3 Bände zus. 1213 Seiten, ISBN 978-3-89427-750-5
Bd 1 = Erstes Buch, ISBN 978-389427-751-2
Sri Aurobindo
Das Göttliche Leben
Was ist das Göttliche Leben?
Als Manifestation Gottes in der Materie und als Ziel der Natur in ihrer irdischen Evolution stellt sich uns dar: das göttliche Wesen in einem tierähnlichen und ichhaften Bewußtsein zu erkennen, zu besitzen und zu sein, unsere halbdunkle oder verfinsterte physische Mentalität in die volle supramentale Erleuchtung zu verwandeln, Frieden und eine im Selbst ruhende tiefe Freude dort zu erbauen, wo nur die Spannung vergänglicher Befriedigungen existiert, die von körperlichen Schmerzen und seelischen Leiden bedrängt werden, eine unendliche Freiheit in einer Welt zu schaffen, die sich uns als eine Gruppierung mechanischer Notwendigkeiten darstellt, das unsterbliche Leben in einem Körper zu entdecken und zu realisieren, der dem Tod und ständiger Mutation unterworfen ist. Der Weg dazu ist die Entfaltung des in uns latenten Bewußtseins auf den Stufen: höheres Bewußtsein, erleuchteten Mental-Bewußtsein, intuitives Mental-Bewußtsein, übermentales Bewußtsein, supramentales Bewußtsein. (Vgl. Erstes Buch, Kap. 1)
"Das Universum und das Individuum sind die beiden wesentlichen Erscheinungen, in die das Unerkennbare herniederkommt und durch die man sich ihm nahen muß. Denn die anderen Kollektive zwischen diesen beiden entstehen nur aus ihrem Zusammenwirken. Dieses Herabkommen der höchsten Wirklichkeit ist seiner Natur nach Selbst-Verhüllung. Bei dem Herabkommen entstehen aufeinanderfolgende Ebenen, bei der Verhüllung immer weitere Schleier. Notwendigerweise nimmt die Enthüllung die Form eines Aufstiegs an, und ebenso müssen Aufstieg und Enthüllung beide progressiv sein. Denn jede der aufeinander folgenden Ebenen des Herniederkommens des Göttlichen Wesens wird für den Menschen zur Stufe eines Aufstiegs. Jede Hülle die den unbekannten Gott verbirgt, wird für den Gott-Liebenden und Gott-Suchenden zum Anlaß, Ihn zu enthüllen. Um sich aus dem rhythmischen Schlummer der materiellen Natur zu befreien, die der Seele und Idee noch unbewußt ist, jedoch den geordneten Wirkungsablauf ihrer Energie in ihrer dumpfen, mächtigen materiellen Trance aufrechterhalten, ringt sich so die Welt empor in einen rascheren, unterschiedlicheren, aber auch ungeordneteren Rhythmus des Lebens, das sich bis zu den Grenzgebieten des Selbst-Bewußtseins müht. Aus dem Leben kämpft sich die Welt weiter hinauf bis zum Mental, in dem das Einzelwesen zu sich selbst und seiner Welt gegenüber zum Bewußtsein erwacht. Durch dieses Erwachen gewinnt das Universum den erforderlichen Hebel für sein höchstes Werk. Es gewinnt die ihrer selbst bewußte Individualität. Das Mental nimmt dieses Werk jedoch nur auf, um es fortzusetzen, nicht um es zu vollenden. Es ist ein Arbeiter mit scharfer aber begrenzter Intelligenz, der das Durcheinander von Materialien aufgreift, das ihm vom Leben angeboten wird. Wenn er diese nach seinen Kräften verarbeitet, angepaßt, abgeändert und eingestuft hat, reicht er sie weiter an den erhabensten Künstler unseres göttlichen Menschseins. Dieser Künstler hat seinen Sitz im Supramental, denn supermind is superman, das Supramental ist der Übermensch. Deshalb muß unsere Welt noch über das Mental emporkommen zu einem noch höheren Prinzip, zu einem höheren Zustand und einer höheren Kraftentfaltung, in der Universum und Individuum das erkennen und in Besitz nehmen, was beide eigentlich schon sind. Darum stehen beide sich nun in vollem gegenseitigen Verstehen gegenüber, in Harmonie und geeint."
(Erstes Buch, Kap. VI)
Unsere völlige Hingabe muß an das göttliche Wesen geschehen. Denn unser Emporsteigen hin zur höchsten Natur oder in sie hinein muß sich ereignen. Es kann aber nur durch die supramentale shakti geschehen, die unser Mentalwesen empornimmt und es in ihrer Supramentalität umwandelt. Wir sehen daraus, daß es zwischen diesen drei Aspekten des Seins oder zwischen ihnen in ihrem ewigen Status und den drei Seinsweisen ihrer Dynamik, die im Universum wirken, keinen Widerspruch, keine Unvereinbarkeit geben kann. Ein einziges Wesen, eine einzige Wirklichkeit gründet, unterstützt und gestaltet als Selbst, erfährt als purusha oder Bewußtes Wesen, will, regiert und besitzt als ishvara seine Welt der Manifestation, die erschaffen, in Bewegung und im Wirken gehalten wird durch seine eigene Bewußtseins-Kraft oder Selbst-Macht, durch maya, prakriti, shakti...
Hier wird es zweckmäßig, daß wir sehen, wie wir in diesem Aspekt der Wirklichkeit die Beziehung betrachten müssen, die wir zwischen dem Einen und den Vielen entdeckt haben. Das führt zu einer Bestimmung des wahren Zusammenhangs zwischen dem Individuum und dem Göttlichen Wesen, zwischen der Seele und dem ishvara. Nach der normalen theistischen Auffassung sind die Vielen von Gott erschaffen. Sie sind von ihm so gemacht, wie der Töpfer ein Gefäß macht. Von ihm hängen sie so ab, wie Geschöpfe abhängig sind von ihrem Schöpfer. In unserer umfassenderen Auffassung vom ishvara sind die Vielen in ihrer innersten Wirklichkeit selbst der Göttliche Eine. Sie sind individuelle Selbste des höchsten und universalen Selbst-Seins, ewig wie er ewig ist, aber ewig innerhalb seines Wesens. Unsere materielle Existenz ist gewiß eine Schöpfung der Natur, aber die Seele ist ein unsterblicher Teil der Divinität; hinter der Seele steht das Göttliche Selbst in der natürlichen Kreatur. Aber der Eine ist die grundlegende Wahrheit des Seins. Die Vielen existieren durch den Einen, und deshalb besteht eine völlige
Abhängigkeit des manifestierten Wesens vom ishvara. Diese Abhängigkeit wird durch die separative Unwissenheit des Ichs verborgen, das aus eigenem Recht existieren will, obwohl es bei jedem Schritt offensichtlich von der kosmischen Macht abhängig ist, die es erschaffen hat, durch die es bewegt wird, ein Teil ihres kosmischen Wesens und Wirkens. Dieses Bemühen des Ichs ist ganz klar eine falsche Annahme, ein irriger Reflex der Wahrheit des Selbst-Seins, das in uns ist. Es ist wahr, daß es in uns - nicht im Ich, sondern im Selbst und innersten Wesen - etwas gibt, das über die kosmische Natur hinausgeht und zur Transzendenz gehört. Aber auch das findet seine Unabhängigkeit von der Natur nur dadurch, daß es von einer höheren Wirklichkeit abhängig ist. Nur wenn sich Seele und Natur völlig an das Göttliche Wesen hingeben oder ihm überantworten, können wir zu unserem höchsten Selbst und unserer erhabenen Wirklichkeit gelangen, denn das Göttliche Wesen ist dieses höchste Selbst und diese erhabene Wirklichkeit. Selbst-seiend und ewig sind wir nur in seiner Ewigkeit und durch sein Selbst-Sein. Diese Abhängigkeit ist kein Widerspruch gegen die Identität, sondern sie ist selbst die Tür zur Realisation der Identität, - womit wir hier wieder auf das Phänomen stoßen, daß Dualität Ausdruck von Einheit ist, von Einheit ausgeht und wieder in Einheit mündet, die das konstante Geheimnis und fundamental Bewirkende des Universums ist. Diese Wahrheit des Bewußtseins des Unendlichen erschafft die Möglichkeit aller Beziehungen zwischen den Vielen und dem Einen. Unter diesen sind unsere höchsten Erfahrungen die Realisation des Einsseins durch das Mental, die Gegenwart des Einsseins im Herzen, die Existenz des Einsseins in allen Gliedern. Sie annulliert aber nicht alle anderen persönlichen Beziehungen, sondern bestätigt sie und verleiht ihnen ihre Fülle, ihre volle Seligkeit, ihre ganze Bedeutung.
(2. Buch, Teil 1, Kap. II)
Für das vollkommen gewordene spirituelle oder gnostische Bewußtsein muß alles Leben die Offenbarung der verwirklichten Wahrheit des Geistes sein: Nur dem, der sich umwandeln, in jener größeren Wahrheit sein spirituelles Selbst finden kann und in ihre Harmonie einschmelzen läßt, kann die Aufnahme in jenes Leben gewährt werden. Was überleben wird, kann das Mental nicht entscheiden. Denn die supramentale Gnosis will selbst ihre Wahrheit zu uns herabbringen. Diese Wahrheit nimmt alles, was vorher von ihr in unsere Ideale und Verwirklichungen des Mentals, Lebens und Körpers hineingegeben worden ist, zu sich empor. Die Formen, die sie hier angenommen hat, können nicht überleben. Denn sie sind wahrscheinlich für das neue Dasein nicht geeignet, ohne gewandelt oder ersetzt zu werden. Was aber in ihnen oder auch in ihren Formen wirklich und bleibend ist, wird sich der zum Überleben notwendigen Transformation unterziehen. Dabei wird vieles, was für das menschliche Leben normal ist, verschwinden. Die vielen mentalen Idole, Prinzipien und Systeme, einander widerstreitenden Ideale, die der Mensch in allen Bereichen seines Mentals und Lebens geschaffen hat, können im Licht der Gnosis keine Anerkennung und Verehrung verlangen. Aussicht, als Element einer auf viel umfassenderer Grundlage gegründeten Harmonie Eingang zu finden, kann - falls sie existiert nur die Wahrheit haben, die verborgen hinter diesen vieldeutigen Bildern steht.
Man nimmt fast allgemein an, spirituelles Leben müsse notwendig ein Leben in asketischer Dürftigkeit sein, man müsse alles verwerfen, was nicht für die bloße Erhaltung des Körpers notwendig sei. Das ist zwar gültig für ein spirituelles Leben, das seiner Natur und Absicht nach ein Leben der Abkehr vom Leben ist. Und auch abgesehen von diesem ideal könnte man denken, die Hinwendung zum Geist erfordere immer äußerste Einfachheit, da alles übrige ein Leben des vitalen Verlangens und der Selbst-Befriedigung in körperlicher Lust sei. Von einem umfassenderen Gesichtspunkt her gesehen ist das aber ein mentaler Maßstab, der sich auf das Gesetz der Unwissenheit gründet, deren Motiv das Begehren ist. So kann als gültiges Prinzip der Grundsatz auftreten, man müsse, um die Unwissenheit zu überwinden und das Ich auszulöschen, nicht nur das Begehren selbst vollständig zurückweisen, sondern auch alle Dinge, die das Begehren befriedigen können. Eine solche Norm ist aber wie jeder mentale Maßstab keineswegs absolut und ebensowenig als Gesetz für jenes Bewußtsein bindend, das sich über das Begehren erhoben hat. Zum Wesenskern einer solchen Natur gehört völlige Reinheit und Meisterschaft aus dem Selbst. Sie bleibt dieselbe in Armut und in Reichtum. Wäre sie doch nicht wirklich oder vollständig. wenn sie durch beides erschüttert oder befleckt werden könnte. Die einzige Regel für unser gnostisches Wesen ist, daß wir durch unser Selbst den Geist, den Willen des Göttlichen Wesens zum Ausdruck bringen. Dieser Wille, dieser Selbst-Ausdruck kann sich ebenso durch äußerste Einfachheit wie durch äußerste Vielfalt und Üppigkeit des Lebens oder durch natürliche Ausgewogenheit offenbaren - denn Schönheit und Fülle, die verborgene Süße und das Lächeln in den Dingen, der Sonnenschein und die Freude am Leben sind ebenfalls Mächte und Ausdrucksformen des Geistes. Nach allen Richtungen hin bestimmt der Geist, der im Innern das Gesetz unserer Natur lenkt, auch den Rahmen des Lebens, seine Einzelheiten und seine Umstände. In allem herrscht dasselbe formbare Prinzip. So notwendig die Geltung strenger Normen für eine Ordnung der Dinge durch das Mental ist, so kann dies doch nicht das Gesetz spirituellen Lebens sein. Hier wird sich vielmehr eine große Mannigfaltigkeit und Freiheit des Ausdrucks des Selbsts zeigen, die ihre Basis in der zugrundeliegenden Einheit hat. Und doch gibt es dabei überall Harmonie und eine Ordnung aus der Wahrheit.
(2. Buch, Teil 2, Kap. XXVIII)
"Das Göttliche Leben" ist Sri Aurobindos Haupt- und Meisterwerk. Es vermittelt die philosophische Grundlage zu allen übrigen Werken dieses großen indischen Philosophen der Neuzeit: zu Yoga und Dichtkunst, zu Politik, Kultur und Erziehung... Dem unermüdlichen Übersetzer Heinz Kappes sei gedankt für seine überaus zuverlässige und aus der Sache lebende Übersetzungsarbeit. - Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Erlangen
Sri Aurobindos magnum Opus, das Life Divine, ist ein Wahrzeichen in der Geschichte menschlichen Denkens und Strebens. Es verkörpert die höchste, umfassendste schöpferische Weisheit spiritueller Erfahrung. Es hat den Charakter einer vollkommenen und natürlich-notwendigen Synthese des tiefsten alten und des progressivsten modernen Denkens des Ostens und des Westens. - Der Übersetzer
Übertragung aus dem Englischen von Heinz Kappes
Der Mensch im Werden
Vor dem Erscheinen der obenstehenden vollständigen deutschen Fassung, übersetzten Medhananda und Theodora Karnasch im Jahr 1964 das erste und die letzten sechs Kapitel des Buches, das damals unter dem Titel “Der Mensch im Werden” erschien.
Als Leseprobe steht diese ältere Version digital zur Verfügung: