Der Sonnenweg zum großen Selbst
Der Schlüssel zur bewußten Evolution
"Der Mensch ist ein Übergangswesen; er ist kein Endzweck.
Der Schritt vom Menschen zum Übermenschen ist die nächste anstehende Errungenschaft in der irdischen Evolution.
Das ist unabdingbar, denn es ist sowohl die Intention des inneren Geistes als auch die Logik des Prozesses der Natur." - Sri Aurobindo
Angenommen der Mensch ist kein Endzweck?
Angenommen der Mensch ist ein "Übergangswesen", wie Sri Aurobindo sagte, das das, was als nächstes kommt, nur vorbereitet?
Und vielleicht brauchen wir nicht einmal Computer oder mentale Akrobatik, um den nächsten Menschen vorzubereiten. Vielleicht brauchen wir nicht einmal spirituelle Übungen oder Religionen.
Vielleicht genügt es zu sein.
Aber Sein mit einem Feuer der Wahrheit im Herzen, mit einem Ruf des Verlangens nach der Wahrheit der Erde, einem Schrei des Erstickens inmitten dieses sinnlosen Chaos der gegenwärtigen Erde - einem Ruf nach dem, was wir sind hinter dem Spiel des Scheins und der mentalen Mechanik, die uns so geschickt in Beschlag hält.
Vielleicht genügt ein einfacher Schrei.
Aus dem Inhalt:
I. Die Mentale Festung
II. Die Große Wandlung
III. Der Sonnenweg
IV. Die Weggabelung
Vielleicht finden wir wenn alles übrige gescheitert ist verborgen in uns den Schlüssel zur vollkommenen VeränderungSri Aurobindo
Die Geheimnisse sind einfach.
Denn die Wahrheit ist einfach, sie ist die einfachste Sache der Welt - deswegen sehen wir sie auch nicht. Es gibt nur eine Sache auf der Welt und nicht zwei, wie den Physikern und Mathematikern langsam klar wird und wie es ein Kind wohl weiß, das der Welle lächelt an einem sonnenverwehten Strand, an dem dieselben Schaumkronen sich aufzutürmen scheinen wie zu Anbeginn der Zeiten und sich dem großen Rhythmus einer vorzeitlichen Erinnerung anschließen, die die Tage und die Sorgen in einer einzigen Geschichte verschmilzt, so alt, als sei sie unwandelbare Gegenwart, so weit, daß sie ihre Unermeßlichkeit selbst an die Schwingen einer Seemöwe heftet. Und alles ist in einer einzigen Sekunde enthalten, die Totalität aller Zeiten und Seelen, in einem einfachen Punkt, der einen Augenblick im wilden Schaum aufleuchtet. Diesen Punkt aber haben wir verloren, auch dieses Lächeln und die singende Sekunde. So versuchten wir die Einheit durch Addieren wieder herzustellen: 1 + 1 + 1 ... wie unsere Taschenrechner, als ergäbe die Summe allen möglichen Wissens über alle möglichen Punkte schließlich den richtigen Ton, den einzigen Ton, der die Welt und das Herz eines vergessenen Kindes bewegt und zum Klingen bringt. Diese Einfachheit haben wir für jede Brieftasche zu fabrizieren versucht, und je mehr sich unsere technischen Tastaturen vervielfältigten, das Leben vereinfachten, desto mehr entfloh uns der Vogel und das Lächeln, selbst der schöne Schaum ist durch unser Kalkül verschmutzt. Wir sind nicht einmal mehr sicher, ob unser Körper noch uns gehört - die schöne Maschine hat alles verschlungen.
Dabei ist diese einzige Sache zugleich die einzige Macht, denn das, was in einem Punkt leuchtet, leuchtet zugleich in allen anderen Punkten: ist das einmal begriffen, ist auch alles übrige begriffen, es gibt nur eine Macht auf der Welt und nicht zwei. Ein Kind begreift das sehr wohl: es ist König, es ist unverwundbar. Aber das Kind wächst auf und vergißt. Ebenso wuchsen die Menschen auf, die Nationen, die Zivilisationen, jeder suchte nach seiner Façon das Große Geheimnis, das einfache Geheimnis - mit Waffengewalt, durch Eroberungen, durch Meditationen, durch Magie, durch Schönheit, Religion oder Wissenschaft. Und offengestanden sind wir nicht sicher, wer fortgeschrittener ist, die Erbauer der Akropolis, der Magier von Theben, der Astronaut auf Cap Kennedy oder selbst der Zisterzinser; denn die einen lehnten das Leben ab, um es zu verstehen, die anderen ergriffen es, ohne es zu verstehen, die dritten hinterließen eine Spur von Schönheit darin und wieder andere einen Silberstreifen in einem unveränderten Himmel - wir sind lediglich die letzten auf der Liste. Und unseren eigenen Zauber haben wir noch immer nicht gefunden. Der Punkt, der winzig-mächtige Punkt ist immer zugegen auf dem Strand der weiten Welt, er glänzt für jeden, der Augen hat zu sehen, so wie er glänzte, als es noch nicht uns Menschen unter der Sternen gab.
Dennoch haben andere das Geheimnis berührt: die alten Griechen kannten es vielleicht und auch die Ägypter und sicherlich die indischen Rishis des vedischen Zeitalters. Aber mit den Geheimnissen geht es wie mit den Blüten an einem schönen Baum, sie haben ihre eigene Zeit, ihr unmerkliches Wachstum, ihr plötzliches Aufblühen. Für alles gibt es einen richtigen "Augenblick", selbst für die Konjunktion der Sterne über unseren Köpfen und den Flug des Kormorans über den schaumweißen Klippen und vielleicht sogar für die Schaumkrone selbst, die einen Augenblick vom Schwall der Wellen aufgeworfen wird, alles bewegt sich gemäß eines einzigen Ritus. Selbst der Mensch. Ein Geheimnis, das heißt ein Wissen, das heißt eine Macht, hat seine eigene organische Zeit, und eine einzelne kleine Zelle, weiter entwickelt als die anderen, kann nicht die Macht ihres Wissens verkörpern, das heißt die Welt verändern, die Blütezeit des großen Baumes beschleunigen, wenn nicht das übrige evolutionäre Terrain bereit ist.
Aber die Zeit ist gekommen.
Sie ist gekommen, treibt Knospen, schlägt überall auf der Erde aus, selbst wenn diese unsichtbare Blume noch als Eiterbeule erscheint: Studenten in Kalkutta enthaupten eine Statue Gandhis, die alten Götter zerfallen zu Staub, die intellektuellen und philosophischen Geister schleudern Parolen der Zerstörung in die Welt und rufen die Barbaren der Fremde, wie die alten Römer, um ihr eigenes Gefängnis niederreißen zu helfen; andere rufen nach künstlichen Paradiesen - gleich welcher Weg, bloß nicht mehr dieser eine! Und die Erde keucht und ächzt aus all ihren Rissen und Spalten, ihren unzähligen Spalten, aus allen Zellen ihres großen, sich wandelnden Körpers. Die sogenannten "Übel" unserer Epoche sind heimliche Geburtswehen, die wir noch nicht zu verstehen gelernt haben. Wir stehen vor einer neuen evolutionären Krise, die nicht minder radikal ist als die erste menschliche Abweichung unter den großen Affen.
Da aber der terrestrische Körper eins ist, ist das Heilmittel eins, wie die Wahrheit, und ein einziger transmutierter Punkt transmutiert alle übrigen. Dieser Punkt liegt jedoch in keiner Reform unserer Gesetze, Systeme, Wissenschaften, Religionen, weltanschaulichen Schulen oder "ismen" jedweder Farbe - all das ist noch Teil der alten Mechanik, es gilt nicht irgendeinen Bolzen irgendwo fester anzuziehen, etwas hinzuzusetzen oder zu verbessern, wir stecken voll und ganz in der Erstickung. Dieser Punkt liegt ebensowenig in unserer Intelligenz - sie hat ja die ganze Mechanik konzipiert - noch in einer Besserung des Menschen, denn das wäre nichts als eine Verherrlichung seiner Schwächen und seiner vergangenen Größe. "Die Unvollkommenheit des Menschen ist nicht das letzte Wort der Natur," sagte Sri Aurobindo, "seine Vollkommenheit jedoch ist ebensowenig der letzte Gipfel des Geistes."2 Dieser Punkt liegt in einer für unseren Intellekt unvorstellbaren Zukunft, die aber im Herzen des Wesens wächst, wie die Blüten des Flamboyanten nachdem alle Blätter gefallen sind.
Nichtsdestoweniger gibt es einen Hebel in die Zukunft, begeben wir uns nur zum Herz der Sache. Was aber ist dieses Herz, wenn es nicht in all dem zu finden ist, was wir nach unseren menschlichen Normen für schön, gut und wahr halten? ... Eines Tages versuchten die ersten Reptilien, die das Wasser verlassen hatten, zu fliegen, die ersten Primaten, die den Dschungel hinter sich gelassen hatten, warfen einen fremdartigen Blick in die Welt: ein und derselbe unwiderstehliche Drang veranlaßte sie, einen anderen Zustand zu betrachten; und vielleicht war die gesamte transformative Kraft in diesem einen einfachen Blick auf etwas anderes enthalten, als besäße dieser Blick - dieser Ruf, der unbekannte Punkt, der schreit - die Macht, die Quellen der Zukunft zu entsiegeln.
Denn dieser Punkt enthält in Wahrheit alles, vermag alles, ist ein Funke des solaren Selbst, unzählig und einzig, der im Herzen der Menschen und Dinge scheint wie in jedem Punkt des Raumes, in jeder Sekunde der Zeit, in jeder Schaumflocke, der unablässig zu jenem Immer-Mehr wird, das er im Bruchteil einer Lichtsekunde erblickte.
Die Zukunft gehört jenen, die sich vorbehaltlos der Zukunft hingeben.
Und wir behaupten, daß es eine Zukunft gibt, die weit herrlicher ist als alle elektronischen Paradiese des Mentals: der Mensch ist ebensowenig das Ende, wie der Archeopteryx die Krönung der Reptilien war - denn wo überhaupt könnte die große evolutionäre Welle enden? Und heute ist es klar erkenntlich: wir scheinen immer neue und immer großartigere Maschinen zu entwerfen, stecken die Grenzen des Menschlichen immer weiter aus, dringen selbst bis Jupiter und Venus vor. Tatsächlich aber erscheint es nur so, die Lage wird zunehmend unerträglicher, nähert sich dem Ersticken, und nichts wird in Wahrheit weiter gesteckt: wir katapultieren ein mitleiderregendes kleines Menschenwesen bis an die Grenzen des Kosmos, obwohl es sich nicht einmal um seine eigene Sippschaft zu sorgen versteht und nicht weiß, ob seine Höhlen einen Drachen beherbergen oder ein Baby, das weint. Unser Fortschritt ist in Wirklichkeit gleich Null, wir blähen einzig unseren mentalen Heißluftballon völlig außer Proportionen, auf daß er uns jeden Augenblick ins Gesicht platzt. Wir haben den Menschen nicht verbessert, wir haben ihn nur kolossalisiert. Und es konnte nicht anders sein, der Fehler liegt in keinem Mangel unserer Tugend oder unseres Intellekts, denn selbst aufs äußerste angestrengt können diese nichts anderes ergeben als Superasketen oder Supermaschinen: also Monster. Ein asketisches Reptil in seinem Loch stellt nicht mehr einen evolutionären Gipfel dar als ein asketischer Mönch. Oder steigen wir gleich aus. In Wahrheit besteht der Gipfel des Menschen - oder der Gipfel von was auch immer - nicht in der graduellen Vervollkommnung der betreffenden Gattung, sondern in "etwas" radikal anderem, das nicht seiner Gattung angehört und das er zu werden bestrebt ist. So lautet die evolutionäre Gesetzmäßigkeit. Der Mensch ist kein Endzweck, er ist ein "Übergangswesen" wie Sri Aurobindo vor langer Zeit sagte,3 er befindet sich auf dem Weg zum Übermenschen, so unabdingbar wie die äußerste Knospe des äußersten Astes bereits im Samen des Mangobaumes enthalten ist. Und unsere einzige wirkliche Aufgabe, unser einziges Problem, die einzige Frage aller Zeiten, die es zu lösen gilt und die unser riesiges terrestrisches Schiff in all seinem ächzenden Spanten- und Sparrenwerk auseinanderreißt, ist: wie läßt sich die Passage bewerkstelligen?
Auch Nietzsche hatte das gesehen. Sein Übermensch allerdings war eine Kolossalisierung des Menschlichen, wir haben ihn über Europa stürmen sehen; damit war kein evolutionärer Fortschritt erreicht, sondern ein Rückfall in die alte Barbarei der blonden oder brünetten Bestie des menschlichen Egoismus. Kein Supermann tut uns not, sondern etwas anderes, das bereits im Herzen der Menschen stammelt und das sich so sehr vom Menschen unterscheidet wie Bachs Kantaten von den ersten Grunzlauten der Hominiden. Und in Wahrheit sind Bachs Kantaten armselig, wenn das innere Ohr sich den Harmonien der Zukunft zu öffnen beginnt.
Diese Öffnung, diese Passage wollen wir im Licht dessen zu ergründen versuchen, was wir von Sri Aurobindo und jener, die sein Werk weiterführte, gelernt haben, den modus operandi des Übergangs, damit wir den Hebel selbst ergreifen und methodisch an unserer eigenen Evolution arbeiten können - experimentelle Evolution betreiben können - so wie andere in Reagenzgläsern Embryos züchten, wobei sie vielleicht nichts weiter als das Echo ihrer eigenen Ungeheuer zu hören bekommen.
Das Geheimnis des Lebens liegt nicht im Leben selbst, jenes des Menschen nicht im Menschen, desgleichen wie "das Geheimnis des Lotus nicht im Morast liegt, aus dem er treibt," wie Sri Aurobindo sagt,4 und dennoch verbinden sich Morast und Sonnenstrahl und erlangen zusammen einen höheren Grad von Harmonie. Diese Verbindungsstätte, diesen Transmutationspunkt gilt es zu finden. Dann werden wir vielleicht wiederentdecken, was ein stilles Kind am Strand in der wilden Schaumflocke sah, und die höchste Musik, die die Welten webt, und das eine Wunder, das seiner Zeit harrt.
Und das, was menschenunmöglich erschien, wird ein Kinderspiel.
I. Die Mentale Festung
Unsere Schwierigkeiten entstammen stets der Illusion, daß wir die einzigen seien, die sie zu lösen hätten. Wenn unsere intellektuelle Macht (oder Ohnmacht) nicht eingreift, wenn unsere mehr oder weniger großen Fähigkeiten nicht engagiert sind, glauben wir unser Bemühen zum Scheitern verurteilt. Derart ist die tiefsitzende Überzeugung des mentalen Menschen. Ihre Folgen kennen wir nur zu gut. Aber auch wenn sie innerhalb ihres Rahmens fehlerlos wäre, birgt diese Vorgangsweise doch einen kapitalen Fehler, nämlich nur das erreichen zu können, was bereits in unserer Intelligenz und unserer Muskelkraft angelegt ist - ausgenommen das Leben vereitelt unsere Pläne durch unvorhergesehene Einflüsse. Mit anderen Worten: unsere mentale Existenz ist ein geschlossenes System. Nichts kann in sie eindringen außer dem, was wir hineinstecken. Hier liegt der Grundstein der Großen Festung. Ihre zweite unausweichliche Charakteristik ist die strenge Mechanik ihrer Abläufe: alles verläuft im geschlossenen Kreislauf des Denkens, der Planung oder der besagten Muskelkraft, die wir einsetzen, da ja nichts hinzutreten vermag als das, was wir selbst zusammengebraut haben. Und alles ist quantifiziert bis auf das kleinste Dyn, Zentidyn und Millidyn, das wir aufwenden: das Maß stimmt - oder ist knapp, aber auch das wurde im eingesetzten Intelligenz-Quotienten bereits berücksichtigt. Das heißt, das System ist bis in die letzte Ritze vollkommen hermetisch vernietet und versiegelt. Es gibt nicht den geringsten Sprung, außer, wiederum, das Dasein wirft unsere unantastbaren Messungen mehr oder weniger unpassend über den Haufen. Ihre dritte unausweichliche Charakteristik folgt aus den beiden anderen, es handelt sich um ihre vollkommene "Objektivität": nichts entgeht ihrer Aufmerksamkeit, oder das, was ihr entgeht, ist von vornherein genau kalkuliert, in Gleichungen gesetzt und "programmiert", um in den Kreislauf der Maschine zurückgeführt werden zu können und den Ballon weiter aufzublasen, wenn es an der Reihe ist. Selbstverständlich ist alles objektiv, denn jedermann trägt ja identisch getönte Gläser, selbst unsere Instrumente gehen auf das genaueste mit den Ergebnissen konform, die wir von ihnen erwarten. Kurz, das System ist durch und durch auf das Vollkommenste und Strengste vorprogrammiert. Wir haben einen mentalen Kreis gezogen, wie der Zauberer von damals, sind mitten hineingetreten, und dort stehen wir nun.
Doch genau das kann sich als ungeheure Illusion offenbaren.
Tatsächlich zerplatzt die Illusion uns selbst zum Trotz. Das, was uns als gräßliche Verwirrung erscheint, ist ein großes Aufgebot neuer Energien, die einen frischen Wind in die Lungen von uns mentalisierten Erdlingen blasen... "Neue Energien", in diesen Worten schwingt etwas von Mystik mit, wogegen der Materialist heftig protestieren würde. Wir sollten uns aber eingestehen (bevor uns die Umstände mit der Nase im Staub dazu zwingen), daß unsere Materialisten von heute ebenso veraltet sind wie die Religionsanhänger von gestern, ihr System ist kurzgeschlossen, vernietetet, vorprogrammiert und veraltetet. Der eine wie der andere ist Produkt des mentalen Kreises, die Kopf- und Kehrseite derselben Medaille, die sich zunehmend als Falschmünze erweist. Es geht nicht um Gott oder Nicht-Gott, sondern um etwas anderes; es geht darum, aus dem Kreis auszutreten und zu entdecken, wie man auf der anderen Seite atmet - und man atmet dort sogar ausgezeichnet, als hätte man niemals vorher geatmet, als wäre es überhaupt unser erster Atemzug auf der Welt.
Wir bewerkstelligen die Passage also nicht durch eigene Kraft; wäre das die Bedingung, könnte keiner es tun, außer die spirituellen Athleten. Aber selbst diese Athleten, randgefüllt mit ihren Meditationen, Konzentrationen und Askesen, schaffen es nicht wirklich, auch wenn sie den Anschein geben mögen: sie blähen lediglich ihr spirituelles Ego (eine schlimmere Form als die anderen, viel tückischer, denn es kleidet sich in ein Körnchen Wahrheit) und ihre Illuminationen sind nichts weiter als die Entladungen der Wolken, die sie um sich gesammelt haben. Die innere Logik der Passage ist einfach: man kann nicht allein durch die Kraft des Kreises aus dem Kreis ausbrechen, sowenig der Lotus allein durch die Kraft des Morastes aus diesem herauswächst. Es erfordert einen kleinen Sonnenstrahl. Und weil sie nur die ätherischen Gipfel des mentalen Ballons berührt hatten, produzierten die Asketen und Heiligen und Religionsstifter aller Epochen die eine oder die andere Kirche, die auf seltsame Weise dem geschlossenen System glich, von dem sie ausgegangen waren, das heißt, es gab ein Dogma, eine Reihe von Bestimmungen, eine Gesetzestafel, einen einzigen und alleinigen Propheten, der das Licht der Welt im gesegneten Jahr 000 erblickte, und um den sich die Heilsgeschichte dreht, auf immer fixiert auf das Jahr 000, wie das Elektron um den Atomkern, die Sterne um die Achse des Kleinen Bären und der Mensch um seinen Nabel. Oder, sind sie tatsächlich aus dem Kreis ausgebrochen, dann nur im Geiste, und die Erde und die Körper wurden ihrem gewohnten Zersetzungsprozeß überlassen. Es mag wohl sein, daß jede dieser neuen Weltachsen weiser, luminöser, wertvoller und tugendhafter war als die vorangehenden und dem Menschen geholfen hat, doch am mentalen Kreis hat sich nichts geändert, wie man seit Jahrtausenden sieht - denn ihr Licht war nur die Kehrseite ein und desselben Schattens, das Weiß des Schwarz, das Gute des Bösen, die Tugend der entsetzlichen Misere, die uns alle in den Windungen unserer Höhlen packt.
Diese unversöhnliche Dualität, die das gesamte Leben des mentalen Menschen überschattet und beherrscht - ein Leben, das nur das Leben des Todes ist - kann augenfälligerweise auf gerade dieser Ebene der Dualität nicht gelöst werden: ebensogut könnte man seine rechte Hand nehmen und damit die linke niederzukämpfen versuchen. Genau das hat das menschliche Mental, ohne großen Erfolg, auf allen Ebenen seiner Existenz zu leisten versucht, seinen Himmel der Hölle gegenübergestellt, seine Materie dem Geist, seinen Individualismus dem Kollektivismus oder gleich welchem anderen der verschiedenen "ismen", von denen es in dieser unglücklichen Sphäre nur so wimmelt. Der Ausweg liegt in keinem Erlaß irgendeines perfektionierten "ismus": ihres Himmels beraubt, ist unsere Erde ein armselig leerlaufendes Getriebe; seiner Materie beraubt, ist unser Himmel ein bleicher Nebel, in dem die schweigenden Medusen entkörperter Geister schweben; und der Individuen beraubt, sind unsere Gesellschaften ein gräßlicher Ameisenhaufen; selbst seiner "Sünden" beraubt, verliert das Individuum einen Spannungspol, der ihm in seiner Entwicklung half. Die Wahrheit ist, daß keine Idee, so großartig sie auch sein mag, die Macht hat, die Konstrukte des Mentals aufzulösen - aus dem guten Grunde, daß diese Konstrukte ihren Wert und ihre Zeit haben. Aber auch es hat seine Zeit, wie die Spore, die über das Land streicht, bis sie eines Tages günstigen Boden findet und aufbricht.
Und tatsächlich besteht der Ausweg nicht in einer Idee, sondern in einem organischen Fakt.
Die Natur lehrt uns beständig, daß sie ausgezeichnete Gründe für ihr Wirken hat; wir halten uns für ihr überlegen, weil wir sie mentalisieren, klassifizieren und einige ihrer Geheimnisse ausbeuten, doch bei all dem unterliegen wir noch ihren Gesetzen. Wenn sie wirklich fähig war, aus fahlem Protoplasma die schillernden Tentakel der Aktinien zu entwickeln, damit sie ihre Beute besser greifen können, und all die Millionen Arten bildete, um uns die Regenbogenpalette dieser guten Erde darzubieten, dann ist anzunehmen, daß sie auch gute Gründe hatte, die menschlichen Aktinien zu bilden, von denen jede im polychromen Netz ihrer Tausenden von Gedanken, Gefühlen und Impulsen die Beute ergreift, die sie fassen kann. Wenn der mentale Kreis, diese beunruhigende Hydra, sich um unsere menschliche Art gelegt hat, dann ist das mit Sicherheit keine nutzlose Falle, über die wir uns hätten hinwegsetzen können, wären wir nur etwas gewitzter gewesen. Denn wozu ihn schaffen, wenn er zu nichts weiter da ist, als überwunden zu werden? Hätte einer der visionären Hirten aus der Zeit der Upanishaden bereits unmittelbar den Sprung zum Übermenschen vollführen können, so wäre es evolutionär unerklärlich, wofür all der Schmerz und all das Blutvergießen gut gewesen sein soll. Nichts auf der Welt ist überflüssig, das Leiden, das nicht eine geheime Sprengkraft des Wachstums in sich birgt, muß noch gefunden werden.
Doch der Nutzen des Mentals liegt überhaupt nicht in dem, was es sich in der Arroganz seines Wissens und seiner Entdeckungen gerne einbildet, denn das Mental verwechselt stets das Instrument mit dem Meister. Wir hielten das mentale Werkzeug für Zweck und Mittel zugleich und glaubten, dieser Zweck bedeute eine zunehmend größere, siegreichere und strengere Herrschaft des mentalen Terrains, das es mit prächtigen Städten und weniger prächtigen Vorstädten ausgestattet hat. Hierbei handelt es sich aber lediglich um einen Sekundärzweck, um ein lautes Nebenprodukt, und es zeigt sich, daß die fundamentale Wirkung des Mentals im Menschen nicht die ist, ihn intelligenter zu machen (intelligent in Bezug auf was? die Maus in ihrem Loch besitzt eine ausgezeichnete Intelligenz für das ihr eigene Revier), sondern ihn innerhalb seiner eigenen Art zu individualisieren und ihm die Fähigkeit zur Abweichung, zur Veränderung zu geben - wohingegen die übrigen Arten unveränderlich und allein als allgemeiner Typus individualisiert waren - und ihn schließlich zu befähigen, einen Blick vorauszuwerfen auf das, was seinen eigenen Zustand überschreitet. Mit dieser Individualisierung und der Macht der Veränderung nehmen die "Irrtümer" des Menschen, seine "Sünden", seine schmerzliche Zerrissenheit ihren Anfang; seine Macht zum Irrtum aber ist gleichfalls seine verborgene Macht zum Fortschritt, und eben aus diesem Grund scheitern unsere selbstgerechte Moral und unsere makellosen Himmel und werden das auch bis in alle Ewigkeit weiter tun: denn ohne Irrtum und Tadel wären wir eine stagnierende und unfehlbare Art wie die Mollusken oder das Opossum. Anders gesagt, das Mental ist ein Instrument der beschleunigten Evolution, ein "Evolutionär" oder Entwickler. In fünfzig Jahren wissenschaftlicher Entwicklung hat der Mensch größere Fortschritte gemacht als in allen vorwissenschaftlichen Jahrtausenden zusammengenommen. Aber Fortschritte in welchem Sinne? Gewiß nicht im Sinne seiner eitlen, trügerischen Herrschaft, nicht in besserem Leben oder besserem Sein, sondern im Sinne der mentalen Sättigung der Art. Einem Kreis kann man nicht entrinnen, bevor man ihn individuell und kollektiv, voll und ganz durchlaufen hat. Es ist nicht möglich, allein auf die andere Seite zu gelangen. Die Passage gelingt jedermann (oder steht zumindest jedermann offen) oder niemandem, die Art als Ganzes entwickelt sich weiter, denn es gibt nur einen menschlichen Körper. Anstelle einer Handvoll Eingeweihter, die unter einer Masse von ignoranten und semi-animalischen Menschen verstreut sind, ist es die Spezies als Ganzes, die im Begriff steht ihre Initiation zu bewerkstelligen, oder in der Sprache der Evolution, die ihre äußerste Veränderung bewirkt. Wir haben den mentalen Kreis nicht durchlaufen, um Raketen zum Mond zu schießen, sondern um individuell, unzählig und willentlich fähig zu sein, die Passage in den höheren Kreis zu vollziehen. Der Bruch des alten Kreises ist der große organische Fakt unserer gesamten Epoche. Und alle Dualitäten, die Gegenpole, die Laster der Tugenden und die Tugenden der Laster, das gesamte schillernde Chaos sind Instrumente der Arbeit, Spannungsfelder oder "Tensoren", wenn man so will, die uns auf Biegen und Brechen gegen die Eiserne Mauer drängen - eine Mauer der Illusion. Doch die Illusion fällt erst dann, wenn man sie wahrhaben will.
Soweit unsere gegenwärtige Lage. Die Illusion ist noch nicht besiegt, sie tobt sogar mit nie dagewesener Gewalt, gerüstet mit all den Waffen, die wir so eilfertig für sie aufpoliert haben. Doch dies sind die letzten Konvulsionen eines Kolosses, der auf tönernen Füßen steht - der in Wahrheit ein Gnom ist, ein überdimensionierter Gnom mit Stahlhelm und eisernen Kiefern. Die Weisen des alten Indiens wußten das wohl. Sie gliederten die menschliche Evolution in vier konzentrische Kreise: denjenigen der Weisen und Gelehrten (Brahmanen), die in der Frühzeit der Menschheit, in dem "Weltalter der Wahrheit" lebten, dem darauf folgenden der Edlen und Krieger (Kshatriya), in dem nur "dreiviertel der Wahrheit" verblieben; dem weiter folgenden der Händler und Bürger (Vaishya), die nur noch die "Hälfte der Wahrheit" besaßen; und schließlich dem unsrigen, der Epoche des "kleinen Menschen", der Shudras, den Knechten und Dienern (der Maschine, des Egos, der Gier), dem großen Proletariat der reglementierten, parzellisierten Freiheiten - des "Finsteren Weltalters", Kali Yuga, in welchem überhaupt keine Wahrheit mehr verbleibt. Gerade weil jedoch dieser letzte Kreis der extremste ist, weil alle Wahrheiten versucht, erschöpft wurden, weil alle nur möglichen Wege und Abwege durchlaufen sind, berühren wir nun die echte Lösung, die wahre Lösung im Anbruch eines neuen Weltalters der Wahrheit, dem "supramentalen Zeitalter" von dem Sri Aurobindo sprach, wie die Butterblume, die ihre letzte Hülse bricht, bevor sie ihr goldenes Inneres freilegt. Wenn die Entsprechung zwischen dem großen Kollektivkörper und unserem Körper stimmt, könnte man sagen, daß das Zentrum, welches das Zeitalter der Weisen beherrschte, sich auf der Höhe der Stirn befand, während dasjenige des Zeitalters der Edelmänner auf dem Niveau des Herzens situiert war, dasjenige des Zeitalters der Händler sich auf den Bauch konzentrierte, und schließlich das für unser Zeitalter zutreffende auf dem Niveau der Materie und des Geschlechts liegt. Der Abstieg ist vollendet. Dieser Abstieg aber beinhaltet einen Sinn, und zwar einen Sinn für die Materie. Wären wir für immer und ewig auf Stirnhöhe göttlicher Wahrheiten des Mentals verblieben, niemals wäre diese Erde, dieser Körper transformiert worden, und die Lösung wäre aller Wahrscheinlichkeit nach eine Flucht in irgendeinen Himmel des Geistes gewesen oder eine Auflösung in irgendein Nirvana. Jetzt hingegen muß alles transformiert werden, selbst die Materie und der Körper, denn wir stecken ja voll und ganz in ihm; durch eine sublime Ironie erscheint dies als größter Dienst, den das finstere Weltalter uns mit seiner Wissenschaftlichkeit und seinem Materialismus erwiesen hat: solch ein Eintauchen des Geistes in die Materie zu erzwingen, daß nichts bleibt, als sich in ihr zu verlieren oder sich mit ihr zu transformieren. Das absolute Schwarz ist nichts als der Schatten einer gewaltigeren Sonne, welche die Abgründe durchpflügt, um eine dauerhaftere Schönheit hervorzubringen, die sich auf den geklärten Grund unseres terrestrischen Unterbewußtseins gründet und bis in die letzten Zellen unseres Körpers aufrecht eingeht.
O Du gewaltenbeherrschtes, schicksalsgetriebenes,
erdgeborenes Geschlecht,
O Ihr kleinlichen Abenteurer einer unendlichen Welt,
Und Sklaven einer Zwergenmenschheit,
Wie lange wollt ihr in dem leeren Kreislauf des Mentals treten
Um Euer kleines Selbst und schale Dinge? ...
Ein Seher, ein kühner Schöpfer lebt in Euch.
Makellose Größe schwebt über Euren Tagen,
Allmächtige Gewalten liegen in den Zellen der Natur verborgen.5
Diese (für uns) unmögliche Aufgabe ist nichts weniger als unmöglich für die Große Vollenderin, die das evolutionäre Spiel bis zu diesem kritischen Punkt getrieben hat. Sie ist es, die vermag. Ihre stillen Reserven gilt es zu ergreifen oder vielmehr sich von ihr ergreifen zu lassen und mit intimstem Verständnis der Großen Wandlung an unserer eigenen Evolution mitzuarbeiten. Keine der athletisch-spirituellen Tugenden des alten geschlossenen Systems sind hier von Nutzen, sondern eine Art radikaler Sprung ist notwendig, voll bewußt und mit weit offenen Augen, mit einer einfachen Hingabe seiner selbst an die Götter der Zukunft, mit dem entschiedenen Entschluß, die ungeheure Illusion bis in die letzten Winkel zu verfolgen, mit einer höchsten Öffnung für die höchste Möglichkeit - die uns in ihre Arme nimmt und uns auf ihren Sonnenweg führt, bevor wir uns angeschickt haben, auch nur das Viertel eines Schrittes auf sie zuzugehen. Denn in Wahrheit gibt es "Augenblicke, in denen der Geist sich unter den Menschen bewegt ... es gibt andere, in denen er sich zurückzieht und sie ihren Taten überläßt, gemäß der Kraft oder Schwäche ihres eigenen Egoismus. Erstere sind Perioden, in denen selbst eine kleine Anstrengung große Ergebnisse zeitigt und das Schicksal verändert..."6
In Wahrheit befinden wir uns in genau einem solchen Augenblick.
II. Die Große Wandlung
Das Geheimnis eines Kreises liegt in dem unmittelbar darauffolgenden Kreis, desgleichen wie das Geheimnis des Pfeils in dem Ziel liegt, das er verfolgt; und gelänge es uns, ihn bis zu seinem Meisterschützen zurückzuverfolgen, erhielten wir das Geheimnis der Geheimnisse, den zentralen Punkt, der diesen Kreis bestimmt, das Ziel aller Ziele. Aber es heißt, die Entdeckung sei langwierig und daß wir Schritt für Schritt zurückgehen müssen, vom Werkzeug zur Hand, die dieses Werkzeug führt, da wir selbst am Anfang ja dieses Werkzeug gewesen sind: eine kleine vitale Antenne, die um ein Selbst im Leben herum tastet, bevor sie sich als Nachtfalter oder als Tausendfüßler erkennt, eine kleine mentale Antenne, die unerklärlicherweise im Radius eines agilen Selbst vibriert, bevor sie sich als Mensch unter Menschen entdeckt, und dann diese andere, noch undefinierte Antenne, die sich der Sinne und des Denkens zu entschlagen scheint, um uns auf ein anderes, noch größeres Selbst stoßen zu lassen. Bis auf den Tag, an dem wir das Große Selbst erreichen und unsere Erfüllung finden; dann werden wir den Meister aller Werkzeuge gefunden haben und die volle Bedeutung der Reise.
Für uns aber, die wir am Ende des mentalen Kreises stehen, in diesem Zeitalter der Sklaven des Egos und der zweifelhaften Genüsse eines kleinen denkenden Ichs, wie können wir das Geheimnis dessen in Erfahrung bringen, was uns jetzt noch als unbegrenztes und beunruhigendes Nicht-Ich erscheint, vielleicht sogar als destruktiv gegenüber dem, was wir so unverrückbar als Ich kennen? ... Um die Wahrheit zu sagen, der Weg entsteht, indem man ihn geht, wie im Urwald. Es gibt keinen Weg, er existiert nicht: man muß ihn bahnen. Und haben wir Blinden gleich die ersten Schritte getan, so stellen wir fest, daß dieses Vortasten uns zu einer ersten Lichtung führt und daß wir die ganze Zeit, selbst in unserem dunkelsten Straucheln, von einer unfehlbaren Hand geleitet wurden, die bereits unsere Tausendfüßler-Wanderungen leitete, da in Wahrheit das Ziel, das wir suchen, bereits in uns liegt, es ist ein ewiges Ziel. Es hat eine jahrmillionenalte Zukunft, die so jung ist wie ein Kind, das gerade geboren wird: es öffnet allem gegenüber die Augen, steht in andauerndem Staunen. Es zu finden, bedeutet in einen Zustand beständigen, höchsten Erstaunens einzutreten, in eine Weltengeburt in jedem Augenblick.
Zumindest haben wir verschiedene Orientierungspunkte, um die ersten Schritte zu tun, und wenn wir uns fragen, wie die Zukunft des Menschen aussieht ("fragen", nicht im Sinne des Theoretikers, der sein eitles Netz webt und eine Idee an die andere reiht, allein um die ewig selbe Geschichte aufzubauschen, sondern im Sinne des Seemannes, der den Kurs für den nächsten Tag bestimmt und sein Kap peilt, weil er eine Passage zu bewältigen hat und die Brecher über die Klippen rollen), dann können wir vielleicht einige Koordinaten entdecken, indem wir den alten animalischen Kreis betrachten, als wir noch die Zukunft des Affen waren.
Das Tier ist einfach. Es geht ganz auf in seinen Krallen, seiner Beute, seinen Sinnen, im Nordwind, der den unmerklichen Geruch des Regens herüberträgt, und dem Bild einer Hindin zwischen den hohen Gräsern. Ist es nicht mit etwas beschäftigt, so ist es vollkommen ruhig, ohne die leiseste Regung des Zweifels über Vergangenheit oder Erwartung der Zukunft. Es tut genau das, was notwendig ist, in der Minute, in der es notwendig ist. Und was das übrige angeht, befindet es sich in Harmonie mit dem universellen Rhythmus. Als jedoch die ersten Menschenaffen ihre Wälder verließen, war das schon nicht mehr so, sie warfen einen weniger unmittelbaren Blick in die Welt: die Vergangenheit hatte bereits ihr Gewicht und die Zukunft ihre Sorgen - sie waren dabei die Selbsterkenntnis ersten Grades zu vollziehen, etwas, das wir mit seiner Bürde des Schmerzes und der Irrtümer nur zu gut kennen. Und das, was von der Logik des Affen aus betrachtet als solch eitle und nichtige Übung erschien, wurde zum Grundstein unseres gewaltigen mentalen Gebäudes: alles, selbst Einstein, war darin enthalten, in dieser ersten vollkommen überflüssigen Bewegung. Und am Rand jener anderen Art von Wäldern aus Beton und Titanium befinden wir uns vielleicht vor einem ähnlichen, noch gewaltigeren Geheimnis, ebenso "überflüssig", wenn wir inmitten des Ansturms der Außenwelt einen Augenblick innehalten, diesmal nicht um zu reflektieren, sondern um einen stummen und wie geblendeten Blick auf diese erste Person zu werfen, die denkt, kalkuliert, leidet und kämpft. Hier setzen wir eine seltsame neue Antenne ein, die kaum einen Sinn hat, sich wie in pechschwarzer Nacht vortastet, und die doch das Geheimnis des nächsten Kreises in sich birgt und Wunder, neben denen sich die prächtigen Raketen des zwanzigsten Jahrhunderts wie barbarisches Kinderspielzeug ausnehmen. Wir vollziehen die Selbsterkenntnis zweiten Grades; wir schlagen an die Tür des Unbekannten des dritten Kreises und folgen dem Leitfaden der großen Wandlung.
Die Geheimnisse sind einfach, haben wir gesagt; unglücklicherweise machte das Mental sich dies zunutze, wie es sich alles zunutze macht, und stellte es in den Dienst seines mentalen, vitalen und spirituellen Egos. Es entdeckte die Kräfte der Meditation und Konzentration, die subtilen Energien, die höheren Ebenen des Mentals, die gleich dem göttlichen Ursprung unserer Existenz waren, Lichter, die weder vom Mond noch von den Sternen kamen, unmittelbarere und beinahe übermenschliche Fähigkeiten - es erklomm die Leiter des Bewußtseins -, all das aber hatte nichts weiter zur Folge, als eine abgehobene Menschheit weiter abzuheben und zu sublimieren; sie in der Tat so weit zu sublimieren, daß es keinen anderen Ausweg aus diesem Kletterakt mehr zu geben schien, als einen letzten verzweifelten Sprung aus der Zerrissenheit der Dualität heraus in den unveränderlichen Frieden der ewigen Wahrheiten. Und einige Seelen mögen "gerettet" worden sein, während die Welt weiter ihre obskure Runde dreht, die zunehmend und zunehmender obskur wird. Und das, was das Geheimnis der Erde hätte sein sollen, ist zum Geheimnis des Himmels geworden. Die entsetzlichste Kluft aller Zeiten tat sich auf, die finsterste aller Dualitäten schrieb sich in das Herz der Erde. Und genau jene, welche die höchsten Einiger der menschlichen Gattung hätten werden sollen, wurden ihre Zerteiler, wurden die Väter des Atheismus und des Materialismus, und all der "ismen", die sich die Welt abnötigen: die verhöhnte Erde hat keine andere Wahl, als ausschließlich an sich selbst und ihre eigenen Kräfte zu glauben.
Der Schaden reicht aber noch weiter: es gibt nichts Klebrigeres als die Lüge, sie haftet selbst dann noch an unseren Fersen, wenn wir uns vom falschen Weg abgewandt haben. Andere sahen die irdische Bedeutung der großen Wandlung - die Zen-Buddhisten, Tantriker, Sufis und andere -, und mehr und mehr kommen desorientierte Geister darauf und auf sich selbst zurück: nie hat es eine solche Flut mehr oder weniger initiatorischer Schulen gegeben. Der alte Irrtum aber ist hartnäckig (das heißt, um die Wahrheit zu sagen, wir wissen nicht, ob man hier oder irgendwo von Irrtum sprechen kann, denn es offenbart sich jedesmal, daß der sogenannte Irrtum ein verschlungener Umweg derselben Wahrheit ist, um eine weitere Vision ihrer selbst zu erlangen). Es kostete die Weisen jener Zeit und die minder Weisen dieser Zeit so viel Mühe und so viele unabdingbare Voraussetzungen des Friedens, der Askese, der Stille und der Reinheit, ihre mehr oder weniger illuminierten Ziele zu erreichen, daß sich in unserem unterbewußten Mental der Gedanke wie mit rotglühendem Eisen eingebrannt hat, daß es ohne besondere Voraussetzungen und besondere Meister und mehr oder weniger besondere und mystische angeborene Eigenschaften nicht möglich ist, sich auf diesen Weg zu begeben, oder daß der Ertrag bestenfalls mager ist und nur in Proportion zur aufgewandten Kraft steht. Und selbstverständlich war es ein individuelles Unterfangen, eine hochgestochene Erweiterung reinen Bücherwissens. Diese neue Entzweiung droht schwerer zu wiegen als die vorherige und noch abwegiger zu sein: die Entzweiung in eine unerleuchtete Masse und eine "erleuchtete" Elite, die mit Lichtern jongliert, über die sich alles und nichts sagen läßt, da sie sich durch kein Mikroskop prüfen lassen. Auch Drogen eröffnen einen billigen Eintritt in abgründige Einblicke und blendende Lichter.
Und es fehlt uns noch immer der Schlüssel, der einfache Schlüssel. Dennoch ist da die große Wandlung, die einfache Wandlung.
Die Methode muß einen tiefgreifenden Fehler bergen, angefangen mit einem Fehler im verfolgten Ziel - was wissen wir tatsächlich vom Ziel, wir, die wir in die Materie versunken sind, geblendet durch den Ansturm der Welt? In unserer ersten unmittelbaren Reaktion rufen wir aus: Hier kann es nicht sein, nicht hier! Nicht in diesem Morast, dieser Schlechtigkeit, diesem Lärm, nicht auf dieser obskuren und lästigen Erde, wir müssen ihr unter allen Umständen entfliehen, uns der Bürde des Fleischs und des Lebenskampfs entledigen, uns von dieser schleichenden Erosion befreien, die uns in Tausende von gierigen Nichtsen hinabzuschlingen droht. Und wir erklärten, das Ziel sei über uns, in einem Himmel der freien Gedanken, einem Himmel der Kunst und der Dichtung und der Musik - gleich welcher Himmel, nur nicht mehr dieser beklemmende Schatten! Wir befinden uns auf Erden, einzig um uns die Freizeit unseres Privat-Himmels zu verdienen, sei er buchstabengrau, fromm, malerisch oder schöngeistig: die großen Ferien des endlich Freien Geistes. So stiegen wir weiter und weiter auf, poetisierten, intellektualisierten, evangelisierten, warfen alles ab, was beschwerlich sein könnte, errichteten einen Schutzwall eremitischer Kontemplationen, Yogas in Klausur, privater Meditationen, zogen als neue Zauberer der Spiritualität den weißen Kreis des Geistes, traten mitten hinein, und dort stehen wir nun.
Vielleicht begehen wir aber gerade damit einen ebenso großen Fehler wie der Lehrlingsmensch in seinen ersten Pfahl-Dörfern, der erklärt hätte, daß das Ziel der mentale Himmel sei, den er tastend endeckte, und daß es nicht in der Widrigkeit seines Alltags läge, in den zu schnitzenden Werkzeugen, den zu fütternden Mündern, den lästigen Fallschlingen, den unzähligen Fangnetzen, sondern in einem fernen Gletscher-Schlupfwinkel oder der australasiatischen Wüste - und der seine Werkzeuge weggeworfen hätte. Und Einsteins Gleichungen hätten niemals das Tageslicht erblickt. Indem der Mensch sein Werkzeug verliert, verliert er sein Ziel; indem wir diese Widrigkeit, Schlechtigkeit, Finsternis, Last des Lebens verlieren, werden wir vielleicht sanft in die Seligkeiten des Geistes entschlafen(?), landen aber weit-weit ab vom Ziel, denn vielleicht liegt das Ziel letztlich hier, genau hier in dieser Grobheit, in dieser Finsternis, in dieser Schlechtigkeit und dieser Last - die nur deshalb grob und finster und belastend sind, weil wir sie für schlecht halten, in gleicher Weise, in der der Menschen-Lehrling seine Werkzeuge für schlecht hielt, unfähig zu sehen, wie die Geste, die den Feuerstein mit der Keule verband, bereits die unsichtbare Verbindung unserer Gedanken mit der Bewegung von Jupiter und Venus herstellte, und wie sich dieser mentale Himmel, in Wahrheit, überall hier unter uns regt und bewegt, in all unseren Gesten und entbehrlichen Akten, so wie unser nächster "Himmel" sich bereits unter unseren Augen regt, lediglich verborgen durch unsere falsche spirituelle Sehweise, gefangen im weißen Kreis eines sogenannten "Geistes", der nichts weiter ist als eine ungefähre Annäherung unsererseits an das nächste Stadium der Evolution. "Das Leben, allein das Leben ist das Terrain unseres Yogas", schrieb Sri Aurobindo.7
Und doch ist da die Wandlung, die große Wandlung, so wie sie schon im Pleistozän begann - dieser Augenblick des Innehaltens, die Selbsterkenntnis zweiten Grades -, tatsächlich aber ist die Bewegung, welche sie dem Affen offenbarte, und jene, welche sie dem Spiritualisten der vergangenen (oder verstorbenen) Epochen eröffnete, kein Indiz der einzuschlagenden Richtung: es besteht keine Kontinuität, das ist ein Illusion! Es gibt keine Verfeinerung innerhalb derselben Bewegung, keine Besserung des Affen oder des Menschen, keine Vervollkommnung des Feuerstein-Werkzeuges oder des Mental-Werkzeuges, keinen stärker forcierten Aufstieg, keinen raffinierteren Gedanke, keine tieferen Meditationen, keine Entdeckungen, die nichts anderes wären als eine Verklärung des Bestehenden, keine Sublimierung der alten Haut, keinen erhabenen Heiligenschein zur Beschönigung der alten Bestie - ETWAS ANDERES, etwas radikal anderes, eine andere Schwelle muß überschritten werden, so radikal verschieden von der unsrigen, wie etwa die Schwelle der Pflanze von der Schwelle des Tieres verschieden war, eine andere Entdeckung des Bereits-Bestehenden, die unsere Welt so völlig verändert, wie die Anschauung des Menschen die Welt der Raupe veränderte - dennoch dieselbe Welt, aber von zwei verschiedenen Blicken betrachtet -, ein anderer Geist, wenn wir so wollen, einer, der so ganz und gar verschieden ist vom religiösen und intellektuellen Geist oder vom großen nackten Geist auf den Höhen des Absoluten, wie das Denken des Menschen verschieden ist vom ersten Zittern der wilden Rose unter der Sonne - dennoch derselbe Geist überall, wenn auch in einer zunehmend größeren Konkretisierung seiner selbst, denn die Bewegung des Geistes vollzieht sich in Wahrheit nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten, und er wird zunehmend dichter in der Materie, denn er ist die eigentliche Materie der Welt, mehr und mehr befreit von unserem falschen Blick als Raupe oder unserem falschen Blick als Mensch oder unserem falschen spirituellen Blick - oder, sagen wir, mehr und mehr wiedererkannt durch unseren wachsenden wahren Blick. Diese neue Schwelle der Sicht hängt vor allem von einem Augenblick des Innehaltens in unserer gewohnten mentalen und visuellen Routine ab - und das ist die große Wandlung, die Selbsterkenntnis zweiten Grades - der Weg aber ist gänzlich neu: es ist ein neues Leben für die Erde, eine andere Entdeckung zu machen; und je weniger wir mit den Weisheiten der Vergangenheit belastet sind, mit vergangenen Höhenflügen, vergangenen Erleuchtungen, ihren Disziplinen und Tugenden, dem ganzen gespreizten Theater der alten Heiligkeiten des "Geistes", desto freier und unbefangener sind wir angesichts der anstehenden Entdeckung und desto unmittelbarer springt uns der Weg wie zauberhaft unter die Füße, als entspränge er gerade dieser totalen Entheiligung.
Der Übermensch, von dem wir sagten, er sei das kommende Ziel der Evolution, ist deshalb in keiner Weise ein äußerster Grad des Menschlichen, eine vergoldete Hypertrophie mentaler Fähigkeiten, genausowenig ist er ein spiritueller Paroxysmus, eine Art Halb-Gott in lichtem Glanz, der ein immenses Bewußtsein wie einen gigantischen Schnellball vor sich her rollt und mit Blitzen und fabulösen Phänomenen und "Erfahrungen" um sich schlägt, die den armen Normal-Nachzügler der Evolution vor Neid erblassen lassen. Wahr ist, daß beides möglich ist, beides existiert: es gibt prächtige Erfahrungen; es gibt übermenschliche Fähigkeiten, die den guten Mann auf der Straße erbleichen lassen würden. Das ist kein Mythos; es ist ein Faktum. Dabei ist die Wahrheit einfach wie immer. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, den neuen Weg zu entdecken, sie besteht darin, das zu bereinigen, was den Blick versperrt. Der Weg ist neu, vollkommen neu, er ist noch nie unter menschliche Augen gekommen, nie von den Athleten des Geistes durchlaufen worden, und wird doch täglich von einer Million normaler Menschen begangen, die nicht wissen, welchen Schatz sie unter ihren Füssen haben.
Wir theoretisieren nicht darüber, was der Übermensch sei, wir wollen ihn nicht erdenken: wir wollen ihn erbauen, wenn möglich unter Meiden der alten Mauern, der alten Lichter, indem wir uns so vollkommen offen wie möglich halten, so getreu wie nur möglich gegenüber der großen Wandlung der Natur - einfach indem wir vorwärts schreiten, denn das ist der einzige Weg, es zu tun, solvitur ambulando. Selbst wenn wir nicht sehr weit kommen, wer weiß, der Zufall mag uns wenigstens zu einer ersten Lichtung führen, die unsere Herzen, Seelen und Körper mit Sonne erfüllt, denn alles hängt zusammen und alles wird gemeinsam erlöst oder nichts.
Danach werden andere kommen und zu einer zweiten Lichtung gehen.
III. Der Sonnenweg
Es gibt zwei Wege, pflegte Sri Aurobindo zu sagen, den Weg der Anstrengung und den Sonnenweg. Der Weg der Anstrengung ist uns wohl bekannt, er herrschte seit Anbeginn über unser mentales Leben, denn wir streben immer nach etwas, das wir nicht haben oder nicht zu haben glauben. Wir sind Wesen voller Defizite, schmerzvoller Löcher und innerer Leeren, die nach Erfüllung heischen, sich aber nie füllen lassen, denn kaum ist eines erfüllt, kommt ein anderes zum Vorschein und zieht uns erneut in seinen Bann. Wir gleichen einer Abwesenheit von etwas, das nie seine Anwesenheit finden kann, außer in seltenen Sternstunden, die alsbald verlöschen und eine noch größere Leere zu hinterlassen scheinen. Wir mögen behaupten, dieses oder jenes oder wiederum etwas anderes fehle uns, es fehlt aber nur eines in all dem: wir fehlen selbst, es besteht eine Abwesenheit des Selbst. Denn das Selbst, das, was ich in Wahrheit ureigentlich selber bin, ist voll und erfüllt, weil es ist: alles übrige vergeht, ist ein einziges Kommen-und-Gehen, ist dabei aber in gar keiner Weise. Wie kann das, was ist, ein Bedürfnis nach etwas anderem haben? Das Tier ist vollkommen in seinem animalischen Selbst, und sobald es seine unmittelbaren Bedürfnisse befriedigt hat, befindet es sich im Gleichgewicht, in Harmonie mit dem Universum. Der mentale Mensch lebt nicht in seinem Selbst, obwohl er dies glaubt - er glaubt sogar an die Größe seines Selbst, denn auch dies muß sich ja quantifizieren lassen, wie alles übrige, es muß also kleinere und größere Größen von Selbst geben, mehr oder weniger gefräßig, mehr oder weniger gerissen oder heilig oder erfolgreich; indem er dies tut, bezeugt der Mensch aber seine eigene Schwäche, denn wie kann das, was Selbst ist, mehr oder weniger Selbst sein? Es ist oder es ist nicht. Der mentale Mensch lebt nicht in seinem Selbst: er lebt wie der Maulwurf oder das Eichhörnchen in der Vorratskammer seiner Anschaffungen.
Wo aber ist dieses schwer faßbare Selbst zu finden? ... Diese Frage zu stellen, heißt an das Tor des nächsten Kreises zu schlagen, heißt eine Selbsterkenntnis zweiten Grades zu vollziehen. Wiederum gibt es nichts darüber zu theoretisieren, was denn dieses Selbst kennzeichne, sondern es experimentell zu entdecken und zu erforschen. Nun, wir haben gesagt, die Methode entfaltet sich im Leben und in der Materie, denn wir können uns gut in unserem Zimmer einschließen und uns des Lärms der Welt entschlagen, uns ihrer Begierden, ihrer Spannungen, ihrer unzähligen Tentakel entschlagen und uns alles auf Armeslänge weit vom Halse halten und in unserem kleinen inneren Kreis vielleicht einige Glimmer des Selbst erheischen, Zustände unsäglicher Transzendenz entdecken, in der Minute aber, in der wir die Tür unseres Zimmers öffnen und die Armeslänge Abstand aufgeben, fällt alles auf uns zurück, wie ein Algenvorhang, der sich um den Taucher legt, und wir stehen genauso da wie zuvor, einzig etwas weniger fähig, den Lärm und Schwarm der kleinen Begierden auszuhalten, die auf ihre Stunde warten. Nicht kraft unserer Tugend oder unserer außergewöhnlichen Meditationen befreien wir uns von diesem Vorhang, sondern durch etwas anderes und auf andere Weise. Denn in Wahrheit ist dieses Selbst, das es zu finden gilt, kein Über-Ich oder Super-Ego, es ist etwas ganz anderes. Wir beginnen folglich dort, wo wir sind, und so, wie wir sind, auf der physischen Ebene, auf der wir uns befinden.
Wir heißen Biedermann oder Jedermann, ein juristisches Konstrukt, das uns in die Große Mechanik eingliedert und in einen vagen Stammbaum, von dem wir nicht viel mehr wissen, als daß wir der Sohn des Vaters sind, welcher der Sohn des Vaters war, welcher der Sohn des Vaters war, und daß wir entsprechend der Vater des Sohnes sein werden, welcher der Vater des Sohnes sein wird, welcher der Vater des Sohnes sein wird, und das in aller Endlosigkeit ohne Ausnahme so fort. Und wir kommen und gehen auf dem Großen Welten-Boulevard, hier oder dort, in einem Paris, welches mehr und mehr Tokio gleicht, welches mehr und mehr Mexico-City gleicht und schließlich allen Städten der Welt gleicht wie ein Ameisenhaufen dem anderen. Wir nehmen zwar den Jumbojet, doch wir begegnen überall uns selbst. Wir sind französisch oder deutsch, aber offengestanden ist das eine Sache der Geschichte oder der Reisepässe, ein weiteres Konstrukt, das uns an diese oder jene Mechanik kettet, und unser Bruder aus Kalkutta oder Rangoon durchmißt mit seinen Schritten einen gleichen Boulevard mit der gleichen Frage, unter einer gelben, roten oder orangen Fahne. All das sind Überreste aus der Zeit der Jagdgründe, doch es bleibt nicht viel zu jagen übrig, außer unserer selbst, und wir stehen auch im Begriff durch die Planierwalze der Großen Mechanik fein säuberlich eliminiert zu werden. Wir fahren die Rolltreppen herauf und herunter, treffen telefonische Verabredungen und hetzen und hetzen uns für längere Ferien und einen größeren Lebensgenuß, wie unser Bruder unter brauner oder gelber Haut: auf französisch, englisch oder chinesisch werden wir von allen Seiten bestürmt und getrieben und sind uns nicht einmal sicher, ob wir das Leben genießen oder ob das Leben uns genießt. Dessen ungeachtet läuft alles weiter und weiter. Doch in all dem gibt es etwas, das auf- und absteigt, hin- und herhetzt, und mitunter, für eine Sekunde, entsteht ein kleiner Schrei tief innen: Wer bin ich? Wer bin ich? Wo bin ich selbst? Wo ist dieses Ich?
Und diese kleine Sekunde, so eitel und nichtig in dieser gigantischen Hast, ist der wahre Schlüssel der Entdeckung, der allmächtige Hebel, der nach nichts aussieht - aber die Wahrheit, wohlverstanden, sieht nach nichts aus, denn sähe sie wie irgendetwas aus, hätten wir ihr bereits den Hals umgedreht und sie klassifiziert und in die Mechnik eingespannt. Sie ist so leicht, daß sie einem durch die Finger läuft. Sie ist ein Hauch, der verstreicht und alles erfrischt.
Und die Frage dringt etwas tiefer. Tatsächlich dringt sie nicht tiefer oder intensiviert sich: sie ist wie ein erster Ruf nach Sauerstoff, der uns plötzlich deutlich erkennen läßt, wie sehr wir eigentlich in der Erstickung leben; und tiefere Schichten werden sichtbar, subtilere Deckmäntel zeigen sich. Wir sind sehr wohl Karl Jedermann, dieses legale und nationale Konstrukt, dieses Zahnrad, das nur zu gerne aus der Mechanik aussteigen möchte, aber dahinter - was ist hinter Karl Jedermann? Da ist dieser Mensch, der über den Boulevard geht, der auf der großen mentalen Achterbahn auf- und abfährt, der Tausende und Abertausende von Gedanken wiederkäut, von denen nicht einer wahrhaftig zählt noch seinen Schmerz stillt oder sein Verlangen; da ist das, was der letzte Bestseller dachte, was diese Plakatwand oder jene Schlagzeile in die Welt schreit, das, was der Schulmeister oder der Professor zu sagen hatte und der Freund und der Kollege und der Nachbar - Tausende von Passanten, welche die innere Hauptstraße bevölkern -, wo aber ist der, der nicht vorbeigeht, wo ist der Bewohner unserer Behausung? Da ist die Erfahrung von gestern, die mit dem Unfall von vorgestern zusammenhängt, der mit ... ein immenses telekommunikatives Netzwerk mit seinen Schalttafeln, Relais und Direkt-Verbindungen, die in Wahrheit nichts verbinden, außer derselben immerwährenden Geschichte, die sich in den eigenen Schwanz beißt, sich immer weiter aufbläht, sich in sich selbst verwickelt und uns eine Summe der Vergangenheit aufstellt, aus der nie die wahre Gegenwart wird, oder eine Zukunft, die nichts weiter ist, als die Addition von einer Million Handlungen, deren Ergebnis gleich Null ist - wo ist die Handlung, die wahre Handlung? Wo ist das Ich dieser Addition, die Minute des Seins, die kein Ergebnis der Vergangenheit ist, der reine Sonnenstrahl, welcher dieser noch mitleidloseren Mechanik entgeht? Da ist das, was die Väter und die Mütter uns mitgegeben haben und die Bücher, die Priester, die Partisanen und der Tumor des Großvaters und die Wollust des Großonkels und das Wohl des einen und das Unwohlsein des anderen; da sind die Eisernen Gesetzestafeln, die Du-kannst-das-nicht, Du-darfst-jenes-nicht, Newton und die Kirchen, Mendel und das Gesetz von der Teilung der Keimzelle - was aber keimt darinnen wirklich? Wo ist der Keim, der unerwartete reine Samen, der plötzlich aufbricht, das Du-Kannst gleich einem plötzlichen Einbruch von Gnade in diese gnadenlose Runde, bedingt durch die Väter unserer Väter im Schoße der mentalen Festung? Da ist der kleine Biedermann, der seinen Boulevard entlangwandert, der tausendmal in der gleichen Straße auf- und abgeht; innen, außen, es ist alles gleich, gleich einem Nichts, das ins Nichts geht, gleich wer in gleich was, Peter oder Paul mit einem kleinen Unterschied in der Kravatte: zwischen dieser Straßenlaterne und der nächsten ist nichts passiert. Es ist nichts geschehen, keine einzige Sekunde existierte!
Doch plötzlich geschieht etwas, dort auf dem Boulevard, wie ein Ersticken zweiten Grades. Man hält inne, schaut, was passiert sei. Schaut wohin? Man weiß es nicht, aber man schaut. Mit einem Schlag steckt man nicht mehr in der Mechanik; man steckt nicht mehr drin, ist nie drin gewesen! Man ist nicht mehr dieser Karl Jedermann, ist weder Berliner oder Deutscher noch der Sohn des Vaters noch der Vater des Sohnes, weder seine Gedanken noch sein Herz noch seine Emotionen noch heute noch morgen noch dieses Geschlecht noch irgendetwas von all dem - man ist etwas ganz anderes. Man weiß nicht, was, aber es schaut. Man gleicht einem hohen Fenster, das sich öffnet.
Und dann verstreicht es und die Mechanik setzt wieder ein.
Legt man sich aber Rechenschaft ab über den Tag, am Abend, allein in seinem Zimmer, betrachtet die Tausenden von Gesten und Schritten und Gesichtern, das Kommen-und-Gehen des turbulenten Grau, in dem nichts geschehen zu sein scheint, diesen Tag unter den Tausenden von Tagen, die sich wie ein entvölkerter Halbschatten ausnehmen, so sieht man auf einen Schlag, daß ein kleiner Lichtfunken bestehen bleibt, oh, so winzig, so flüchtig, kaum wie ein Leuchtkäfer, der durch die Nacht streift, und das ist diese einzige kleine Sekunde, in der man innehielt inmitten der Hast, die kleine Sekunde aus Nichts, dieses unselige Straucheln, dieser Gedankensprung, dieser Sprung des Seins - das ist alles, was bleibt, es ist die einzige existierende Sekunde, der einzige bewohnte Augenblick, alles, was gewesen ist, in einer Million Minuten wie der Wind.
Von diesem Augenblick an wird das Ersticken sehr intensiv. Es ist als hätte unser Wesen einen unmerklichen Riß im Dunkeln verspürt, einen Spalt, von dem man noch nicht einmal weiß, daß er lichtdurchlässig ist - und was für ein Licht, wo doch alles im Gegenteil noch schwärzer erscheint als vorher? Und wir kommen trotz unserer selbst darauf zurück. Es gleicht einem Hauch eines anderen Sauerstoffs, einer ungreifbaren Veränderung der atmosphärischen Dichte und zugleich einem Feuer, das sich entzündet, ein obskures, schwarzes Feuer, das nichts weiß, außer daß es ein Verlangen hat, ein so dringendes Verlangen nach etwas anderem.
Genug, genug des Denkens, seines Kerzenscheins,
Entfacht, entfacht die Sonnen, die nie vergehen!
Karl Jedermann - der wirklich nichts mehr ist, der weniger und weniger etwas ist, dessen Identität sich durch die Poren der Haut verflüchtigt - hält wieder inne, hält immer häufiger inmitten des Ansturms inne, er stellt keine Frage mehr, erwartet keine Antwort mehr: er ist die Frage geworden, ein lebendiges Feuer von ich weiß nicht was, eine reine, pochende Frage, eine wachsende Abwesenheit, so brennend und heftig, daß sie fast Anwesenheit wird. Jedermann stoppt hier und da, richtet einen stummen Blick auf diesen Anschlag, jenen Herrn im braunen Anzug, diese Millionen von Menschen wie Schatten; er ist nicht einmal mehr ein Gedanke, nicht einmal mehr ein Gefühl: er steht einen Schritt hinter sich selbst, hinter diesem etwas, das sich bewegt, das auf- und abgeht, diesem Relais von Gedanken und Gefühlen, von Erinnerungen und Begierden, alles gleicht einem gut aufgezogenen Uhrwerk - wie lange schon aufgezogen? - das sich wieder und wieder abspult, innen, außen, es ist alles gleich. Aber er ist dieser Punkt des plötzlichen Innehaltens, dieser Schrei des Erstickens, dieser blinde Blick des Neugeborenen in einer Welt, die noch nicht zu sein scheint, und die doch pocht und sich regt, als sei sie das Allein-Existierende in all dieser Inexistenz. Jedermann befindet sich in einem Niemandsland des Seins, in einem herzzerreißenden Nicht-Ich, mitunter so herzzerreißend, daß diese Zerrissenheit der einzige Punkt des Seins darin ist.
Jetzt das Ödland, jetzt die Stille
Eine nackte schwarze Wand
Und dahinter
Himmel
So betrachtet er wieder den Tag, am Abend, allein in seinem Zimmer, und er sieht diese kleinen Sekunden, die unerklärlich funkeln, die sogar so stark strahlen, als würden sie überfließen und alles, was sie berühren, in ihr Licht tauchen; und der Mann in braun, das absurde Poster, der Sonnenstrahl auf der Bank sind wie von einem besonderen Leben erfüllt, wie photographisch im kleinsten Detail festgehalten - sie sind präsent, sie sind. Alles andere ist wie Staub, von einer Tundra der Nichtexistenz verschlungen. Und doch war kein Gedanke in ihm, keine Empfindung, keine Erinnerung, nicht einmal ein Ich, vor allem kein Ich, es war gerade die einzige Sekunde, in der er von all dem frei war, Hals über Kopf in ein schwindelerregendes Nicht-Ich gestolpert.
Und jetzt macht der unbestimmte Wanderer eine andere Entdeckung: Diese kleinen Tropfen von Licht, die überall verstreut sind (ist es Licht? sie gleichen mehr einem plötzlichen Aufbersten in etwas anderes; eine Schwingung, die so rapide ist, daß sie unserer gewohnten Wahrnehmung und unseren gefärbten Übersetzungen entgeht: es schwingt, da ist etwas, das schwingt, gleich einer Note einer anderen Musik, für die wir noch keine Ohren haben, gleich einem Farbstrich eines anderen Landes, für das uns noch die Augen fehlen), diese Punkte einer anderen Intensität, diese Koordinaten einer blinden Geographie erscheinen unzerstörbar. Sie leben und bleiben lebendig, lange nachdem sie verstrichen sind, als könnten sie nie vergehen. Und tatsächlich vergehen sie nicht; sie sind sogar das einzige, was nicht vergeht. Dieser kleine Riß angesichts eines Plakats oder einer Bank, dieses plötzliche Staunen vor nichts scheint seine Intensität zu bewahren; dieser kleine Tropfen von etwas anderem, dieser plötzliche Schrei um nichts scheint fortzubestehen, sich in einem geheimen Schlupfwinkel unseres Wesens einzunisten und dort zu schwingen, und ein Tropfen reiht sich an den anderen, ohne sich jemals zu zerstäuben, ohne sich je zu verlieren und das wächst und wächst weiter, als hätten wir dort eine unerschöpfliche Reserve, einen Schutzhafen, der sich mehr und mehr anfüllt, einen Akkumulator, der sich nach und nach mit einer anderen Intensität von Kraft auflädt und der wie ein Anfang des Seins ist.
Und wir beginnen den Sonnenweg einzuschlagen.
Wir sind nicht mehr ganz in der Mechanik gefangen, sie mag uns noch das eine oder andere Mal unterpflügen, jedoch nur um uns ihre vernichtende Spannung spüren zu lassen, ihr finsteres Rotieren um nichts, das in nichts greift, das in nichts greift - wir haben einen anderen Sauerstoff zu spüren bekommen, auch wenn dieser sich wie nichts ausnimmt, diese Inexistenz ist nicht mehr auszuhalten, die sich vom einen Ende des Planeten zum anderen bewegt, vom einen Telefon zum nächsten, von einer Verabredung zur nächsten, die wieder und wieder das ewig öde Uhrwerk aufzieht, und es geschieht nie etwas, außer der ewiggleichen, immerwährenden Geschichte mit wechselnden Gesichtern, wechselnden Namen, wechselnden Worten auf diesem Boulevard oder einem anderen - daß es sei. Daß zwischen diesem Neonlicht und dem nächsten, zwischen dem dritten Stockwerk und dem vierten, zwischen 9:00 Uhr und 9:30 Uhr einer Digitalanzeige, die nichts anzeigt, etwas sei, etwas lebe, daß dieser Schritt seinen ewigen Sinn erhalte, als sei er der einzige Schritt unter einer Million Stunden der Zeitanzeige, daß diese Geste von jemand ausgefüllt werde, dieser Zeitungsstand an der Straßenecke, dieser Riß im Teppich, diese Türklingel vor uns, daß diese Sekunde - diese Sekunde - ihre einmalige und unveräußerliche Lebensfülle erhalte, als sei sie der einzige Schimmer in den Ewigkeiten der Zeit, oh! nur nicht dieses umherirrende Nichts im Nichts: daß es sei, daß es sei, daß es sei!... daß wir uns erinnern, auf immer erinnern, und nicht wie entgeisterte Medusen über die Boulevards gleiten - uns woran erinnern? Man weiß selbst nicht mehr, woran man sich erinnern soll, nur nicht an das Ich oder an die Mechanik und an nichts, was sich wieder ineinander verzahnt - eine klare Erinnerung, die schließlich einem Ruf gleicht, ein brennendes Feuer für nichts, eine kleine Schwingung des Seins, die uns überall hin begleitet und die alles durchdringt, alles erfüllt - jeden Schritt, jede Geste, jede Sekunde - die sich sogar hinter uns erstreckt, als bewegten wir uns in einem anderen Raum mit diesem kleinen Jedermann vor uns, der hin- und herläuft, aber nicht mehr ganz bei der Sache ist, der sich bereits aus dem Staub gemacht hat, eine andere Luft atmet, ein anderes Lied hört, sich in einem anderen Rhythmus bewegt - es ist fast etwas wie ein Rhythmus der Ewigkeit, so unermeßlich und so sanft. Dann hebt er plötzlich seinen Kopf inmitten der Straße, hebt ihn über den vorbeirasselnden Strom, und sein Blick ist so klar, so leuchtend, beinahe freudenvoll, funkelnd und weit, sonnenerfüllt, er umfaßt alles in einem Blick, so erhaben, so sicher, kristallin: plötzlich königlich. Man ist, es ist!
Man befindet sich auf dem Sonnenweg und ist wie getragen von dieser kleinen wachsenden Schwingung des Seins.
Und es erforderte keine Stille, keine isolierte Zelle, wir mußten uns nicht vor den Tentakeln des Lebens schützen - im Gegenteil, je stärker sie ausgreifen und uns zu ersticken drohen, je mehr das Spektakel und der Taumel des Lebens uns zu betäuben drohen, desto mehr brennt es in uns, desto glühender ist das Verlangen, das und wieder das zu sein, dieses Andere, das schwingt und ohne das man nicht atmen noch leben kann - es auch nur für eine Sekunde zu vergessen, heißt der Erstickung zu erliegen. Wir gehen auf dem Sonnenweg inmitten der Düsternis der Welt - innen, außen, es ist alles gleich, allein oder in der Menge, wir sind für immer sicher, nichts und niemand kann uns das nehmen! Wir tragen unsere geheime Royalität, wohin wir auch gehen, tasten uns in einer anderen Geographie vor, in der sich geheime Häfen auftun und unerwartete Fjorde, Kontinente des Friedens und Ausblicke auf weite unerforschte Meere, die vom Echo eines größeren Daseins widerzuhallen scheinen. Es gibt kein Wollen oder Nicht-Wollen mehr in uns, keinen Druck, dies oder jenes zu erwerben, zu kämpfen, um zu leben, zu kämpfen, um zu werden und zu wissen: wir werden durch einen anderen Rhythmus getragen, der sein spontanes Wissen, sein klares Leben, seine unvorhersehbaren Willensakte und seine blitzartige Wirksamkeit offenbart. Ein anderes Königreich beginnt sich uns zu eröffnen, wir schreiten mit einem anderen Blick durch die Welt, noch ein bißchen geblendet und noch nicht sehr wissend, aber empfindend und wie erfüllt von einer noch ungeborenen Realität, weiter geworden durch eine noch nicht formulierte Erkenntnis - ein stilles, scheues Staunen. Und wir sind vielleicht wie dieser Bruder Affe aus noch nicht so fernen Zeiten, der einen befremdeten Blick auf seinen Wald richtete und auf all die, die so schön klettern, laufen, jagen, die jedoch nicht diese unmerkliche klare Schwingung kennen, dieses fremdartige Wunder, das plötzliche Innehalten, das die Schwerwetterwolken zu zerreißen scheint und das sich so weit, weit ausdehnt in eine Weite, die voller kreativer Möglichkeiten vibriert.
IV. Die Weggabelung
An dieser Stelle tut sich eine Gabelung vor uns auf, und sich für den einen oder den anderen Weg zu entscheiden, zieht ungeheure Folgen nach sich, Folgen, die sich über ein ganzes Leben erstrecken können. Nicht daß der eine wahr, der andere falsch sei, denn uns erscheint letztendlich alles wahr zu sein, weil es ist, aber es ist eine im Werden begriffene Wahrheit, und die Lüge besteht allein darin, zu zögern oder auf einer Wahrheit zu beharren, deren Zweck und Zeit vergangen ist. Sobald wir uns von der Mechanik losgekoppelt haben, sowohl der äußeren als auch der inneren - erstere ist wirklich die Widerspiegelung oder der Ausdruck der zweiten, und sobald wir uns innerlich verändert haben, verändern wir uns zwangsläufigerweise auch äußerlich; wenn wir aufhören, das Leben zu "mentalisieren", wird es aufhören, eine mentale Mechanik zu sein, und es wird ein anderes Leben werden -, beginnt uns ganz wörtlich genommen eine gewisse "Breite" eigen zu sein; nicht mehr an diesem kleinen Schatten zu heften wie die angebundene Ziege am Pfahl, bedeutet uns in zwei prinzipielle Richtungen bewegen zu können: Wir können den Weg des Aufstiegs vorziehen, uns mehr und mehr subtilisieren, uns mehr und mehr der terrestrischen Last entledigen, mit dieser kleinen bezaubernden Leuchtrakete emporschießen, die wir nun in uns zu erahnen beginnen, und freiere Bewußtseinsregionen berühren, schwerelose Weiten erforschen, die höheren Ebenen des Mentals entdecken, die der klaren Quelle von all dem gleichen, was sich hier als Deformation und Annäherung zuträgt, und die das Engelsgesicht dessen sind, was uns hier mehr und mehr als Karikatur erscheint. Und dies sind verführerische Aussichten, so verführerisch tatsächlich, daß all die Weisen und die etwas eiligen Sucher und selbst diejenigen, die wir heute fortschrittliche Geister oder Genies nennen, sich für diesen Weg entschieden - und das seit Jahrtausenden. Unglücklicherweise fällt es einem, wenn man einmal dort oben angekommen ist, reichlich schwer, wieder in niedere Gefilde herabzusteigen, und selbst wenn man durch einen humanitären oder karikativen Zug motiviert herabsteigen möchte, stellt man fest, daß den Mitteln aus höheren Höhen hier so gut wie keine Macht zukommt. Es scheint eine unüberbrückbare Kluft zwischen jenem Licht und dieser Finsternis zu bestehen, und das, was wir von dort herabbringen wollen oder können, trifft hier vermindert, verdünnt, verunstaltet, beschwert ein und verliert sich schließlich ganz im großen Morast der Mechanik.
Zu hell waren unsere Himmel, zu fern, Zu fein ihr ätherischer Stoff, Zu herrlich und heftig, unser Licht hielt nicht stand, Die Wurzeln waren nicht tief genug. 10
Es ist die uralte Geschichte von Ideal kontra "Realität" - das Ideal realisiert sich unweigerlich, weil es lediglich eine etwas fortgeschrittenere Zukunft ist, der Kurs dorthin aber zieht sich in die Länge und die Wahrheit erscheint darin wie hintertrieben und verhöhnt. Diesen Kurs, die fehlerhafte Übertragung zwischen den "Gipfeln" und den "Ebenen" gilt es also zu verkürzen.
Aber vielleicht befindet sich der "Gipfel" gar nicht dort oben. Vielleicht liegt er überall hier, auf der Höhe Null, lediglich verdeckt durch die Mechanik und die aufgehäuften Schichten unserer Evolution, wie der Diamant im Gangstein. Ist der aufsteigende Weg der einzig mögliche Ausgang, dann bleibt uns allen nichts übrig, als durch ihn ein für alle Male auszusteigen. Und wenn der Heilige wirklich die letzte Krönung des Affen sein sollte, kann man wohl bezweifeln, ob die Evolution jemals ihr befriedigendes und gesegnetes Ziel erreicht und ob die Erde als Ganzes geheiligt wird: was ist mit den anderen, denjenigen, die sich gegen die Heiligkeit sträuben? Wir halten es für unglaubwürdig, daß die Evolution als letzte Absicht eine moralische Scheidung in Auserwählte und Verdammte vorsieht. Die Evolution ist kein Moralist: sie ist, und sie treibt ihren Baum, damit er alle seine Blüten hervorbringe; die Evolution ist kein Asket: sie umfaßt alles in einer üppigen, überfließenden Pracht; die Evolution ist keine Abtrünnige der Erde, denn dann hätte sie niemals auf der Erde begonnen. Die Natur ist nicht zusammenhanglos: sie ist weiser als unsere mentalen Zusammenhänge, weiser selbst als unsere Heiligkeiten.
Doch sie ist langsam, und das ist ihr Fehler.
Wir wollen also den Weg verkürzen. Wir wollen die Evolution beschleunigen, eine gebündelte, konzentrierte Evolution bewirken, dabei aber ihre Methoden berücksichtigen. Und weil die Natur alles umfaßt, folgen wir ihrer Methode, denn sie versucht nicht ihrer selbst zu entfliehen, sondern sie versucht ihren Keim zur Frucht zu entwickeln, also bemühen wir uns, diesen Keim zur Reife zu bringen, das, was bereits innen, außen und überall vorhanden ist, zur Blüte zu treiben. Es kommt nur darauf an, diesen Keim zu finden - und es gibt so viele wilde Keimlinge in der Welt, auch wenn selbst sie ihren Zauber und ihren Nutzen haben. Wir suchen unseren Gipfel also nicht in fernen Höhen, sondern ganz auf dem Grund, denn vielleicht befindet sich unser Geheimnis bereits dort, in der einfachen, unfehlbaren Wahrheit, die eines Tages diesen Keim auf unserer guten Erde auswarf. Dann entdecken wir vielleicht, daß das, was wir suchen, so nah ist, daß es keinen langen Weg zu durchlaufen gibt und keine unüberbrückbare Kluft und keine Übertragungsfehler und kein Zerfließen der Macht in den Räumen des Bewußtseins, und daß die Wahrheit blitzartig und allmächtig in jedem Atom, in jeder Zelle, jeder Sekunde zugegen ist.
Insgesamt handelt es sich also nicht um eine verengende Methode, die alle Hindernisse zurückweist, um unmittelbar in spirituelle Höhen aufzusteigen, sondern um eine globale, allumfassende Methode; keinen jähen Aufstieg, sondern einen Abstieg oder eher ein Enthüllen der überall enthaltenen Wahrheit, bis herab in die Zellen unseres Körpers.