellungen von Deutschland, Amerika, ja selbst England zu durchdringen", und er betrachtet den Sammeleffekt als drohende "Gefahr" für die nächste Generation. Ein anderer Autor, den er zitiert, geht so weit, daß er alles höchste philosophische Denken Europas dem früheren Denken der Brahmanen zuschreibt und sogar erklärt, man würde alle modernen Lösungen zu intellektuellen Problemen im Osten vorweggenommen finden. Ein angesehener französischer Psychologe sagte jüngst einem indischen Besucher, Indien habe bereits alle Grundlinien und Hauptwahrheiten, den weiten Grundplan einer echten Psychologie ausgearbeitet, und das einzige, was Europa nun tun könne, sei, sie mit genauen Details und wissenschaftlichen Belegen zu füllen. Diese Äußerungen sind die extremen Kennzeichen eines wachsenden Wandels, dessen Trend unverkennbar ist.

Auch ist diese Wendung nicht bloß in Philosophie und höherem Denken sichtbar. Die europäische Kunst hat sich in gewissen Richtungen weit von ihren alten Vertäuungen entfernt; sie entwickelt ein neues Auge und öffnet sich in ihrer eigenen Weise Motiven, die bislang nur im Osten geschätzt wurden. Östliche Kunst und Dekoration haben in letzter Zeit weitgehend Anerkennung gefunden, sie haben einen starken, wenngleich subtilen Einfluß ausgeübt. Die Dichtung hat seit einiger Zeit begonnen, unsicher eine neue Sprache zu sprechen - man beachte, daß der weltweite Ruhm Tagores vor dreißig Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Oft findet man die Verse selbst gewöhnlicher Autoren voller Gedanken und Ausdrücke, die früher wenige Parallelen außerhalb indischer, buddhistischer und Sufi-Dichter gefunden haben könnten. Und es gibt einige erste Anzeichen eines ähnlichen Phänomens in der allgemeinen Literatur. Immer mehr finden die Sucher neuer Wahrheit ihre spirituelle Heimat in Indien und schulden ihm in großem Maße Anregung oder erkennen zumindest sein Licht an und setzen sich seinem Einfluß aus. Wenn diese Entwicklung weiter an Boden gewinnt - und die Möglichkeit rückläufiger Bewegung ist gering, so wird die spirituelle und intellektuelle Kluft zwischen Ost und West, wenn nicht aufgefüllt, so doch zumindest überbrückt werden, und die Verteidigung indischer Kultur und Ideale wird eine stärkere Position gewinnen.

Man könnte einwenden: Wenn es diese Gewißheit eines annähernden Verstehens gibt, welche Notwendigkeit besteht dann für eine aggressive Verteidigung der indischen Kultur, oder überhaupt für Verteidigung? Welche Notwendigkeit besteht dann für die Fortsetzung einer gesonderten indischen Zivilisation in der Zukunft? Ost und West werden sich von zwei entgegengesetzten Seiten treffen, ineinander aufgehen und eine gemeinsame Weltkultur im Leben einer vereinigten Menschheit begründen. Alle früheren oder bestehenden Formen, Systeme, Variationen werden in diesem neuen Amalgam verschmelzen und ihre Erfüllung finden. Aber das Problem ist nicht so einfach, nicht so glatt lösbar. Denn selbst wenn wir davon ausgehen könnten, daß in einer vereinten Weltkultur keine spirituelle Notwendigkeit und kein vitales Interesse für besonders ausgearbeitete Variationen bestehen, sind wir doch noch weit entfernt von einer solchen Einheit. Die subjektive und spirituelle Tendenz des fortgeschritteneren modernen Denkens ist noch auf eine Minderheit beschränkt und hat nur sehr oberflächlich auf die allgemeine Intelligenz Europas abgefärbt. Zudem ist es nur eine Bewegung des Denkens; die großen Lebensmotive der europäischen Zivilisation befinden sich noch am selben Punkt. Es existiert ein stärkerer Druck gewisser idealistischer Elemente bei der beabsichtigten Neugestaltung menschlicher Beziehungen, aber sie haben das Joch der unmittelbaren materialistischen Vergangenheit noch nicht abgeschüttelt, nicht einmal gelockert. Exakt in diesem kritischen Augenblick und unter diesen Bedingungen geschieht es, daß die gesamte Erdbevölkerung, Indien eingeschlossen, sich an einem Punkt befindet, wo sie in die Spannung und in die Wehen einer schnellen Umwandlung hineingezwungen wird. Es besteht die Gefahr, daß der Druck dominierender europäischer Gedanken und Motive, die Versuchungen der politischen Notwendigkeiten der Stunde und die Geschwindigkeit des rapiden unumgänglichen Wandels keine Zeit lassen werden für die Entwicklung gesunden Denkens und spiritueller Reflexion und daß sie das alte indische kulturelle und gesellschaftliche System bis zum Zerreißen überspannen werden und diese historische Zivilisation zerstören, bevor Indien die Zeit gehabt hat, seinen mentalen Standort und Ausblick wieder in Ordnung zu bringen und jene Formen zurückzuweisen, umzubilden oder zu ersetzen, die den Anforderungen der es umgebenden nationalen Notwendigkeiten nicht mehr gerecht werden, neue eigentümliche Kräfte und Formen zu bilden, und eine feste Grundlage zu finden für eine schnelle Evolution im Sinne seines eigenen Geistes und seiner eigenen Ideale. In diesem Falle könnte ein rationalisiertes und verwestlichtes Indien, ein brauner Affe Europas, aus dem Chaos erstehen, ein Indien, das nur einige Elemente seines alten Denkens behält, um seine Gesamtexistenz zu modifizieren, aber nicht mehr zu formen und zu lenken. Wie andere Länder würde Indien dann die Form des westlichen Modernismus angenommen haben; das alte Indien wäre untergegangen.

Gewisse Leute würden in dieser Eventualität kein großes Unglück, vielmehr eine höchst wünschenswerte Wende und ein freudiges Ereignis sehen. Es würde ihrer Ansicht nach bedeuten, daß Indien seine spirituelle Sonderrolle aufgegeben und den dringend benötigten intellektuellen und moralischen Wandel durchgemacht hätte, der es zumindest berechtigen würde, der Gemeinschaft der modernen Nationen beizutreten und deren Achtung zu finden. Und da ein zunehmend spirituelles und subjektives Element in die neue Völkergemeinschaft und deren wechselseitige Beziehungen eingebracht werden und vielleicht ein großer Teil von Indiens eigenem religiösen und philosophischen Denken von deren Kultur angeeignet würde, brauchte das Verschwinden seines alten Geistes und persönlichen Selbstausdrucks keinen absoluten Verlust zu bedeuten. Das alte Indien wäre dahingegangen wie das alte Griechenland und würde seinen Beitrag zu einem neuen und weiteren progressiven Leben der Menschheit hinterlassen. Aber die Aufnahme der griechisch-römischen Kultur durch die spätere europäische Welt war doch mit erheblichen Minderungen verbunden, obgleich viele ihrer Elemente noch in einer größeren und komplexeren Zivilisation überleben. Es kam zu einem erheblichen Verlust ihrer hohen und klaren intellektuellen Ordnung zu dem noch verhängnisvolleren Aussterben des alten Schönheitskultes, und selbst jetzt, nach so vielen Jahrhunderten, erfolgte keine wahre Neubelebung des verlorengegangenen Geistes. Ein noch größerer Verlust an den Schätzen der Welt würde aus dem Verschwinden einer ausgeprägt indischen Zivilisation resultieren, weil der Unterschied zwischen ihrem Standpunkt und dem des europäischen Modernismus tiefer, ihr Geist einzigartig und die Fülle und Vielfalt ihrer tausend Grundlinien innerer Erfahrung ein Erbe ist, das in seiner tiefen Wahrheit und dynamischen Ordnung noch immer allein Indien bewahren kann.

Die Tendenz des normalen westlichen Mentals geht dahin, von unten nach oben und von außen nach innen zu leben. Man schafft sich eine starke Grundlage in der vitalen und materiellen Natur, und höhere Kräfte werden nur angerufen und zugelassen, um das natürliche irdische Leben abzuwandeln und teilweise zu erhöhen. Das innere Leben wird geformt und regiert von den äußeren Kräften. Indiens ständiges Bestreben war es dagegen, eine Lebensgrundlage in der höheren spirituellen Wahrheit zu finden und vom inneren Geist her nach außen zu leben, den gegenwärtigen Modus von Mental, Leben und Körper zu überwinden, die äußere Natur völlig unter Kontrolle zu bringen. Wie die alten vedischen Seher sagten: "Ihre göttliche Grundlage war oben, selbst während sie unten standen, mögen ihre Strahlen tief in uns Wurzel fassen." Dieser Unterschied nun ist nicht eine unbedeutende Feinheit, sondern von großer und tiefgreifender praktischer Konsequenz. Und wie Europa mit jeglichem spirituellen Einfluß umgehen würde, können wir an der Art sehen, in der es mit dem Christentum und seiner inneren Regel umging, die es nie wirklich als sein Lebensgesetz akzeptierte: Es wurde zugelassen, aber nur als ein idealer und emotionaler Einfluß, und nur dafür gebraucht, um die vitale Aktivität des Teutonen und die intellektuelle Klarheit und sinnliche Feinheit der Romanen zu mäßigen und ein wenig spirituell zu färben. Jede neue spirituelle Entwicklung, die Europa akzeptierte, würde in eben derselben Weise aufgenommen und für einen ähnlich begrenzten und oberflächlichen Zweck gebraucht werden, falls es nicht eine standhafte lebendige Kultur in dieser Welt gäbe, um dieses geringere Ideal herauszufordern und auf dem wahren Leben des Geistes zu beharren. Es mag wohl stimmen, daß beide Tendenzen, die mentale, vitale und physische Konzentration Europas und der spirituelle und psychische Impuls Indiens, zur Vollständigkeit des menschlichen Lebens benötigt werden. Aber wenn das spirituelle Ideal den endgültigen Weg zu einer triumphalen Harmonie manifestierten Lebens weist, dann ist es für Indien von entscheidender Bedeutung, daß es die Wahrheit nicht aus dem Griff verliert, nicht das Höchste aufgibt, das es kennt, und es nicht verschachert für ein vielleicht mehr unmittelbar praktikables, aber doch niederes Ideal, das seiner wahren und bleibenden Art fremd ist. Es ist ebenso wichtig für die Menschheit, daß eine große Kollektivanstrengung zur Verwirklichung dieses höchsten Ideals - ganz gleich, wie unvollkommen sie auch gewesen sein mag, in welche Konfusion und Degeneration sie zeitweilig gesunken sein mag - nicht zum Stillstand kommt, sondern fortdauert. Sie kann immer ihre Kraft zurückgewinnen und ihre Ausdruckgebung erweitern; denn der Geist ist nicht an zeitliche Formen gebunden, sondern ewig-neu, unsterblich und unendlich. Eine neue Schöpfung des alten indischen svardharma, nicht eine Umwandlung in ein Gesetz der westlichen Natur, ist unser bester Weg, um die Summe menschlichen Fortschritts zu fördern und zu vermehren.

So entsteht die Notwendigkeit einer Verteidigung, und es sollte eine starke, ja aggressive Verteidigung sein; denn nur eine aggressive Verteidigung kann unter den Bedingungen des modernen Kampfes wirksam sein. Aber hier sehen wir uns einer entgegengesetzten geistigen Einstellung und ihrem starren, hemmenden Temperament konfrontiert. Denn es gibt jetzt eine ganze Reihe von Indern, die für eine hartnäckig statische Verteidigung sind, und alle Aggressivität, die sie in diese hineinlegen, besteht in einem recht vulgären und gedankenlosen Kultur-Chauvinismus, der die Ansicht vertritt, daß alles, was wir haben, gut für uns sei, weil es indisch ist, oder sogar, daß alles, was in Indien ist, am besten sei, weil es die Schöpfung der Rishis ist. Als ob all die späteren schwerfälligen und chaotischen Entwicklungen von jenen viel mißbrauchten, oft fehlinterpretierten und stark gefälschten Gründern unserer Kultur eingeleitet worden wären! Aber es ist fraglich, ob eine statische Verteidigung irgendeinen effektiven Wert hat. Ich meine, sie hat keinen Wert, weil sie sich nicht mit der Wahrheit der Dinge im Einklang befindet und zum Fehlschlag verurteilt ist. Sie läuft auf den Versuch hinaus, stur still zu sitzen, während die Shakti der Welt auf ihrem Weg voraneilt - nicht nur die Shakti der Welt, sondern auch die Shakti in Indien. Es handelt sich um die Entschlossenheit, nur von unserem vergangenen kulturellen Kapital zu leben, es bis zum letzten Heller zu strecken, während es in unseren verschwenderischen und inkompetenten Händen ohnehin schon genug geschrumpft ist; aber von unserem Kapital leben, ohne es für neuen frischen Gewinn zu investieren, hieße, in Armut und Bankrott zu enden. Die Vergangenheit ist zu nutzen und auszugeben als bewegliches Umlauf-Kapital für einen größeren Profit, für Neuerwerb und Entwicklung der Zukunft. Aber um zu gewinnen, müssen wir freigeben, müssen wir hergeben, um uns vollständiger zu entwickeln und reichhaltiger zu leben, - das ist das universale Daseinsgesetz. Andernfalls wird das Leben in uns stagnieren und an seiner Starrheit zugrunde gehen. In solcher Weise vor Erweiterung und Wandel zurückzuschrecken, ist ebenfalls ein falsches Bekenntnis aus Unvermögen. Es hieße zu glauben, daß Indiens schöpferische Potenz in Religion und Philosophie mit Shankara, Ramanuja, Madhwa und Chaitanya und im gesellschaftlichen Aufbau mit Raghunandan und Vidyaranya zu Ende ging. Es hieße, in der Kunst und Dichtung bei einer unschöpferischen Leere oder einer sinnlosen und lebenslosen Wiederholung schöner, aber abgegriffener Formen und Motive stehen zu bleiben. Es hieße, an gesellschaftlichen Formen festzuhalten, die zerbröckeln und trotz unserer Anstrengungen weiter zerbröckeln werden und dem Risiko ausgesetzt sind, bei ihrem Zusammenbruch zermalmt zu werden.

Der Einwand gegen jeden großen Wandel - denn ein großer und mutiger Wandel ist erforderlich, Kleinkrämerei wird unserem Zweck nicht dienen - kann nur dann plausibel gemacht werden, wenn er auf der These beruht, daß die Formen einer Kultur der rechte Rhythmus ihres Geistes seien und daß wir, wenn wir den Rhythmus unterbrechen, dabei den Geist vertreiben und die Harmonie für immer auflösen könnten. Gewiß, aber obgleich der Geist ewig in seiner Essenz ist und unwandelbar in den Grundprinzipien seiner Harmonie, ist der tatsächliche Rhythmus seiner Selbstausdruckgebung in der Form immer wandelbar. Unwandelbar in seinem Wesen und in den Kräften seines Wesens, aber reichlich wandelbar im Leben, - dies ist exakt die Natur des manifestierten Daseins des Geistes. Und wir müssen auch in Betracht ziehen, ob der tatsächliche Rhythmus des Augenblicks noch eine Harmonie ist, ob er nicht in den Händen eines mäßigen und unwissenden Orchesters zu einem Mißklang geworden ist und den alten Geist nicht mehr zutreffend oder hinlänglich ausdrückt. Mängel in der Form anerkennen heißt nicht, den inhärenten Geist zu leugnen; es ist vielmehr die Grundbedingung, um weiter voranzuschreiten zu einer größeren zukünftigen Weite, einer vollkommeneren Verwirklichung, einem glücklicheren Ausströmen der Wahrheit, die wir in uns haben. Ob wir tatsächlich eine größere Ausdruckgebung finden werden, als sie uns die Vergangenheit gab, hängt von uns selbst ab, von unserer Fähigkeit, auf die ewige Kraft und Weisheit und die Erleuchtung der Shakti in uns anzusprechen, und von unserem Geschick in Werken, jenem Geschick, das durch Einheit mit dem ewigen Geist kommt, den wir im Maße unseres Lichts auszudrücken versuchen: yogah karmasu kausalam.

Dies ist vom Standpunkt der indischen Kultur aus gesagt, und das muß für uns stets der erste Gesichtspunkt und wesentliche Standpunkt sein. Aber es gibt auch den Standpunkt vom Druck des Zeitgeistes auf uns. Denn auch dies ist das Wirken der universalen Shakti und kann nicht ignoriert, auf Distanz gehalten oder am Eintritt gehindert werden. Auch hier drängt sich der Grundsatz neuer Schöpfung als der wahre und einzig wirksame Weg auf. Selbst wenn es wünschenswert wäre, still und steif zu stehen in unseren wohlgeschützten Toren, so ist es nicht mehr möglich. Wir können uns nicht länger von der übrigen Menschheit gesondert halten, isoliert wie eine einsame Insel im weiten Ozean, indem wir weder selbst voranschreiten noch andere hereinlassen, - sofern wir überhaupt je einen solchen Status hatten. Zum Guten oder zum Bösen ist die Welt mit uns; die Flut moderner Gedanken und Kräfte strömt herein und wird keine Leugnung erlauben. Es gibt zwei Wege, ihnen entgegenzutreten: entweder einen hilflosen und hoffnungslosen Widerstand zu leisten oder sie aufzugreifen und in den Griff zu bringen. Wenn wir nur einen trägen oder hartnäckigen passiven Widerstand bieten, werden sie uns dennoch heimsuchen, unsere Verteidigung dort niederbrechen, wo sie am schwächsten ist, sie entkräften, wo sie massiver ist, und wo nichts von beidem getan werden kann, sich unerkannt und kaum durchschaut von unten durch Gänge und Tunnel einschleichen. Indem sie unangepaßt eintreten, werden sie als zersetzende Kräfte wirken, und es wird nur teilweise durch äußeren Angriff, viel mehr noch durch innere Explosion geschehen, daß diese alte indische Zivilisation in Stücke zerbricht. Unheilverkündende Funken beginnen bereits aufzusprühen, und keiner weiß, wie man sie löscht. Und selbst wenn wir sie löschen könnten, erginge es uns darum nicht besser, denn wir mußten noch mit der Quelle fertig werden, von der sie herrühren. Selbst die hartnäckigsten Verteidiger der Gegenwart im Namen der Vergangenheit zeigen in all ihren Worten, wie sehr sie von neuen Denkweisen berührt wurden. Viele, wenn nicht die meisten, rufen leidenschaftlich, rufen unausweichlich nach Neuerungen in gewissen Bereichen, nach Wandlungen, die europäisch in Geist und Methode sind und die, wenn sie einmal ohne radikale Assimilation und Indisierung zugelassen sind, am Ende die ganze Sozialstruktur zerbrechen werden, die sie zu verteidigen meinen. Dies entspringt einer gedanklichen Verwirrung und einem Unvermögen der Kraft. Weil wir nicht in der Lage sind, in gewissen Bereichen zu denken und zu schaffen, sind wir gezwungen, ohne Assimilation oder mit einem nur illusorischen Vorwand der Assimilation zu borgen. Weil wir nicht den vollständigen Sinn dessen, was wir tun, von einer hohen inneren, beherrschenden Warte überschauen können, sind wir damit beschäftigt, unvereinbare Dinge ohne jede heilsame Aussöhnung zusammenzubringen. Es ist wahrscheinlich, daß unsere Bemühungen in einem langsamen Verbrennungsvorgang und schneller Explosion enden werden.

Aggressive Verteidigung impliziert eine neue Schöpfung von dieser inneren und beherrschenden Warte aus, und während sie erfordert, daß jenes, was wir haben, zu einer ausdrucksvolleren Formkraft gebracht wird, muß sie auch eine wirksame Assimilation dessen zulassen, was für unser neues Leben nützlich ist und mit unserem Geist in Harmonie gebracht werden kann. Schlacht, Schock und Kampf sind für sich selbst nicht sinnlose Zerstörung; sie sind ein gewalttätiger Deckmantel für die großen Austausche der Zeit. Selbst der erfolgreichste Sieger empfängt viel vom Besiegten, und wenn er sich dieses manchmal auch aneignet, so nimmt es ihn ebenso oft auch gefangen. Der westliche Angriff ist nicht darauf beschränkt, die Formen östlicher Kultur niederzubrechen; zur selben Zeit erfolgt eine umfassende, feine und stille Aneignung von vielem, was im Osten von Wert ist, für die Bereicherung okzidentaler Kultur. Die Herrlichkeiten unserer Vergangenheit herauszubringen und so viel von ihren Schätzen über Europa und Amerika zu verstreuen, wie sie empfangen werden, wird uns daher nicht helfen. Solche Freigebigkeit wird unsere kulturellen Angreifer bereichern und stärken, aber für uns wird es nur den Zweck erfüllen, ein Selbstvertrauen heranzubilden, das nutzlos und sogar irreführend sein wird, wenn es nicht in eine Kraft und einen Willen zu größerer Schöpfung gewandelt wird. Für uns ist es geboten, dem Angriff mit neuen und kraftvolleren Formationen zu begegnen, die sie nicht nur zurückwerfen werden, sondern den Krieg sogar in das Land des Angreifers hineintragen, wo dies möglich ist und der Rasse hilft. Gleichzeitig müssen wir mit einer starken schöpferischen Assimilation aufnehmen, was unseren Erfordernissen entspricht und dem indischen Geist gerecht wird. In gewissen Richtungen, bislang noch allzu wenigen, haben wir diese beiden Bewegungen begonnen. Bei anderen haben wir nur eine unkluge Mischung geschaffen, oder wir übernahmen und übernehmen hastig grobe und unverdaute Anleihen. Nachahmung, ein primitives und unsystematisches Borgen von den Instrumenten und Methoden des Angreifers mag zeitweilig nützlich sein, aber für sich genommen ist es nur eine andere Art und Weise, der Eroberung nachzugeben. Starre Aneignung genügt nicht; erfolgreiche Angleichung an den indischen Geist ist der erforderliche Schritt. Das Problem ist eines von großer unmittelbarer Schwierigkeit und gewaltigen Ausmaßen, und wir haben uns noch nicht mit Weisheit und Weitblick daran gemacht. Um so dringender ist es notwendig, die Situation voll zu erfassen und ihr mit originellem Denken und einer bewußten Aktion zu begegnen, die klug und kraftvoll in der Schau und sicher im Ablauf ist. Eine meisterhafte und hilfreiche Assimilation neuen Materials in einem ewigen Körper war in der Vergangenheit stets die besondere Kraft des indischen Genius.

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Aber es gibt noch einen anderen Gesichtspunkt, unter dem die uns gestellte Herausforderung nicht länger eine Frage ist, die grob und provozierend als Konflikt von Kulturen formuliert ist. Stattdessen stellt sie sich als ein Problem von tiefer Bedeutung; sie wird zu einer zum Denken verleitenden Anregung, die nicht nur unsere eigene, sondern alle noch bestehenden Zivilisationen betrifft.

Zur kulturellen Frage können wir vom Standpunkt der Vergangenheit und der Bewertung verschiedener Kulturen als erlangten Beiträgen zum Wachstum der menschlichen Rasse aus antworten, daß die indische Zivilisation Form und Ausdruck einer Kultur war, die ebenso bedeutend ist wie jede andere der historischen Zivilisationen der Menschheit, bedeutend in der Religion, bedeutend in der Philosophie, in der Naturwissenschaft, bedeutend in vielen Denkdisziplinen, in der Literatur, Kunst und Dichtung, bedeutend in der Organisation von Gesellschaft und Politik, bedeutend in Handwerk, Handel und Gewerbe. Es gab dunkle Flecken, eindeutige Unvollkommenheiten, schwere Mängel; welche Zivilisation war schon vollkommen, welche hatte nicht ihre erheblichen Makel und tiefen Abgründe? Es gab beträchtliche Lücken, viele Sackgassen, viel unkultivierten oder schlecht kultivierten Boden; welche Zivilisation war schon frei von Leerräumen, negativen Aspekten? Aber unsere alte Zivilisation kann die strengsten Vergleiche mit dem Altertum oder dem Mittelalter aushalten. Höher reichend, subtiler, vielseitiger, wißbegieriger und tiefgründiger als die griechische, edler und menschlicher als die römische, ausgedehnter und spiritueller als die alte ägyptische, umfassender und ursprünglicher als jede andere asiatische Zivilisation, intellektueller als die europäische vor dem achtzehnten Jahrhundert, im Besitze all dessen, was jene hatten, und mehr als das, war sie die mächtigste, souveränste, stimulierende und einflußreichste von allen vergangenen menschlichen Kulturen.

Und selbst wenn wir vom Standpunkt der Gegenwart und dem fruchtbaren Wirken des progressiven Zeitgeistes aus urteilen, können wir sagen, daß selbst hier trotz unseres Niedergangs nicht alles auf der Sollseite ist. Viele Formen unserer Zivilisation sind untauglich geworden und abgenutzt, andere benötigen radikalen Wandel und Erneuerung. Aber das kann ebenso gut für die europäische Kultur gesagt werden; bei all ihrer jüngst erlangten Fortschrittlichkeit und Gewohnheit schnellerer Selbstanpassung sind doch große Teile von ihr bereits verrottet und überaltert. Trotz aller Mängel und trotz des Niedergangs haben der Geist der indischen Kultur, ihre zentralen Gedanken, ihre besten Ideale noch immer eine Botschaft für die Menschheit und nicht für Indien allein. Und wir in Indien sind der Ansicht, daß sie in der Lage sind, aus sich selbst durch Kontakt mit neuem Erfordernis und neuem Gedanken ebenso gute und bessere Lösungen der anstehenden Probleme zu entwickeln als jene, die uns aus zweiter Hand von westlichen Quellen geboten werden. Aber außer den Vergleichen der Vergangenheit und den Erfordernissen der Gegenwart gibt es auch einen Gesichtspunkt der idealen Zukunft. Es gibt die weiteren Ziele, auf die sich die Menschheit hinbewegt. Die Gegenwart ist nur ein unreifes Streben nach ihnen, die unmittelbare Zukunft, die wir jetzt hoffnungsvoll sehen und in der Form herbeizuführen suchen, ist nur ihr unfertiges vorbereitendes Stadium. Es gibt einen noch unverwirklichten Standard der Ideen, die für das heutige Bewußtsein utopische Fiktionen sind, für eine weiter entwickelte Menschheit jedoch zu Gemeinplätzen ihrer täglichen Umgebung werden können, vertraute Dinge der Gegenwart, die sie überwinden müssen. Welchen Stand hat die indische Zivilisation hinsichtlich dieser noch unverwirklichten Zukunft der Menschheit? Sind ihre Hauptkonzepte und dominierenden Kräfte Leitlichter oder helfende Kräfte zu dieser Zukunft hin oder finden sie in sich selbst ein Ende, ohne daß sie einen Ausblick auf die evolutionären Möglichkeiten der kommenden Erdzeitalter eröffnen?

Schon der bloße Gedanke des Fortschritts ist für viele eine Illusion; denn sie glauben, daß die menschliche Rasse sich ständig in einem Kreis bewegt. Oder es ist gar ihre Ansicht, daß Größe mehr denn irgendwo in der Vergangenheit zu finden sei und daß unsere Bewegungslinie eine absteigende Kurve der Entartung ist, ein Abgleiten nach unten. Aber dies ist eine Illusion, die geschaffen wird, wenn wir zu sehr auf die Höhepunkte der Vergangenheit schauen und deren Schatten vergessen, oder wenn wir uns zu sehr auf die dunklen Räume der Gegenwart konzentrieren und ihre Lichtkräfte und ihre aussichtsvolleren Zukunftsaspekte vergessen. Sie wird ferner geschaffen durch fälschliche Ableitung vom Phänomen ungleichmäßigen Fortschreitens. Denn die Natur vollzieht ihre Evolution im Rhythmus von Voranschreiten und Zurückgleiten, von Tag und Nacht, Wachen und Schlaf; es erfolgt ein zeitweiliges Vorantreiben gewisser Resultate auf Kosten anderer, die nicht minder für Vollkommenheit benötigt werden, und für das oberflächliche Auge mag selbst in unserem Voranschreiten ein Zurückfallen sein. Gewiß bewegt sich Fortschritt nicht sicher in gerader Linie voran wie ein Mensch, der sich des vertrauten Weges sicher ist, oder wie eine Armee, die ein unverteidigtes Terrain oder kartographisch gut erfaßte, unbesetzte Räume einnimmt. Menschlicher Fortschritt ist weitgehend ein Abenteuer durch das Unbekannte, ein Unbekanntes voller Überraschungen und verblüffender Hindernisse; er stolpert oft, verfehlt seinen Weg an vielen Punkten, weicht hier, um dort zu gewinnen, verfolgt seine Schritte häufig zurück, um weiter voranzukommen. Die Gegenwart schneidet nicht immer gut ab im Vergleich mit der Vergangenheit; selbst wenn sie in der Masse weiter vorangeschritten ist, kann sie doch in gewissen Richtungen, die für unser inneres oder äußeres Wohlergehen wichtig sind, geringerwertig sein. Aber schließlich und endlich bewegt sich die Erde doch vorwärts, epur si muove. Selbst im Versagen erfolgt eine Vorbereitung auf Erfolg: Unsere Nächte bergen in sich das Geheimnis einer größeren Morgendämmerung. Dies ist eine häufige Erfahrung in unserem individuellen Fortschritt, aber auch die Kollektivität der Menschen bewegt sich in sehr ähnlicher Weise. Die Frage ist, wohin gehen wir, und welches sind die wahren Routen und Häfen unserer Reise?

Die westliche Zivilisation ist stolz auf ihren erfolgreichen Modernismus. Aber es gibt viele Dinge, die sie in ihrem eifrigen Streben nach Gewinn verloren hat, und vieles, wonach die Menschen alter Zeiten strebten, was sie aber nicht einmal zu vollbringen suchte. Auch gibt es vieles, was sie ganz bewußt - ungeduldig oder unter Mißachtung ihres eigenen großen Verlustes, der Schädigung ihres Lebens, der Unvollkommenheit ihrer eigenen Kultur - abgeworfen hat. Ein alter Grieche der Zeit von Perikles oder der Philosophen, der plötzlich in dieses Jahrhundert versetzt würde, würde staunen über die gewaltigen Errungenschaften des Intellektes und die Expansion des Bewußtseins, die moderne Vielseitigkeit des Verstandes und die unerschöpfliche Gewohnheit des Forschens, die Kraft endloser Verallgemeinerung und präzisen Details. Er würde ohne Vorbehalt die wunderbare Entwicklung der Wissenschaft und ihre gigantischen Entdeckungen bewundern, die reiche Kraft, Fülle und Exaktheit ihrer Instrumente, die wundervollbringende Kraft ihres erfinderischen Genies. Er wäre mehr überwältigt und verblüfft denn überrascht und eingenommen vom mächtigen Pulsschlag des modernen Lebens. Aber gleichzeitig würde er abgestoßen werden von der schamlosen Masse seiner Häßlichkeit und Roheit, seines zügellosen äußeren Utilitarismus, seines vitalistischen Trubels und der morbiden Übertreibung und Ungesundheit vieler seiner Entwicklungen. Er würde in ihm viel schlecht verhüllte Belege für das nicht verhinderte Überleben des triumphierenden Barbaren sehen. Wenn er seine Intellektualität und die exakte Anwendung von Denken und wissenschaftlichem Verstand auf die Lebensmaschinerie anerkannte, würde er in ihm doch seinen eigenen späteren Versuch klarer und edler Anwendung der idealen Vernunft auf das innere Leben von Geist und Seele vermissen. Er würde herausfinden, daß in dieser Zivilisation Schönheit zu einem Exoten geworden ist und das leuchtende ideale Bewußtsein in einigen Bereichen zu einem entwürdigten und ausgebeuteten Sklaven, in anderen zu einem vernachlässigten Fremden.

Was die großen spirituellen Sucher der Vergangenheit betrifft, so würden sie in all dieser gewaltigen Tätigkeit des Intellekts und des Lebens eine schmerzhafte Leere empfinden. Ein Gefühl seiner Illusion und Unwirklichkeit würde sie bei jedem Schritt heimsuchen, weil das, was am größten im Menschen ist und ihn über sich selbst hinaushebt, vernachlässigt worden war. Die Entdeckung der Gesetze der physischen Natur würde in ihren Augen nicht den relativen Rückgang - lange Zeit war es das völlige Aufhören - eines größeren Suchens und Findens aufwiegen, die Entdeckung der Freiheit des Geistes.

Aber eine unvoreingenommene Schau wird dieses Zeitalter der Zivilisation eher als ein evolutionäres Stadium betrachten wollen, als eine unvollkommene, aber doch wichtige Wende des menschlichen Fortschritts. Man kann dann erkennen, daß große Fortschritte erzielt wurden, die von äußerstem Wert für letztliche Vollkommenheit sind, selbst wenn sie für einen hohen Preis erkauft wurden. Wir haben nicht nur eine größere Verallgemeinerung des Wissens und die gründlichere Anwendung intellektueller Kraft und Tätigkeit in vielen Bereichen. Wir haben nicht nur den Fortschritt der Naturwissenschaft und ihre Nutzung für die Eroberung unserer Umwelt, einen ungeheuren Apparat von Mitteln, weitreichende Nutzungen, endlose kleine Annehmlichkeiten, eine unwiderstehliche Maschinerie, eine unermüdliche Ausbeutung von Kräften. Wir haben auch eine gewisse Entwicklung mächtiger, wenn nicht hochgesteckter Ideale, und es wird der Versuch unternommen - wie äußerlich und folglich unvollkommen er auch sein mag -, sie einwirken zu lassen auf die Funktion der menschlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Viel ist reduziert oder verloren worden, aber es kann am Ende zurückgewonnen werden, wenn auch nicht mit Leichtigkeit. Wenn das innere Leben des Menschen einmal seinen wahren Rhythmus wiedergewonnen hat, wird es erkennen, daß es an Materialien gewonnen hat, an Fähigkeit zu Plastizität, an einer neuen Art Tiefe und Weite. Und wir werden die heilsame Gewohnheit angenommen haben, in vielerlei Hinsicht gründlich zu sein und aufrichtig bemüht, das äußere Gemeinschaftsleben als angemessenes Ebenbild unserer höchsten Ideale zu gestalten. Temporäre Abstriche werden nicht zählen angesichts der größeren inneren Ausweitung, die wahrscheinlich auf dieses Zeitalter äußerer Unruhe und nach außen gerichteten Bemühens folgen wird.

Wenn andererseits ein alter Inder der Zeit der Upanischaden, der buddhistischen Zeit oder des späteren klassischen Zeitalters in das moderne Indien verpflanzt würde und jenen größeren Teil seines Lebens bemerkte, der dem Zeitalter des Verfalls angehört, würde er eine viel mehr deprimierende Empfindung haben, das Gefühl eines nationalen, eines kulturellen Debakels, eines Falls von den höchsten Gipfeln auf entmutigend niedrige Ebenen. Es könnte gut sein, daß er sich dann fragt, was diese degenerierte Nachwelt denn aus der mächtigen Zivilisation der Vergangenheit gemacht habe. Er würde sich fragen, wie sie angesichts all dessen, das sie inspirieren, erheben, anspornen kann, mehr zu leisten und sich selbst zu übertreffen, in diese Kraftlosigkeit und Trägheit fallen konnte und wie es dazu kam, daß sie die hohen Motive indischer Kultur, statt mehr zu vertiefen und auszuweiten, sich mit häßlichen Zuwüchsen überladen ließ, um dann dadurch zu rosten, zu verrotten, beinahe zugrundezugehen. Er würde sehen, wie sein Volk an Formen, Schalen und Fetzen der Vergangenheit festhält, aber neun Zehntel ihrer edleren Werte nicht begreift. Er würde das spirituelle Licht und die Energie der heroischen Zeitalter der Upanischaden und der philosophischen Systeme mit der späteren Trägheit oder kleinen und zerstückelten, fragmentarisch ableitenden Tätigkeit unseres philosophischen Denkens vergleichen. Im Gefolge der intellektuellen Wißbegierde, der wissenschaftlichen Entwicklung, der schöpferischen literarischen und künstlerischen Größe, der noblen Fruchtbarkeit des klassischen Zeitalters wäre er erstaunt über das Ausmaß einer späteren Dekadenz, ihre mentale Armut, Unbeweglichkeit, statische Wiederholung, die vergleichsweise Schwäche schöpferischer Intuition, die lange Sterilität der Kunst, das Absterben der Wissenschaft. Er würde einen steilen Abstieg zu Unwissenheit beklagen, ein Versagen des alten kraftvollen Willens und der tapasya fast eine Impotenz des Willens. Anstelle der einfacheren und mehr spirituell vernünftigen Ordnung alter Zeiten würde er eine verwirrend chaotische zerrüttete Organisation der Dinge ohne Mitte und ohne jedes weittragende, harmonisierende Konzept finden. Er fände keine wahre Gesellschaftsordnung sondern eine halb eingedämmte, halb vordringende Fäulnis. Anstelle der großen flexiblen Zivilisation, die kraftvoll assimilierte und in der Lage war, zehnfach zurückzuzahlen für das, was sie empfing, träfe er auf eine hilflose Haltung, mit der man passiv oder nur mit einigen wenigen wirkungslosen galvanischen Reaktionen die Kräfte der Außenwelt und den Streß widriger Umstände ertrug. Er würde erkennen, daß sogar zeitweilig ein so beträchtlicher Verlust des Glaubens und Selbstvertrauens eintrat, daß die Intellektuellen der Nation in Versuchung gerieten, den alten Geist und die alten Ideale zugunsten einer fremden und importieren Kultur zu verbannen. Er würde gewiß den Anfang eines Wandels bemerken, aber könnte vielleicht Zweifel hegen, wie tief er geht und ob er stark genug ist, um zu retten, um die ganze Nation aus ihrer geliebten Starre und Schwäche zu reißen, erleuchtet genug, um eine neue, robuste schöpferische Tätigkeit auf die Schaffung neuer bedeutsamer Formen für den historischen Geist zu lenken.

Auch hier weist besseres Verstehen mehr auf Zuversicht als auf jene schiere Verzagtheit, die ein zu hastiger, oberflächlicher Blick nahelegt. Dieses letzte Zeitalter indischer Geschichte ist ein Beispiel der ständigen lokalen Folge der Nacht selbst auf den längsten und hellsten Tag in der Evolution der menschlichen Rasse. Aber es war eine Nacht, die zunächst voller leuchtender Konstellationen war, und selbst in der finstersten und schlimmsten Nacht war es die Dunkelheit von Kalidasas "Nacht, die auf die Morgendämmerung vorbereitet, mit einigen gerade erkennbaren Sternen". Selbst während des Abstiegs ging nicht alles verloren. Es fanden Entwicklungen statt, die benötigt wurden; es gab spirituelle und andere Fortschritte von größter Bedeutung für die Zukunft. Und in der schlimmsten Periode des Niedergangs und Versagens war der Geist in Indien nicht tot, sondern nur erstarrt, verhüllt und gehemmt. Indem er jetzt wieder auflebt zu energischer Selbstbefreiung infolge des Drucks ständig aufrüttelnder Erschütterungen, erkennt er, daß sein Schlaf Vorbereitung war auf latent vorhandene Möglichkeiten hinter dem Schleier jenes Schlummers. Wenngleich das hohe spiritualisierte Mental und die gewaltige Kraft spirituellen Willens, tapasya, die das alte Indien charakterisierten, weniger sichtbar waren, gab es erneut Fortschritt in spiritueller Emotion und Sensitivität gegenüber dem spirituellen Impuls auf den niederen Bewußtseinsebenen, an dem es vorher mangelte. Architektur, Literatur, Malerei, Skulptur verloren ihren alten Glanz, ihre Kraft und Erhabenheit, aber sie riefen andere Kräfte und Motive voll Feingefühl, Lebendigkeit und Anmut hervor. Es erfolgte ein Abstieg von den Höhen zu den niederen Ebenen, jedoch ein Abstieg, der auf dem Weg Schätze ansammeln ließ und für die Fülle spiritueller Entdeckung und Erfahrung benötigt wurde. Der Niedergang unserer vergangenen Kultur kann sogar als ein notwendiges Dahinschwinden und Absterben alter Formen betrachtet werden, um nicht nur einer neuen, sondern, wenn wir so wollen, größeren und vollkommeneren Schöpfung Platz zu machen.

Denn schließlich und endlich ist es der Wille im Wesen, der den Umständen ihren Wert gibt, und oft einen unerwarteten Wert; die Färbung der scheinbaren Wirklichkeit ist ein irreführender Indikator. Wenn der Wille in einer Rasse oder Zivilisation auf Tod gerichtet ist, wenn er festhält an der Mattigkeit der Dekadenz und dem laissez-faire des zum Sterben Verurteilten, oder selbst in kraftvollem Zustand blind auf Neigungen beharrt, die zur Zerstörung führen, oder wenn er nur die Kräfte toter Zeit schätzt und die Kräfte der Zukunft von sich weist, wenn er vergangenes Leben dem Leben, das sein wird, vorzieht, so wird ihn nichts, werden ihn nicht einmal üppige Kraft, Mittel und Klugheit, nicht einmal viele Aufrufe zum Leben und ständig gebotene Gelegenheiten vor dem unvermeidlichen Zerfall und Zusammenbruch bewahren. Aber wenn ihn ein starker Glaube an sich selbst und ein robuster Wille zum Leben erfüllt, wenn er gegenüber den Dingen, die kommen werden, offen ist, willig, sich der Zukunft und der Dinge, die sie bietet, zu bemächtigen, und stark, sie gefügig zu machen, wo sie widrig zu sein scheint, so kann er aus Widerstand und Niederlage die unbezwingbare Kraft zum Sieg ziehen und sich aus scheinbarer Hilflosigkeit und Dekadenz in einer mächtigen Flamme der Erneuerung zum Licht eines herrlicheren Lebens erheben. Zu einem solchen Aufstieg schickt sich die indische Zivilisation nun wieder an, wie sie es stets tat in der ewigen Kraft ihres Geistes.

Die Größe der Ideale der Vergangenheit ist eine Verheißung größerer Ideale für die Zukunft. Eine ständige Ausweitung dessen, was hinter vergangener Bemühung und Begabung stand, ist die eine beständige Rechtfertigung einer lebendigen Kultur. Aber daraus folgt, daß Zivilisation und Barbarei Worte von recht relativer Bedeutung sind. Denn vom Standpunkt der evolutionären Zukunft aus waren die europäische und die indische Zivilisation in ihrer höchsten Form nur halbe Errungenschaften, erste Morgendämmerungen, die auf das volle Sonnenlicht, das noch kommen wird, hinwiesen. Weder Europa noch Indien noch irgendeine Rasse, irgendein Land oder Kontinent war je voll zivilisiert unter diesem Gesichtspunkt; niemand hat das volle Geheimnis eines wahren und vollkommenen menschlichen Lebens erfaßt, niemand hat auch nur das wenige, das vollbracht werden konnte, mit vollständigem Verständnis oder einer ganz und gar wachen Aufrichtigkeit zur Anwendung gebracht. Wenn wir Zivilisation als Harmonie von Geist, Mental und Körper definieren, wo war dann jene Harmonie vollständig oder ganz und gar real? Wo gab es nicht deutliche Mängel und schmerzhafte Disharmonien? Wo wurde das Geheimnis der Harmonie in all seinen Teilen völlig verstanden oder die vollständige Lebensmusik zu der herrlichen Behaglichkeit eines befriedigenden, dauerhaften und ständig wachsenden Einklangs entwickelt? Überall gibt es deutliche, häßliche, selbst "abscheuliche" Makel im Leben des Menschen, und vieles, das wir jetzt mit Gleichmut akzeptieren, vieles, worauf wir stolz sind, mag eine zukünftige Menschheit sehr wohl als Barbarei oder zumindest als halbbarbarisch und unreif betrachten. Die Leistungen, die wir als Ideal ansehen wird man verurteilen als eine selbstgenügsam hingenommene Unvollkommenheit, als Blindheit gegenüber den eigenen Irrtümern. Die Gedanken und Ideen, die wir als Erleuchtung preisen, werden als Zwielicht oder Dunkelheit erscheinen. Nicht nur viele Formen unseres Lebens, die den Anspruch erheben, von alter Zeit oder gar von Ewigkeit zu sein (als ob man das von irgendeiner Art von Dingen sagen könnte), werden versagen und verschwinden. Die subjektiven Formen, die unseren besten Prinzipien und Idealen gegeben wurden, werden vielleicht von der Zukunft bestenfalls verständnisvolle Nachsicht finden. Es gibt nur wenig, das nicht Ausweitung und Wandel benötigt, sich vielleicht so sehr wandeln muß, daß man es nicht mehr erkennen kann, oder akzeptieren muß, in einer neuen Synthese modifiziert zu werden. Am Ende mögen die kommenden Zeitalter ähnlich auf das heutige Europa und auf Asien blicken, wie wir uns wilde Stämme oder primitive Völker betrachten. Und dieser Blick aus der Zukunft ist, wenn wir ihn erlangen können, ohne Zweifel der am meisten erleuchtende und dynamische Standpunkt, von dem aus wir unsere Gegenwart beurteilen können, aber er hebt nicht unsere relative Anerkennung vergangener und bestehender Kulturen auf.

Denn diese Vergangenheit und Gegenwart bilden die größeren Stufen jener Zukunft, und vieles davon wird gerade in dem überleben, was an ihre Stelle tritt. Hinter unseren unvollkommenen kulturellen Gestaltungen ist ein permanenter Geist, an dem wir festhalten müssen und der selbst hiernach permanent bleiben wird; es gibt gewisse Grundmotive oder essentielle Ideen-Kräfte, die nicht abgeworfen werden können, weil sie Teil des vitalen Prinzips unseres Wesens und des Ziels der Natur in uns sind, unser svadharma. Aber diese Motive, diese Ideen-Kräfte sind, ob für die Nation oder für die Menschheit als ganze, von geringer Zahl, schlicht in ihrem Wesen und zu einer sich stets wandelnden und fortschreitenden Anwendung fähig. Der Rest gehört den weniger tief liegenden Schichten unseres Wesens an und muß sich dem sich wandelnden Druck des Zeitgeistes unterziehen und seinen progressiven Forderungen gerecht werden. Es gibt diesen permanenten Geist in den Dingen, und es gibt dieses beständige svadharma oder Gesetz unserer Natur; aber es gibt auch ein weniger bindendes System von Gesetzen sukzessiver Ausdruckgebung, - Rhythmen des Geistes, Formen, Tendenzen, Gewohnheiten der Natur, und diese machen die Wandlungen der Zeitalter, yugadharma, durch. Die Rasse muß diesem Doppelprinzip von Permanenz und Mutation gehorchen oder die Folgen einer Dekadenz und Entartung tragen, die selbst ihr Lebenszentrum in Mitleidenschaft ziehen könnte.

Sicher müssen wir jede desintegrierende oder schädliche Attacke mit Entschiedenheit abwehren. Aber es ist viel wichtiger, daß wir uns die eigene wahre und unabhängige Meinung bezüglich unserer Leistungen in der Vergangenheit, unserer gegenwärtigen Stellung und zukünftigen Möglichkeiten bilden, - was wir waren, was wir sind und was wir sein können. In unserer Vergangenheit müssen wir alles wahrnehmen, was bedeutend, wesenhaft, inspirierend, kräftigend, erleuchtend, siegreich und wirksam war. Und darin müssen wir wiederum erkennen, was dem permanenten, essentiellen Geist und dem ständigen Gesetz unseres kulturellen Wesens nahe stand, und von ihm trennen, was nur vorübergehend und von vergänglicher Form war. Denn nicht alles, was in der Vergangenheit bedeutend war, kann in der vergangenen Form bewahrt oder auf immer wiederholt werden; neue Notwendigkeiten, andere Ausblicke warten auf uns. Aber wir müssen auch erkennen, was fehlerhaft war, schlecht begriffen, unvollkommen formuliert, was nur den begrenzten Bedürfnissen des Zeitalters oder ungünstigen Umständen gemäß war. Denn es wäre recht müßig, davon auszugehen, daß alles in der Vergangenheit - selbst auf ihrem Gipfel - ganz und gar bewundernswert war und in seiner Art die höchste vollendete Leistung des menschlichen Mentals und Geistes darstellte. Danach müssen wir einen Vergleich dieser Vergangenheit mit unserer Gegenwart anstellen und die Ursachen unseres Verfalls verstehen und das Heilmittel für unsere Mängel und Leiden suchen. Das Gefühl der Größe unserer Vergangenheit darf nicht zu einer fatal hypnotisierenden Verlockung zum Nichtstun entarten; es sollte vielmehr zu erneuter und größerer Leistung anregen. Aber in unserer Kritik der Gegenwart dürfen wir nicht einseitig sein oder töricht-unparteilich alles verurteilen, was wir sind oder getan haben. Indem wir uns selbst weder schmeicheln noch unseren Abstieg beschönigen oder unser eigenes Nest beschmutzen, um den Beifall des Fremden zu finden, müssen wir unsere tatsächliche Schwäche und ihre Wurzeln zur Kenntnis nehmen, aber auch unsere Augen mit noch größerer Aufmerksamkeit auf unsere Elemente der Kraft, unsere unverlierbaren latenten Möglichkeiten, unsere dynamischen Impulse der Selbsterneuerung richten.

Ein zweiter Vergleich ist anzustellen zwischen dem Westen und Indien. In der Vergangenheit Europas und in der Vergangenheit Indiens können wir unvoreingenommen die Erfolge des Westens beobachten, die Gaben, die er der Menschheit brachte, aber auch seine größeren Lücken, augenfälligen Mängel, seine gewaltigen und gar "abscheulichen" Sünden und Fehlschläge. Auf die andere Waagschale müssen wir die Leistungen und Fehlschläge des alten und mittelalterlichen Indien legen. Hier werden wir sehen, daß es wenig gibt, um dessentwillen wir unseren Kopf vor Europa beugen müssen, aber vieles, worin wir es deutlich und manchmal unermeßlich übertreffen. Als nächstes aber müssen wir die Gegenwart des Westens mit seinem großen Erfolg, seiner Vitalität, seiner beherrschenden Anmaßung ins Auge fassen. Was bedeutend in ihm war, werden wir zulassen, aber wir werden auch seine Mängel, Fehltritte und Gefahren sorgfältig erfassen. Und mit dieser gefährlichen Größe müssen wir die Gegenwart Indiens vergleichen, seinen Abstieg und dessen Ursachen, seine Bemühungen um Erneuerung, seine Elemente, die jetzt und in der Zukunft immer noch seine überragende Größe ausmachen. Wir wollen all jenes prüfen und zur Kenntnis nehmen, was wir unvermeidlich vom Westen empfangen müssen, und sehen, wie wir es unserem eigenen Geist und unseren eigenen Idealen angleichen können. Aber wir wollen auch prüfen, welche Quellen eigener Kraft in uns sind, denen wir tiefere, vitalere und frischere Lebensströme entnehmen können als irgendeiner Sache, die der Westen bieten kann. Denn dies wird uns mehr helfen als okzidentale Formen und Motive, weil es natürlicher für uns ist, stimulierender für unsere besondere Art, mehr angefüllt mit schöpferischen Ideen, leichter aufgenommen und vollständiger befolgt in praktischer Durchführung.

Noch weit hilfreicher als jeder dieser notwendigen Vergleiche wird der Blick nach vorne von unserer Vergangenheit und Gegenwart aus in Richtung auf das eigene und nicht irgendein fremdes Ideal der Zukunft sein. Denn unser evolutionärer Drang zur Zukunft ist es, der unserer Vergangenheit und Gegenwart ihren wahren Wert und ihre wahre Bedeutung geben wird. Indiens Wesen, seine Mission, das Werk, das es zu tun hat, seine Rolle in der Bestimmung der Erde, die besondere Kraft, die es repräsentiert, ist dort in seiner vergangenen Geschichte niedergeschrieben und ist der geheime Zweck hinter seinen gegenwärtigen Leiden und Prüfungen. Eine Neugestaltung der Formen unseres Geistes wird stattfinden müssen; aber es ist der Geist selbst hinter vergangenen Formen, den wir herauslösen und bewahren müssen und dem wir neue und starke Gedankeninhalte, Kulturwerte, eine neue Instrumentierung, größere Formen geben müssen. Und solange wir diese wesentlichen Dinge anerkennen und ihrem Geist treu sind, wird es uns nicht schaden, wenn wir selbst die drastischsten mentalen oder physischen Anpassungen und die extremsten kulturellen und gesellschaftlichen Wandlungen vornehmen. Aber diese Wandlungen selbst sind im Geist und im Modell Indiens vorzunehmen und keinem anderen, nicht im Geist Amerikas oder Europas, nicht nach dem Modell Japans oder Rußlands. Wir müssen die große Kluft erkennen zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir anstreben können oder sollten. Aber dies sollten wir nicht in einem Geist der Entmutigung oder Leugnung unserer selbst und der Wahrheit unseres Geistes tun, sondern um den Fortschritt abzustecken, den wir zu machen haben. Denn wir müssen seine wahren Grundlinien entdecken und in uns selbst das Streben und die Inspiration finden, das Feuer und die Kraft, um sie zu konzipieren und praktisch zu verwirklichen. Ein ursprünglich wahrheitssuchendes Denken wird benötigt, wenn wir diesen Standpunkt einnehmen und einen Schritt in dieser Richtung unternehmen wollen, eine starke und mutige Intuition, eine nie versagende spirituelle und intellektuelle Geradheit. Der Mut, unsere Kultur gegen unwissende okzidentale Kritik zu verteidigen und sie gegenüber dem gigantischen Druck der Moderne zu halten, kommt an erster Stelle, aber zugleich muß der Mut vorhanden sein, die Irrtümer unserer Kultur nicht von irgendeinem europäischen Standpunkt, sondern von unserer eigenen Perspektive her einzugestehen. Abgesehen von allen Phänomenen des Niedergangs und Verfalls sollten wir ohne jedes sophistische Leugnen jene Dinge in unseren Überzeugungen hinsichtlich Leben und gesellschaftlichen Institutionen erkennen, die in sich selbst fehlerhaft und zum Teil auch unhaltbar sind, Dinge, die unser nationales Leben schwächen, unsere Zivilisation herabwürdigen, unsere Kultur entehren. Ein flagrantes Beispiel findet sich in der Art, in der wir unsere Kastenlosen behandeln. Es gibt jene, die dies als unvermeidlichen Irrtum unter den Umständen der Vergangenheit verteidigen wollen; und es gibt andere, die geltend machen, es sei die bestmögliche Lösung gewesen, die zu jener Zeit zur Verfügung stand. Wieder andere wollen sie rechtfertigen und sie - mit welchen Abwandlungen auch immer - weiter bestehen lassen als notwendig für unsere soziale Synthese. Der Vorwand war da, aber er rechtfertigt nicht eine Fortdauer. Die These ist sehr anfechtbar. Eine Lösung, die mittels Abspaltung ein Sechstel der Nation zu permanenter Schmach verurteilt, zu ständiger Verkommenheit, Unreinheit des inneren und äußeren Lebens. und einer brutalen Tierexistenz, anstatt sie aus diesem Zustand zu befreien, ist keine Lösung, sondern ein Akzeptieren von Schwäche, eine ständige Wunde am Sozialkörper und seinem kollektiven spirituellen, intellektuellen, ethischen und materiellen Wohlergehen. Gesellschaftliche Synthese, die nur dadurch leben kann, daß sie aus der Herabwürdigung unserer Mitmenschen und Landsleute eine ständige Regel macht, ist zu Verfall und Unruhe verurteilt und vorbestimmt. Die üblen Wirkungen können eine Zeitlang unterdrückt werden und wirken dann nur über die subtilere unsichtbare Aktion des karmischen Gesetzes aber sobald das Licht der Wahrheit einmal auf diese dunklen Flecken hereingelassen wird, würde ihr Fortbestehenlassen bedeuten, daß ein Keim der Zersplitterung bewahrt und unsere Chancen auf ein letztendliches Überleben zerstört werden.

Weiter müssen wir unsere kulturellen Vorstellungen und unsere gesellschaftlichen Formen betrachten und prüfen, wo sie ihren alten Geist oder ihre wirkliche Bedeutung verloren haben. Viele von ihnen sind jetzt eine Fiktion und befinden sich nicht mehr in Einklang mit den Ideen, von denen sie ausgehen, und mit den Fakten des Lebens. Andere reichen nicht mehr für unsere weitere Entwicklung, selbst wenn sie an sich gut sind oder aber zu ihrer Zeit eine günstige Wirkung hatten. All diese sind entweder umzuwandeln oder aufzugeben, und wahre Ideen und bessere Formulierungen sind an ihrer Stelle zu finden. Die neue Richtung, die wir ihnen geben müssen, wird nicht immer eine Rückkehr zu der alten Bedeutung sein. Die neuen dynamischen Wahrheiten, die wir zu entdecken haben, brauchen nicht in der begrenzten Wahrheit eines vergangenen Ideals eingehegt zu sein. Wir müssen den Suchscheinwerfer des Geistes auf unsere vergangenen und gegenwärtigen Ideale richten und sehen, ob sie nicht zu überwinden oder zu erweitern oder auf neue weitere Ideale abzustimmen sind. Alles, was wir tun oder schaffen, muß mit dem ständigen Geist Indiens im Einklang stehen, aber so gestaltet sein, daß es in einen größeren harmonisierten Rhythmus paßt und plastisch gegenüber dem Ruf einer lichteren Zukunft ist. Wenn Glaube an uns selbst und Treue zum Geist unserer Kultur die ersten Grunderfordernisse für ein kontinuierliches und kraftvolles Leben sind, so ist eine Anerkennung größerer Möglichkeiten eine nicht minder unerläßliche Bedingung. Gesundes und siegreiches Überleben kann nicht stattfinden, wenn wir aus der Vergangenheit einen Fetisch machen anstelle eines inspirierenden Impulses.

Der Geist und die Ideale unserer Zivilisation benötigen keine Verteidigung, denn in ihren besten Teilen und in ihrer Essenz waren sie von ewigem Wert. Indiens innere und individuelle Suche nach ihnen war ernsthaft, kraftvoll, effektiv. Aber die Anwendung im gesellschaftlichen Leben war großen Einschränkungen unterworfen. Sie war nie kühn und tief genug und wurde dann immer mehr eingeschränkt und stockend, als die Lebenskraft in den Menschen nachließ. Dieser Mangel, diese Kluft zwischen Ideal und kollektiver Praxis war ein Manko allen menschlichen Lebens und nicht eine Besonderheit Indiens; aber die Dissonanz bildete sich im Laufe der Zeit deutlich heraus und drückte zumindest unserer Gesellschaft zunehmend den Stempel der Schwäche und des Versagens auf. Zu Beginn wurde eine beträchtliche Anstrengung unternommen, eine Art Synthese zwischen dem inneren Ideal und dem äußeren Leben zu entwickeln; aber eine statische Regulierung der Gesellschaft war ihr späteres Ende. Ein grundlegendes Prinzip von spirituellem Idealismus, eine schwer zu fassende Einheit und festgelegte hilfreiche Formen der Gegenseitigkeit blieben stets bestehen, aber auch ein wachsendes Element strikter Gebundenheit und kleinlicher Unterteilung und daraus resultierender Verworrenheit in der gesellschaftlichen Masse. Die großen vedantischen Ideale der Freiheit, Einheit und der Gottheit im Menschen waren der inneren spirituellen Anstrengung von Einzelnen überlassen. Die Kraft zur Ausweitung und Assimilation nahm ab, und als mächtige und aggressive Kräfte von außen einbrachen, vom Islam, von Europa, gab sich die spätere Hindu-Gesellschaft zufrieden mit einer eingegrenzten und statischen Selbsterhaltung, der bloßen Erlaubnis zu leben. Die Lebensform wurde enger und enger, und ihr alter Geist konnte sich immer weniger behaupten. Fortdauer und Überleben wurden erreicht, aber es war am Ende nicht eine wirklich sichere und vitale Fortdauer, kein großes, robustes und siegreiches Überleben.

Und jetzt ist das Überleben selber unmöglich geworden ohne Expansion. Wenn wir überhaupt leben wollen, müssen wir neu anknüpfen an Indiens große unterbrochene Anstrengung. Im Einzelnen und in der Gesellschaft, im spirituellen und weltlichen Leben, in der Philosophie und in der Religion, in Kunst und Literatur, im Denken, in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Gestaltung müssen wir den vollen und uneingeschränkten Sinn seines höchsten Geistes und Wissens unerschrocken aufgreifen und gründlich verwirklichen. Und wenn wir dies tun, werden wir entdecken, daß das Beste von dem, was in westlichen Formen zu uns kommt, bereits in unserer eigenen alten Weisheit enthalten ist und dort einen größeren Geist hinter sich hat, eine tiefere Wahrheit und Selbsterkenntnis und die Fähigkeit eines Willens zu edleren und idealeren Strukturen. Nur müssen wir uns gründlich im Leben erarbeiten, was wir im Geist bereits immer wußten. Dort und nirgendwo anders liegt das Geheimnis der erforderlichen Harmonie zwischen der wesenhaften Bedeutung unserer vergangenen Kultur und den umweltlichen Anforderungen unserer Zukunft.

Diese Schau eröffnet eine Aussicht jenseits der Schlacht der Kulturen, dem unmittelbaren gefährlichen Aspekt der Begegnung von Ost und West. Der Geist im Menschen hat in der gesamten Menschheit nur ein Ziel vor Augen; aber die verschiedenen Kontinente oder Völker wenden sich ihm von verschiedenen Seiten, mit verschiedenen Formulierungen und in einem verschiedenen Geist zu. Indem sie die grundlegende Einheit des letztlichen göttlichen Motives nicht erkennen, liefern sie einander die Schlacht und erheben den Anspruch, ihr Weg allein sei der wahre Weg für die Menschheit. Die eine wirkliche und vollkommene Zivilisation sei jene, in der sie zufällig geboren wurden, der Rest müsse zugrundegehen oder verschwinden. Aber die wirkliche und vollkommene Zivilisation wartet noch auf ihre Entdeckung; denn das Leben der Menschheit ist immer noch neun Zehntel Barbarei gegenüber einem Zehntel Kultur. Der europäische Geist räumt den ersten Rang dem Prinzip des Wachstums durch Kampf ein; durch Kampf erlangt er eine Art Einvernehmen. Aber dieses Einvernehmen ist für sich selbst kaum mehr als eine Organisation für Wachstum durch Wettbewerb, Aggression und weiteren Kampf. Es ist ein Frieden, der ständig zersplittert - sogar in sich selbst - in erneuten Wettbewerb von Prinzipien, Ideen, Interessen, Rassen, Klassen. Es ist eine Organisation mit einer unsicheren Basis und einem unsicheren Zentrum, weil sie sich auf Halbwahrheiten gründet, die zu vollständigen Lügen entarten; aber sie ist noch, oder war bis jetzt, zu ständiger großer Leistung fähig und in der Lage, mächtig zu wachsen und zu verarbeiten und zu assimilieren. Die indische Kultur funktionierte auf dem Prinzip eines Einvernehmens, das seine Basis in einer Einheit zu finden suchte und wiederum ein größeres Einssein anstrebte. Ihr Ziel war eine dauerhafte Organisation, die das Prinzip des Kampfes auf ein Minimum reduzieren oder gar ganz ausschalten würde. Aber am Ende verhielt es sich so, daß sie Frieden und stabile Ordnung durch Ausschluß, Fragmentierung und Unveränderlichkeit des Status quo erreichte; sie zog einen magischen Sicherheitskreis und schloß sich endgültig in ihm ein.

Schließlich verlor sie ihre Kraft zur Aggression, schwächte ihr Vermögen zur Assimilation und verkam in ihren eigenen Schranken. Ein statisches, eingeschränktes Einvernehmen, das sich nicht ständig erweitert, nicht formbar ist, wird in unserem Zustand menschlicher Unvollkommenheit zu einem Gefängnis oder einer Schlafkammer. Einvernehmen kann nur unvollkommen und provisorisch in seiner Form sein und kann nur dann seine Vitalität bewahren und sein letztes Ziel erfüllen, wenn es sich ständig umstellt, ausweitet, voranschreitet. Seine geringeren Einheiten müssen sich ausweiten zu einem breiteren, umfassenderen und vor allem einem mehr realen und spirituellen Einssein. In der größeren Gestaltung unserer Kultur und Zivilisation, die wir jetzt vollbringen müssen, wird eine größere äußere Ausdruckgebung spiritueller und psychologischer Einheit sicher ein Leitmotiv sein, jedoch von einer Vielfalt, die die mechanische Methode Europas nicht duldet. Ein Einvernehmen, eine Einheit mit dem übrigen Teil der Menschheit, wobei wir unsere spirituelle und unsere äußere Unabhängigkeit erhalten werden, wird eine andere Grundrichtung unserer Anstrengung sein. Aber was jetzt als Kampf erscheint, kann sehr wohl der erste notwendige Schritt sein, bevor wir jene Einheit der Menschheit gestalten können, die der Westen nur der Idee nach konzipiert, aber nicht vollbringen kann, weil er nicht ihren Geist besitzt. Daher müht sich Europa, Einheit durch die Abstimmung widerstreitender Interessen und die Kraft mechanischer Institutionen zu begründen, aber wenn man es auf diese Weise versucht, wird sie entweder gar nicht oder aber auf Sand errichtet werden. Indessen will Europa jede andere Kultur auslöschen, als ob seine eigene die einzige Wahrheit, die ganze Wahrheit des Lebens wäre und es nicht so etwas wie Wahrheit des Geistes gäbe. Indien, alter Eigentümer der Wahrheit des Geistes, muß sich jenem arroganten Anspruch und Angriff widersetzen und trotz schwieriger Umstände gegen alle und jeden seine eigenen tieferen Wahrheiten bekräftigen. Denn in der Bewahrung und Erhaltung der Wahrheit des Geistes liegt die einzige Hoffnung begründet, daß die Menschheit, anstatt auf eine neue Katastrophe und einen primitiven Anfang unter ständiger Wiederholung der alten blinden Zyklen zuzugehen, endlich ins Licht eintreten wird und den Schritt nach vorne nimmt, der die irdische Evolution auf die nächste Stufe des Aufstiegs in der fortschreitenden Offenbarung des Geistes bringen wird.


Die weiteren Kapitel:

II. Ein rationalistischer Kritiker zur indischen Kultur

III. Eine Rechtfertigung indischer Kultur


Religion und Spiritualität
Indische Kunst
Indische Literatur
Indisches Staatswesen

IV. Indische Kultur und äußerer Einfluß

V. Die Renaissance in Indien