Erster Zyklus

(nach vielen anderen)

Die Reise außerhalb des Selbstes


Das Lied des Wanderers

O du, der du vorbeigehst
Auf der Hauptstraße dieses kleinen Planeten
Du eilst, du eilst
In eine Zukunft hinein, die bereits war
O Wanderer, der du dich nicht mehr erinnerst
Du führst mehr als einen Akt auf
Gekleidet in Braun, in Weiß
In Finsternis und Flitter
Mehr als einmal bist du den Weg gegangen
Zum einen selben Fixpunkt
Und du wiederholst dieselbe Geste
Unter den Monsunen oder den Wintern
Unter den Teufeln, die mehr oder minder Götter sind
Unter den Göttern, die mehr oder minder weiß sind
Du wiederholst dieselbe Geschichte
Als ob nichts je geschehen wäre
O Wanderer, der du nie vorbeigegangen bist
Deine Geschichte ist ewig
Auf meiner unfehlbaren Straße
Auf der einen Seite mühst du dich ab ohne zu wissen
Auf der anderen bist du König von alter Erinnerung
In Feuer gehüllt und in Lieblichkeit
Hast du nur die Wahl zu treffen
O Wanderer auf der tausendjährigen Hauptstraße
Du gehst wohin ich führe
Sklave oder König, Sünder oder Schlafwandler

Man wechselt nicht die Straße
Man ändert die Betrachtungsweise

Es gibt keinen anderen Durchgang in einem Leben
Keinen anderen Augenblick
Nur eine Geschichte von Zeitalter zu Zeitalter

I

Die Straße

Im brennenden Staub der heißen Jahreszeit gingen sie auf einen Hafen zu. Sie waren goldbraun von der ewigen Sonnenglut, und ihre Augen funkelten wie das Licht in der Tiefe eines Brunnens. Sie gingen dicht hintereinander, wälzten ihre Lasten und ihre Träume, gekleidet in weiß wie Pharaonen, oder nackt wie die Bronzen in ihren Tempeln; im Geruch von Weihrauchstäbchen und Büffeldung gingen sie in Richtung Hafen. Es war in diesem Zeitalter oder einem anderen, unter dem Kreisen der großen Fischadler; es war in jenem Lande, wo die Sonne die Seelen wie Tamarindenhülsen aufsprengt.

The Eastern Traders
Shipping Company Limited

Er war ein Weißer. Sein Name war Nil. Seine Hände fingerten an den Hosentaschen; er schaute nach rechts und nach links, ohne zu wissen, worauf er seinen Blick fixieren sollte, wie ein Schimpanse. Sie war von hier; sie war schön und ernst in ihrem weißen Sari und schaute ihn reglos an.

- Du willst wirklich weg?

Sie fuhr sich mit der Hand an die Stirn, als wollte sie eine Haarsträhne wegstreichen; Goldreife glänzten an ihrem Handgelenk.

- Morgen früh; das steht fest. Ich habe mein Gepäck dort aufgegeben.

Er fingerte wieder an seinen Hosentaschen.

Jetzt, auf der Hauptstraße der Zeit, trat ich in diesen Mann ein; einmal mehr schlüpfte ich in jene Rolle, vergaß alte Gesten und Wesen, die ich einst liebte, vergaß alte Worte zum Guten oder zum Bösen; nur getragen von jener kleinen ruhelosen Flamme, vielleicht immer derselben, und gezogen von Tausenden verlorenen Erinnerungen - durstig, immer durstig, ich bin ein Durst, das ist alles, was in mir bleibt, es ist meine Erinnerung an Feuer. Ziehen wir Bilanz, wo sind wir?... Es ist einfach. An irgendeiner Stelle in der Welt, an irgendeinem Punkt der alten Geschichte kann ich anhalten und sagen: "Nicht dies, das ist es nicht" - es ist nie das. Nein, ich bin nicht dort und bin nie dort gewesen; es ist immer nahe dabei, neben dran; ich lebe, als ob ich mich eines Tages dort finden würde, mitten in der unweigerlichen Katastrophe. Und vielleicht werde ich dann das Ende der Rollen erreichen - dort in der Ferne steht ein Bruder des Lichts, und ich gehe auf ihn zu und kehre zurück nach Hause, endlich werde ich mich dort wiederfinden, in meiner wahren Haut.

Dann wird es absolut das sein. Keine Standortbestimmungen mehr; überall werde ich da sein.

Siebenundneunzig Pfund für die Überfahrt, knapp drei Pfund und etwas Wechselgeld übrig. Aber was macht das schon, es ist immer dasselbe.

- Komm, gehen wir.

Sie verschmolzen mit der Menschenmenge inmitten von Baumwollballen und rosafarbenem Töpferwerk, wurden getrennt und wieder zusammengeführt, vorangetragen in einem Durcheinander von Mangokörben, gefräßigen Ziegen und rosafarbenen und grünen Limonadenflaschen auf rollenden Verkaufsständen.

- Aber warum läufst du denn so? Du hast noch Zeit bis morgen. Wohin eilst du denn?

Ich hielt inne. Ich tauchte eine Sekunde in diese Augen ein, ich tauchte die Zeit eines ganzen Lebens in diese Sekunde ein, und ich habe viele Augen gesehen, aber es war nie der Blick, den ich suchte. Und immer noch bin ich unterwegs. Ich habe den Körper gewechselt, ich habe Leben gewechselt, und ich finde mich auf dieser Straße wieder, als ob ich die Sache schon zwanzigmal getan hätte.

- Nil, bitte...

Auf Mohinis Stirn bildeten sich Schweißperlen. Es lag eine solche Schönheit in diesem fast reglosen Gesicht, fast unberührt von Emotion, als ob sie Jahrhunderte der Sanftheit durchqueren müßte, um in zwei kleinen pulsierenden bronzenen Äderchen hervorzutreten. Ich schaute sie an, blickte auf einen rosa Kürbis, eine Krähe, den Tempelturm. Einmal mehr ergriff mich jenes absurde Schwindelgefühl: weggehen, warum weggehen? Diese ganze Welt von Dingen, die in Bewegung zu setzen sind, Gesten, die man machen muß - Millionen Gesten für nichts und wieder nichts. Diese Dichte der Zeit wie ein Schleier aus Seetang, warum? Als ob man sich nur im Leiden fassen könnte - ohne ein Drama wäre nichts mehr da zu fassen.

- Hör mal, Nil, du hast deine Torheit gut geplant. Ich selbst habe ein wenig Glück arrangiert: einen Tag Glück. Nur einen Tag, ich bitte dich um einen Tag. Danach kannst du tun, was du willst.

Was für eine Falle hatte sie diesmal ausgebrütet? Sie stellen uns alle Fallen, um uns einzusperren und gemütlich zu verzehren. Ich will mich nicht fangen lassen. Von nichts und niemandem. Ich will frei sein. Ich bin Nil = 0, für keine Tasche.

Aber ich würde mich auch gern hier hinsetzen und alles durch meine Finger gleiten lassen, wie ein geistesabwesendes Kind, und es gäbe nichts mehr zu wollen. Manchmal öffnet sich die Tür einer seltsamen Süße, wo man nichts mehr ist, weil man nichts mehr will. Ich kenne diese Benommenheit gut und weiß, daß die Stunde nahe rückt.

- Ich bitte dich um einen Tag, nur einen Tag.

Mohini stand aufrecht wie eine Statue inmitten des rosa Töpferwerks auf dem Tempelpflaster. Ein Kind spielte mit Seemuscheln. Ich kann jetzt noch den Platz sehen, er folgte mir lange Zeit nach. Man konnte den Duft der Jasmin-Girlanden auf den Gabentellern spüren.

- Schau, ich kenne eine Insel...

Sie bestürmten uns wie Fliegen, hefteten sich an meine weiße Haut - diese verflixte, elende Haut! Überall das weiße Stigma, das Mal des Ausländers, man wird nie in der Lage sein, wie die Luft im Winde unterzutauchen! Mohini öffnete ihre Börse und begann inmitten des Geschreis Münzen zu verteilen.

- Komm, laß uns gehen. Weg mit euch!

Sie hängten sich mir an die Beine. Und plötzlich wandte ich mich um, wütend, mit einem Drang, zuzuschlagen.

- O Fremder...

Ein Mann stand dort, in flammenfarbener Robe, und schaute mich an. Einen Augenblick blieb er still, mit der Bettelschale in der Hand. Ich haßte ihn spontan; es war ein Lächeln in diesem Blick... Nicht einmal ein Lächeln: eine gewaltige Belustigung, als ob das Gelächter herausexplodieren würde. Aber nichts explodierte, es blieb im Licht seiner Augen gefangen.

- O Fremder, du bist zurückgekehrt!

Ich war wie vom Donner gerührt. Dann sagte er mit einer ganz anderen Stimme, fast neutral im Ton, wie man einen Refrain hersagt:

- Dreimal bist du gekommen, dreimal hast du getötet.

Und ehe ich ein Wort sagen konnte, war er schon weg.

- Nil, Nil, geh nicht dorthin!

Ich stürzte ihm nach. Ich mußte ihn unbedingt einholen, wissen, sofort wissen, damit fertig werden, ehe es zu spät war; etwas in mir schien getroffen zu sein, aufgerüttelt, plötzlich vom Verlangen gepackt, diesen Menschen zu prügeln und zu schlagen, bis er in den Staub fiele. Und dann würde ich auf ihn spucken.

- Nil...

Mohini rief. Ich rannte wie ein Verrückter, schwenkte in eine Seitenstraße ein, lief um den Tempel herum, stieß ein Kind zu Boden, das zu schreien begann. Nichts von ihm zu sehen. Feindselige Augen starrten stumm jene Bestie von Ausländer an. Und da, plötzlich, sprang aus den Wänden ein Gott hervor, mit einer Lanze bewaffnet und rittlings auf einem Pfau. [[Kartik, der Bezwinger der Dämonen. Er sitzt auf einem Pfau (mayur), dem Symbol des Sieges über die Kräfte der Dunkelheit. ]]

Ich ging zurück, trocknete mir die Stirn und schämte mich meiner selbst. Diese heiße Jahreszeit würde mir wohl endgültig die Nerven zerfetzen, es war Zeit abzureisen. Mohini verharrte reglos inmitten des Töpferwerks, leichenblaß, ihre Augen starrten blind vor sich hin, ihr Zopf lag über der Brust.

- Ach! Nil...

Sie musterte mich, als ob ich von einer langen Reise zurückkehrte, als ob sie aus einer anderen Welt zurückkehrte; ihre Stimme war sehr weich, fast erstickt:

- Ich dachte, du wärest schon weg.

Ihre Hand berührte leicht meine Schulter. Wieder beeindruckte mich diese Atmosphäre alter Zeiten, die um ihr lag: Da war kein Ausdruck, kein Wimpernzucken; sie stand sehr aufrecht in ihrem weißen Schleier, reglos wie eine Choephore, wie jemand, der das Wissen hat und einmal mehr zuschaut, wie sich dasselbe Schicksal abwickelt.

- Was hat er dir gesagt? Was will er?

- Ein Verrückter. Wenn ich den wiederfinde... Du kennst ihn?

- Ein Sannyasin. [[Ein Wandermönch, der der Welt entsagt und zum Zeichen seiner Entsagung eine orangenfarbene Robe trägt. ]] Ich mag Sannyasins nicht.

- Ich auch nicht.

- Sei vorsichtig, Nil, sie wissen, was wir nicht wissen; sie sind gefährlich.

- Wieso gefährlich?

- Sie haben die Erde verleugnet. Sie sind Diebe des Himmels.

Sie sagte das in einem solchen Ton! Ich war sprachlos. Dann faßte sie sich gleich wieder:

- Sie sind nicht von hier.

- Ich auch nicht... Außerdem weiß ich nicht, von wo ich bin. Komm, laß uns gehen. Ich hab' genug von diesen bemalten Wasserspeiern!

Da griff sie meinen Arm und kniff mich heftig, wie ein kleines Mädchen.

- Sei still, du weißt ja gar nicht, was du da sagst.

Die Pistazien- und Bleiglanzgötter auf dem hohen Turm mit den Affen lauerten dem Wanderer; die goldenen Palmen schwankten sanft über der Straße.

- Hör mal, ich kenne eine Insel. Sag bitte nicht "nein". Ich werde dich nicht zurückhalten, ich bitte dich um einen Tag, nur einen Tag, um meinem Herzen Frieden zu geben. Danach wirst du frei sein.

Eine Sirene heulte schrill auf.

Der Kessel des Teeverkäufers glitzerte in der Sonne.

- Die Laurelbank wird morgen früh um sieben den Anker lichten und nach Neu Guinea fahren, hörst du - oder zum Teufel.

- Ich habe alles vorbereitet, ein Boot wartet auf uns.

II

Die karmesinrote Insel

- Schau, es ist die kleinste von dreien; man nennt sie die "karmesinrote Insel".

Ich blickte mich um, mein Hafen lag in leuchtendem Nebel; nur die schwarze Silhouette eines Frachters hob sich ab gegen ein glasiges Licht.

- Es ist gar nicht so weit; fünfundvierzig Minuten, und du bist zurück.

- Nicht weit... Und um diesen Affenfelsen zu sehen, hast du mich hierher gebracht?

- Um zu sehen, wie weit du gehen kannst.

Mit einem Kopfruck warf sie ihren Zopf zurück:

- Wenn du der Gnade teilhaftig wirst, so wirst du erkennen, daß du nicht eine Minute deines Daseins wirklich gelebt hast - in deinem Kopf bist du überallhin gegangen, und deine Beine sind nur ganz zufällig nachgefolgt. Und mit einem Herzen wie eine unreife Guajava.

Ich wollte sie in die Arme nehmen, doch dann war ich wütend.

- Hier, schau, Nil.

Wir konnten die Vögel zwitschern hören. Ein hoher Felshügel hob sich steil aus den grünen Wassern, hallte wider vom Singen der Vögel und war seilartig überzogen von den Wurzeln eines alten Banyanbaumes ganz oben, der inmitten des fröhlichen Zeterns von Sittichen und Makakoaffen die gesamte Insel wie ein sagenumwobenes Wrack aus dem Wasser zu ziehen schien. Langsam änderte unser Boot den Kurs und scherte vom Felsen ab; eine Einbuchtung lag plötzlich vor uns. Ich war tief ergriffen vom Anblick: Tausende und aber Tausende von lodernden Korallenbäumen in voller roter Blüte strömten in dichten Büscheln zum Meer hinab wie eine scharlachrote Welle.

Sie sah mich aus dem Augenwinkel an; ich war wie versteinert.

Alles war sehr schön, aber wohin führte sie mich?

Die Siedlung der Fischer war verlassen, mein Hafen war hinter dem Felshügel verschwunden: nur ein Trampelpfad lief am Strand aus und verlor sich unter den Kakteen in Richtung des karmesinroten Hügels. Ich versuchte meine Formel zu wiederholen: "Laurelbank-Freitag-Sieben-Uhr", um den üblen Zauber abzuwenden, aber alles schien verschwommen, die Welt hatte ihre Kraftlinie verloren und ich war im Begriff, in diesem Brei exotischen Honigs unterzugehen.

Mit einem Fußtritt ließ ich einen Haufen Muscheln davonwirbeln und machte mich mit zusammengebissenen Zähnen auf den Weg.

- Es ist gar nicht weit, die Insel ist recht klein.

Es lag so viel Bedrängnis in ihrer Stimme, als ob sie mich um Vergebung bitten, mich zähmen wollte, aber ich war fest verknotet um jenes "nein" tief in mir, und es war wie der Schrei meiner Freiheit. Ich weiß, sie hätte mir gern die Welt auf ihrem Handteller präsentiert, eine hübsche kleine Welt, sehr nett, sehr sauber, wo sie auf Zehenspitzen gegangen wäre, um mich nicht zu verscheuchen.

- Wenn du willst, ich kenne noch eine andere Insel.

- Schon?

- O Nil!

Ich bin eine Bestie, ohne Zweifel, aber je mehr ich mich erweichen lasse, desto zäher werde ich. Es ist meine letzte Verteidigungslinie: wenn sie fällt, fällt alles.

Eines Tages werde ich der Tatsache ins Auge blicken müssen.

Und vielleicht gibt es nur eine Tatsache im Leben, alles andere ist Nachahmung, ein falsches Ebenbild - wo ist die Tatsache? Ich habe zwanzig Länder gesehen und doch nicht ein einziges, ich habe Zehntausende von Kilometern zurückgelegt und bin nicht einen Zentimeter vorangekommen, ich habe Millionen Sekunden gelebt, und sie sind nichts als Staub - wo ist die Sache, die Sekunde? Was ist geschehen? Die Reiseagentur Cook & Son hat die brasilianischen Wälder täuschend ähnlich auf einer Karte nachgebildet - ich bin gerade von dort zurück. Die Himalayas sind auf dem neunundzwanzigsten Breitengrad aufgehängt, im Prägedruck, exakt und perfekt gestärkt. Alles steht im Erdkundebuch, es gibt keine Überraschungen; mexikanische Nabelschweine und die Brüllaffen warten auf uns bei A-8, es ist mathematisch und programmiert. Wissen von der Welt hat die Welt ebenso sicher zerstört, wie Photographie die Malerei zerstört hat - wir müssen die Welt neu sehen oder im Album verrecken.

Aber dieses brennende Land tief in meinem Herzen, das niemand antasten kann, das ist mein Schatz, mein einziger Schatz, alles andere mag zur Hölle fahren - und Mohini ebenfalls. Und doch - doch - würde ich gern ein "ja" hinausschreien - ein ja zu allem, zu den Dingen, den Leuten, und diese Welt in meine Arme schließen und darin verschmelzen. Keinerlei Härte mehr, nirgendwo. Dort ist ein fataler Punkt, ein unlösbares ja-nein, das eine feurige Reibung verursacht. Es ist die Stätte der Tatsache, das reine Brasilien, ich fühle es, ich nähere mich der letzten Festung.

Vor uns war ein Gittertor. Ein Tor, ganz wie in einem Park von Ludwig XIV., hier in diesen scharlachroten Tropen. Und es stand ganz für sich zwischen zwei zerbröckelnden Pfeilern inmitten eines Dschungels von Yucca-Bäumen. Mohini war unheimlich still. Auf einer Marmorplatte stand geschrieben: Salvaterra.

- Wir sind angekommen.

Ich nahm sie bei der Hand und stieß die Türflügel auf. Ihre Hand war eisig. Kein Laut war zu vernehmen, kein Atemzug. Es war eine andere Welt. Eine Welt, so völlig reglos, daß sie verdichtet erschien, erfüllt von Duft und Stille. Und alles war rot; eine Flut roter Blüten so weit das Auge reichte, die auf fast blattlosen Ästen raschelten - ein lebhaftes Feuer. Oder vielleicht ein sagenumwobenes Haus von stillestarren Feuervögeln.

- Moni, deine Insel ist hübsch.

Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen, sie zog sich den Sari über die Brust.

Dort war eine Allee, oder was einmal eine Allee gewesen sein mußte, die den Hügel wie ein großer Rundbogen umspannte. Ein Eichhörnchen rannte vor uns davon. Unter dem Humus konnte man noch weiße Kieselsteine erkennen.

- Moni, es ist als ob...

Sie schmiegte sich an mich. Ich verstummte. Alles war wie in einem Zauber erstarrt. Ich hatte den seltsamen Eindruck, das alles schon einmal gesehen und gelebt zu haben. Es kam nicht von den Blüten oder der Örtlichkeit, sondern von der eisigen Hand in der meinen. Hand in Hand schlenderten wir einher. Sie war ganz weiß unter diesem überfließenden hochzeitlichen Purpur, und ich tastete mich auf dem Weg voran, die Augen halb geschlossen, im Duft zerdrückter Blüten; ich näherte mich einer alten Erinnerung, einem alten Land vielleicht, das plötzlich hinter der Wegbiegung auftauchen würde - ich scheine mich immer an ein "Land" zu erinnern, das zu entdecken ist (dafür bin ich vielleicht so lange herumgezogen), und an eine "sie", die mich in das Land führt. Und jedes Mal bin ich davongelaufen. Ich weiß nicht, warum. Oder vielmehr doch, ich weiß es, immer dieselbe Geschichte - Liebe, die Falle. Die Falle und der Schlüssel in einem. Ein altes Land, wo ich plötzlich in absolutem Erkennen aufgehen werde: Es.

- Moni, sag mir, wenn man alles vergessen würde, was bliebe dann übrig? ... Alles, ja, alles, was man gelernt hat. Alles, was sie uns in den Kopf gestopft haben: Land, Familie, Paß, Religion. Die falsche Erinnerung. Ein reines Gedächtnis, verstehst du, ohne irgendwelche Zusätze - ein echter Goldklumpen.

- Du hast doch schon alles verbrannt, Nil, mit einem einzigen Blick, diese Insel, und mit ihr zusammen mich! Du bist nicht hier, du bist nie hier, Nil! Du nimmst immer das nächste Schiff. Und wenn du dein Schiff auch verbrennen würdest, sag mir, was bliebe dann?

Meine Hand löste sich von ihrer. Die Begegnung hatte drei Minuten gedauert.

Sie schaute mich an:

- Ich selbst, ich liebe, und ich habe alles vergessen.

Ich liebe, ich liebe ... sie alle reden davon - Priester, Frauen, Dummköpfe - und dann finden sie sich mit einer Menge kleiner Rangen an ihren Armen wieder, gut für den Krieg, und Liebe war gestern.

- Also, ich liebe nicht.

- Du bist eine Bestie.

- Ja, frei.

Sie war so weiß in dieser Glut! Aber ich nahm sie gar nicht wahr. Ich sah nur meinen absurden Zorn - wie bei dem Sannyasin. Ein dunkler Drang von unten, als ob sie wieder eine alte Wunde berührt hätte. Oh, es gibt wunde Stellen im Menschen, welche die Erinnerung von tausend zerstörten Leben mit sich tragen - oder vielleicht von immer derselben wiederkehrenden Niederlage - und die mit einer furchtbaren Elektrizität geladen sind. In einer Sekunde verschmilzt es, nichts existiert mehr; als ob es die Erinnerung wäre.

- Du leidest, Nil.

- Ich leide nicht, ich bin frei. Und ich hasse Sentimentalität: Das klebt, und dann ist es geschehen, man versinkt im Wasser - ich bin aus dem Wasser heraus, ich bin unter dem Zeichen des Feuers geboren!

Sie blieb am Rande der Allee stehen und schaute mich so unsagbar sanft an:

- Wenn du mich ebenfalls verbrannt hast, wirst du verstehen.

Sie sagte dies ruhig, ohne Nachdruck, ohne die geringste Spur von Emotion, als ob sie von anderswoher schaute.

Ich wurde sofort weich.

- Vergiß es, Moni. Komm, laß uns laufen. Wir werden alles von vorne beginnen - du wirst sehen: Ich öffne das Parktor, du trittst ein...

Völlig ausgelassen rannten wir beide hinauf. Eine immense Sonnenterrasse öffnete sich zur anderen Seite der Insel. Man konnte noch Alleen unter dem Unkraut ausmachen; Gruppen von roten Hibiskusbüschen flossen sanft zum Meer hinab. Ein ganz mit Ranken bewachsenes Haus war gegen den Hügel gelehnt. Man hätte es für eine alte Kolonialresidenz gehalten, mit Stuckpfeilern, die vom Monsunregen zerfressen waren, einem dreieckigen Giebel zwischen den beiden Gebäudeflügeln, und einer Veranda. Niemand war dort. Die Stätte sah völlig verlassen aus. Man konnte nur das Zetern der Papageien auf den Reben hören.

- Nun, Moni, gehen wir uns umsehen?

Sie war so rosig unter ihrem gebräunten Gesicht; sie war schöner, als ich sie je zuvor gesehen hatte.

- Nicht jetzt, heute abend, du wirst schon sehen. Es ist eine Überraschung.

Ich lief zum Westflügel hinauf - eine Flut von grünen Federn ergoß sich mit schrillem Geschrei von überall. Dann herrschte Stille.

Es war wirklich ein seltsamer Ort... Auf der Veranda standen rotlackierte Wandschirme, ein Flötenspieler auf einem bronzenen Podest, da lagen Bruchstücke von Keramiken, ein riesiger leerer Vogelkäfig. Die Kletterpflanzen ragten bis zur Decke hoch. Federn und Vogeldreck lagen überall - sogar eine Pfauenfeder. Mechanisch riß ich ein Blatt in der Nähe des Flötenspielers ab; es roch wie Wildminze. Dann hörte ich Mohinis sanfte Stimme hinter den Pfeilern:

- Weißt du, bei uns nennen wir sie "Tulsi". Es ist eine Pflanze, die Glück verheißt.

Ich trat an die Tür und zog die Bambuslatte zurück; ein Sonnenlichtstreifen strahlte herein - ein kristallener Kronleuchter, die ganze Decke war lichtübersät. Überall fanden sich Kristall-Lampen, in allen Ecken und Winkeln: in Wandleuchten mit vergoldeten Pfeilerspiegeln, in Kandelabern, in gedrehten Lampenständern. Eine flimmernde Überfülle, ein Strom venezianischen Glases wurde zu einem plötzlichen Fest.

- Aber wo sind wir? Was für eine Stätte ist das hier?

Mohini sagte kein Wort. Dann fiel mein Blick auf eine indische Sitar, und auf eine andere und wieder andere; dann auf die außergewöhnlichste Sammlung von Musikinstrumenten, die ich je gesehen habe: Sarods, Vinas, Ektaras... in jedem Winkel, überall an den Wänden hängend, auf den Truhen, auf flachen Diwans. Esradsch, Leiern, lange Krummstäbe, die wie antike Zithern geschnitzt oder mit Elfenbein besetzt waren; Resonanzböden aus Amarantholz oder poliertem Kolozynth, von jeder Größe, jeder Form, matt leuchtend; und unbekannte Instrumente, die Lauten oder Mandoras ähnelten.

- Es war das Haus meiner Mutter. Sie war eine bedeutende Musikerin.

Ich blickte Mohini an, ohne sie wahrzunehmen. Ich hatte das seltsame Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und ich-weiß-nicht-wohin zu sinken - aber ohne jede Gewalt, sanft. Mit einem geräuschlosen Schritt trat ich in etwas anderes ein, etwas, was nicht die Welt der Träume war, sondern was alle Erscheinungen unmerklich, wie aus Versehen, verwandelte: ein leichtes Verlagern der Linien, als ob die Gegenstände plötzlich Tiefe annahmen, anstatt flach gegen die Wände zu stehen, und intensiver, fast lebendig wurden; oder vielleicht war es nur ein Abgleiten des Auges, das plötzlich eine andere Struktur im Muster erfaßte; und gleichzeitig - es war seltsam - begann die Luft einen gewissen Geruch anzunehmen, der dieser plötzlichen Vertiefung entsprach; ein Geruch, der nicht von irgendeinem Duftstoff herrührte, sondern gleichsam von einem anderen Land, sehr vertraut, aber nicht benennbar. Er lag mir auf den Fingerspitzen, auf den Lippen, wie eine sehr süße Erinnerung, wie ein gerade geträumter Traum, der noch gegenwärtig ist, warm und vibrierend, aber dessen Gestalt entschwunden ist und der nur jenen Duft der Erinnerung zurückläßt.

Ich nahm eine Ektara in die Hand. Sie war sehr klein, hatte nur eine einzige Saite; sie sah aus wie eines jener Instrumente, die man auf ägyptischen Freskos findet. Ich schlug die Saite an... Ein kleiner vibrierender metallischer Ton hallte durch den ganzen Raum und ließ eines nach dem anderen die Kristalle anklingen.

Ich weiß nicht, was ich da anschlug, aber es vibrierte weit, weit weg, als ob sich etwas tief in meiner Erinnerung öffnen wollte und ich plötzlich durch eine Falltür verschwinden würde.

- Komm. Nicht jetzt. Heute abend werden wir eine Feier haben.

Sie faßte mich am Arm. Ich ließ die Ektara fallen. Sie zerbrach mit einem kleinen scharfen Ton. Die Falltür schloß sich wieder.

Alles war wie zuvor; wieder hatte ich den Faden verloren.

- Und dann wirst du den Schatz des portugiesischen Señors sehen.

- Den Schatz?

Sie zog mich nach draußen. Die Terrasse leuchtete im Sonnenlicht.

- Ja, im Ostflügel. Der Schatz des portugiesischen Schiffseigners; er hat alles meiner Mutter verkauft. Meine Mutter ist hier gestorben.

Ich schüttelte mich unversehens. Da drinnen erstickte ich. Ich zog Mohini am Arm und eilte von der Terrasse herunter zum Meer. Die Dornen zerrissen uns die Kleider; eine Marmorvenus entkleidete sich beherzt unter den Hibiskus-Büschen. Mir war danach, all das zu zerstören - der Venus ins Gesäß zu treten oder etwas Ungereimtes zu tun, die ganze Insel und mich mit ihr wegzuzaubern. Mohini schrie auf; mit drei Sprüngen hatte ich den Strand überquert und sie in voller Kleidung ins Wasser geworfen. Dann tauchte ich und schwamm aufs offene Meer hinaus; wenn ich gekonnt hätte, wäre ich zum Hafen geschwommen - alleine.

- Was würde Seine Exzellenz, dein Vater, sagen, wenn er dich hier erblicken würde?

- Ich habe alles vergessen.

- Und wenn ich dich zu meiner Geliebten machte?

Sie errötete bis an die Haarwurzeln. Offenbar warf man hier nicht Mädchen ins Meer oder sprach zu ihnen in solchem Ton. Außerdem sind es ja nicht "Mädchen"; sie sehen immer so aus, als ob sie gerade aus einem Tempel kommen und drei Jahrhunderte Kontemplation mit sich tragen.

- Warum hast du mich denn hierher geschleppt? Um mich in deinen Papageienkäfig zu sperren, oder wozu?

- Weil du morgen abreist, Nil, weil ich dich liebe, weil...

Ich dachte, sie würde in Tränen ausbrechen. Aber ich wußte noch nicht, aus welchem Holz sie geschnitzt war.

- Weil du gar nicht so gehen kannst, Nil. Die Dinge sind nicht erfüllt.

- Was meinst du damit?

Sie stand aufrecht in ihrem triefnassen Sari und hatte einen so reglosen, fast imposanten Ausdruck, wie wenn sie in den Schoß der Zeitalter zurückginge.

- In deinem Land geschehen die Dinge vielleicht aus Zufall. Nicht in meinem. Zufall heißt, daß man nicht das Gesetz der Dinge kennt. Du kennst nicht das Gesetz, Nil.

Sie nahm eine Handvoll Sand und ließ ihn durch die Finger rieseln.

- In deinem Land kreisen selbst die Atome nicht aus Zufall. Bei uns fliegen selbst die Vögel nicht aus Zufall vorüber. Es ist bloß eine subtilere Gesetzmäßigkeit.

- Und daraus folgt?

Sie heftete ihre Augen auf meine Augen und fügte hinzu, indem sie jedes Wort einzeln heraushob:

- Was heute geschieht, wurde vor Tausenden und aber Tausenden von Jahren begonnen, und es wird Tausende und aber Tausende von Jahren fortdauern.

- Du bist verrückt.

- Ich bin nicht verrückt, ich kann sehen. Es gibt keine Lücken.

- Lücken?

- Du verstehst auch gar nichts: Lücken zwischen deinen Zufällen. Es gibt keine Lücken. Wenn du einen Willen ansetzst, so erreicht er sein Ziel. Meinst du, er hält inne, weil du weggehst oder weil du stirbst? Er holt dich Tausende und aber Tausende von Jahren später wieder ein.

- Vorausgesetzt, ich kehre zurück.

- Er ist es, der dich zurückkommen läßt. Wir machen weiter bis zum Ende, Nil. Nichts bleibt unabgeschlossen.

- Das Ende? Der Papageienkäfig mit dir?

- Freude, genau das. Wenn man Freude hat, so löst sich alles auf. Man kommt und geht: man tut, was man möchte, man ist frei. Und nichts ist hinfort mehr getrennt. Du hast keine Freude, Nil, du hast die Geschichte nicht abgeschlossen. Du kannst morgen abreisen, wir...

Ich beugte mich über sie und küßte sie auf den Mund.

Die Luft war wie eine sengend heiße Masse. Mohini gab sich mir hin. Ihr nasser Sari klebte ihr am Körper. Sie sah aus wie eine Apsara, die einem Basrelief von Konarak entstiegen war.

- Heute Abend wird es einen Sturm geben.

Aber was kümmerte es mich! Auf ihrem runden, goldenen Gesicht perlten kleine salzige Tropfen, ihr Hals duftete nach Sandelholz. Ich war ausgelaugt, ausgelöscht, reif für die Niederlage - Liebe ist immer eine Niederlage. Sie schmiegte sich an mich. Etwas in mir wiederholte immer noch: "Laurelbank - Laurelbank..." Aber was sollte ich da drüben eigentlich tun? Hatte ich nicht alles, was man vom Leben erwarten konnte: Schönheit, Liebe, ein Vermögen, wenn ich wünschte? Was mehr? Sie war zwanzig, ich war gerade neunundzwanzig. Welcher meiner Brüder wäre nicht um die halbe Welt gerannt, um all dies zu besitzen, meine Brüder im vierten Stockwerk links im Halbdunkel? Was mehr? Was suchte ich denn noch - war ich nicht verrückt?

Sie schien meine Gedanken zu lesen:

- Was wirst du dort machen?

- Wo? In Neu Guinea?

Ich versuchte mich an etwas Handfestes zu klammern; alles schien mir durch die Finger zu gleiten.

- Es heißt, daß man dort Chrom und Kobalt finden kann.

- Chrom? Wozu ist das gut?

Ja, das frage ich mich auch.

- Es ist ein spezieller Rohstoff für die Metallurgie.

- Metallurgie...

Sie riß die Augen weit auf und suchte jenes Monster irgendwo in den Palmen. Das war zu viel.

- Aber das Chrom ist mir ganz gleich, verstehst du nicht?

Doch in Wirklichkeit war ich selbst es, der nichts mehr verstand. Ich würde dort ohne einen Pfennig landen, von einem Konsulat zum anderen rennen, zu den Einwanderungsbehörden, den Bergämtern, den Negervierteln, den Verschlägen der Mittellosen - die niemandem etwas bedeuten - und ich würde immer einer zuviel oder einer zuwenig sein. Und hätte ich einmal ihr Chromvorkommen oder ihre Erdnüsse gefunden, würde ich vor ihrem widerlichen Erfolg davonlaufen.

- Aber wenn du wirklich gehen willst, warum kehrst du dann nicht in dein eigenes Land zurück? In den Westen?

Der Westen... Das weckte wieder meine Lebensgeister.

- Ich habe kein Land.

- Aber du hast doch schon Gold in Südamerika gesucht?

- Ja, und Glimmererde für deinen Vater, Kakao-Plantagen in Brasilien, griechisch-buddhistische Ruinen in Afghanistan und nicht-existente Schätze - das sind die besten, denn man ist sicher, nicht enttäuscht zu werden. Und dann Ägypten, die Elfenbeinküste... Ich habe Urwälder und Länder im Galopp durchstöbert - ich war sogar hinter Gittern.

- Warum dann...

- Das Problem ist, man findet immer dasselbe. Buddhistische Büsten oder Flüsse mit "grünen Felsen", das ist schön und gut, solange man sie nicht gefunden hat. Sind sie einmal entdeckt, so ist es alles das Gleiche: durchsichtig und nichtig, wie das "Besondere X" der Minen deines Vaters. Es gibt nie einen Fund - man gleitet hindurch.

Und doch... einmal, ich erinnere mich daran, in Ägypten, vor vielen Jahren... Da drang ich nicht hindurch (vielmehr war er oder sie es, die in mich drang), ein seltsames Antlitz, das mich anblickte. Ein Blick... Es war in einem Tempel an den Ufern des Nils, ein kleiner Tempel, völlig dunkel. Nur ein Lichtspalt war da im Gewölbe, und zwei Augen, die blickten - die blickten. Diese Augen... Ein Lid, das sich Zeitaltern öffnete, weit, weit, und dort am Ende, ganz am Ende, ist man etwas völlig anderes. Man hat immer gelebt.

Das entblößte mich, durchfuhr mich, und ich fühlte mich so völlig lächerlich in meiner Haut des 20. Jahrhunderts, mit der Kamera in der Hand - ich war plötzlich wie leer, zusammengeschrumpft, falsch vor jener... Ich weiß nicht, aber bei all meiner "Zivilisation" war ich doch ein degenerierter Zwerg - degeneriert und falsch, mit falschem Gewand, einem falschen Leben, einer falschen Wissenschaft, einem falschen "ich", und einer kleinen Kodak in der Hand, um die Sphinx zu kitzeln.

- Schau, Nil, ich weiß nicht, was du suchst, aber ich kann fühlen, weil ich dich liebe. Du wirst in Verzweiflung enden. Du wirst allein sein mit deinen Chromgruben, die nicht mehr wert sind als meine Glimmergruben. Du läufst davon.

- Das ist nicht wahr.

- Der Tod lastet auf dir.

- Das ist Erpressung.

- Er lastet auf uns, Nil. Die Bestimmung lastet auf uns. Dem, wovor du fliehst, wirst du wiederbegegnen, zehnmal, zwanzigmal, bist du den Mut hast, den Knoten zu lösen. Und jedes Mal wird es schwieriger sein. Aber du wirst ganz bestimmt zurückkommen, bis die Dinge erfüllt sind.

- Versuch nicht, mich in die Ecke zu treiben!

- Aber ich will doch gar nichts für mich, du Blinder! Ich will dich nicht für mich halten. Du verstehst gar nichts, Nil, du bist wie ein waidwundes Tier. Wer hat dich verletzt? Was ist geschehen?

- Nichts, gar nichts.

- Doch, da war etwas - und ich habe etwas damit zu tun, ich kann es spüren. Ich habe es gleich vom ersten Tag an gefühlt. Als du die Tulsi-Blätter an der Tür gepflückt hast, hatte ich das Gefühl, als ob ich dir dies bereits einmal gesagt hatte. Als du das Parktor aufgestoßen hast, schien es mir, als ob wir diese Geste bereits einmal gemacht hatten. Alles scheint von vorne zu beginnen. Was wirst du dort tun, Nil? Was suchst du denn?

Sie drückte mir den Arm, bis es weh tat. Ich fühlte mich wie in einer Falle, wußte aber nicht, in welcher.

- Nil! Das Leben erscheint so natürlich, daß wir nicht mehr acht geben, alles ist so vertraut. Und dann gibt es kleine harte Punkte, in denen gleichsam die ganze Vergangenheit konzentriert ist... Alles, was man sucht, ist hier, Nil, in jedem beliebigen Augenblick, ohne irgend etwas zu bewegen, hinzuzufügen oder abzuziehen - es ist hier. Nil, ich habe das Gefühl, daß wir uns ständig am Rande eines Wunders befinden, ohne es zu wissen, und man könnte ganz zufällig darauf stoßen, wie man auf einen Stein am Straßenrand stößt oder wie man rein zufällig ein Tulsi-Blatt aufhebt. Und wenn man das zu fassen bekommt, dann verändert sich alles! Ich sah es einmal, wie ein kleines Klicken im Inneren: alle Farben wandeln sich - das Leben wandelt sich. Das Wunder ist überall, Nil; es ist hier, in dieser Minute, wenn du willst.

- Du bist zu schön, Moni.

- Ach, wie oberflächlich du bist! Du siehst nur meinen Körper.

- Na und? Ich weiß genau, wohin dein kleines Wunder führt: Jedes Jahr gibt es dreiundsechzig Millionen kleiner Wunder, die nicht geschehen.

- Ich verabscheue dich.

Sie ließ meinen Arm los. Die Palmen warfen einen krabbenähnlichen Schatten um uns.

Ja, was suche ich eigentlich?... Manchmal habe ich den Eindruck, daß man nicht wirklich "sucht", vielmehr wird man zu einem gewissen Punkt hingezogen, schneller und immer schneller, wie ein Strohhalm in einem Strudel; deswegen sagen wir, daß man "sucht", weil man das Ziehen fühlt, aber es kommt nicht von uns; es ist die Beschleunigung der Bewegung. Tief innen, da weiß man. Man könnte sagen, daß der Zweck jedes Lebens darin bestehe, zu einem gewissen alten Punkt zurückzukehren - einer Erinnerung, einer Tatsache, einem Unfall, einem früheren Versagen, einer bestimmten Art Situation -, die sowohl das Desaster als auch den Schlüssel zum neuen Leben enthält. Man muß geradewegs bis auf den Grund gehen und der Sphinx den Hals umdrehen. Das ist der Strudel, und es geht immer schneller. Kurz gesagt, man geht rückwärts in die Zukunft. Es ist wie dieser krabbenähnliche Schatten auf dem Sand: Man verläßt nicht den Schatten; man erreicht den Punkt, wo er wieder in sein eigenes Licht übergeht.

- Nil, zum letzten Mal, antworte mir. Warum gehst du fort?

- Aber ich weiß es doch nicht! Wo ist das Geheimnis, Moni? Wer besitzt das Geheimnis vom wahren Leben? Ich bin jetzt seit zehn Monaten hier und habe nur Tempel und immer wieder Tempel gesehen. Ihr seid Gefangene der Götter und der Bestimmung. Und bei uns sind sie Gefangene der Zeit und der Maschinen - ihr Leben verrinnt beim Versuch, sich ein Leben zu machen. Niemand lebt, Moni, wo ist denn das Leben? Überall wird es verraten, von den Göttern oder der Maschine, oder von irgend etwas im Bauch, das uns immer wieder herunterzieht: die kleine Familie, Geschäfte, Sex. Ich will ein echtes Leben, verstehst du, ein freies Leben, unter dem Zeichen keiner Krabbe da unten oder da oben. Niemand besitzt das Geheimnis! Und je mehr ich suche, desto mehr finde ich gerade das Gegenteil von dem, was ich suche. Es ist wie mein Traum von den Erdpolen: Zehn Jahre lang habe ich von Grönland geträumt, und je mehr ich von Grönland träume, desto näher finde ich mich am Äquator.

***

So sprach Nil an jenem kleinen weißen Strand, in diesem Zeitalter oder einem anderen, auf einer Insel im Lande der Sonne. Er schaute klein aus an jenem Strand, wie wenn von weit oben betrachtet, mit seiner hübschen Gefährtin mit den dunklen Zöpfen. Er sah nicht, er verstand nicht, er hörte nur das Geräusch seiner eigenen Worte; aber ich sah ihn wohl, meinen Bruder unter einem Schatten, ich hatte sein Schicksal mehr als einmal getragen. Ich war hier und dort in ihn eingetreten, ich war der langen Reihe von Leben gefolgt, wie die Tänzer auf den Wänden von Theben unter der großen Schlange des Schicksals. Und jedes Mal war ich in seine Schwierigkeit eingetreten, in einen lebendigen Widerspruch, als ob die Menschen Körper um Körper nur annahmen, um eine bestimmte Unmöglichkeit zu entfesseln.

O Sucher

In jedem Ding, in jedem Wesen auf der Erde

Gibt es einen Knoten des Widerspruches

Einen unmöglichen Punkt

Hart und kompakt wie der Schmerz

Dünn wie der letzte Lebensfaden

Gleich einem Wunder

O Sucher

Die Dinge haben tausend Gesichter

Tausend Widersprüche

Aber es ist immer dasselbe

Es gibt nur einen Schmerz in der Welt

Nur eine Sorge durch viele Augen

Eine einzige Stätte wo alles zusammentrifft

Oder sich trennt

Wenn du den Punkt findest

Lebst du

Oder du stirbst.

***

Wenn sie mich in diesem Augenblick nicht verlassen hätte, um die sogenannte "Feier" vorzubereiten, so wäre vielleicht nichts geschehen. Manchmal scheint das Schicksal an einem Atemzug zu hängen, als ob es auch dort wäre, in jenem zerstreuten Blick, dem Schritt hierher anstatt dorthin, in einem Basilikum, das man zufällig gepflückt hat; und vielleicht ist alles schon da, in den kleinsten Details - das Gittertor, das man geöffnet hat, der Stein, gegen den man am Straßenrand gestoßen ist - gleich wie in den mächtigsten Taten: die letzteren sind nur die Vergrößerung der ersteren. Jedes Ding, jeder Augenblick ist die verborgene und mikroskopische Probe eines großen Aufsprengens, das uns eines Tages verblüffen wird. Nur sehen wir nicht den kleinen Atemzug; wir haben nicht die richtigen Augen.

Und alles ist unfehlbar, gerade das läßt mich nicht los! Alles ist von einer schwindelerregenden Genauigkeit, bis zur x-ten Stelle hinter dem Komma. Selbst die Vögel fliegen nicht rein zufällig vorbei!... Sie mag verrückt sein, aber wenn ich heute abend an diesem Strand bin, so deshalb, weil jeder Schritt mich hierher geführt hat, ohne daß ein einziger ausgelassen wurde - alle Schlaglöcher, alle Umwege waren Teil des Weges - und alles bewegt sich gerade mittels Millionen von Umwegen. An welchem Punkt in der Geschichte kann ein einziger Schritt ausgelassen werden, ohne daß alles zusammenbricht? Wo ist die Minute, in der ich jene Linie oder jene Straße nicht hätte überqueren können, ohne das ganze stupende Spiel zu demolieren? Eines Tages zerbarst das goldene Ei in Millionen Welten, und diese kleine Narbe war bereits da auf meiner Stirn! Oder bin ich dabei, den Verstand zu verlieren? Wenn auf der anderen Seite der Welt auch alles mathematisch vorprogrammiert ist, wo bleibt dann meine Freiheit? Auf A-8 einer viel gefährlicheren Karte habe ich bereits das Spiel verloren.

O Kind

Alles ist bereits durchgespielt worden

Und alles ist frei

Je nachdem ob du hierher schaust

Oder dorthin

- Nil, Nil, schau doch!

Sie war auf die von Weinreben überwachsene Terrasse geklettert und wies auf etwas am Himmel.

- Die Vögel kommen, die Vögel kommen! Der Monsun ist da!

Ein schwarzes Dreieck driftete im Nordosten, der Himmel war wie ein greller Dunst. Ich zuckte mit den Achseln und ging aufs Geratewohl zum Strand. Kleine rote und weiße Krabben liefen in alle Richtungen davon, eine Schar von Regenpfeifern hob von den Felsen ab. Gern hätte ich sie alle festgenagelt, jeden Kieselstein und jeden gekrümmten Schatten der Palmen, sie dem Feuer meiner Augen ausgesetzt, bis das kleine Geheimnis aufbersten würde. Und immer dieses bedrängende Gefühl einer entscheidenden Erinnerung, die ich nicht wiedererlangen konnte - was hatte ich denn vergessen?

Zum Teufel damit. Ich machte mich wieder auf den Weg.

Ganz am Ende des Strandes lagen Granitfelsen aufgetürmt wie nach einer furchtbaren Explosion. Ich kletterte an der Küste entlang. Die Luft war zum Ersticken. Die Sonne ging bereits unter. Über dem ersten Plateau lag ein weiteres. Ich kletterte noch weiter. Ich begann einen Eifer zu entwickeln, als ob ich nur auf diese Insel gekommen wäre, um diese Felsen zu erklimmen. Und Mohini dort unten, mit ihren Göttern, ihrer Bestimmung, ihren Vögeln, das alles schien mir so lächerlich und unwirklich - eine Art morbider Erfindung. Was kümmerte es mich, ich lachte mir in den (übrigens abrasierten) Bart. Ich kletterte auf das dritte Plateau. Und dort geschah etwas, was ich mir nie erklären konnte. O ja, es muß eine sehr einfache Erklärung dafür geben, aber ich bin vorsichtig mit einfachen Dingen: je einfacher die Sache, desto wundersamer ist sie; dort ist der letzte Unterschlupf des Wunders. Oder ist es vielleicht das Durchbrechen von A-8 dort oben hier hinein in das A-8 unten? Ein "Zusammentreffen"? Es war wie Musik. Ich könnte schwören, es war Musik: eine Stimme oder vielleicht ein sehr sanftes Instrument, wie zwei kleine Töne. Und sehr kurz. Nur ein kurzer Ruf. Zwei kurze, knappe Noten, die sich erheben und erheben. Ich hielt inne, mein Herz klopfte, als ob der Ruf mir galt. Ich wandte mich um. Das Haus lag verborgen hinter dem dicht mit Bäumen bewachsenen Hügel. Von dort konnte er nicht gekommen sein. Und doch klang es wie eine Ektara, das Zupfen einer Saite. Aber ich hatte die Ektara doch zerbrochen. Und wer hätte dort überhaupt spielen können? Ich kletterte noch höher. Nichts regte sich. Die Hitze lag wie ein dichter Schleier über der Insel. Plötzlich hörte ich ein schrilles Schreien. Mein Blick fiel auf einen großen Banyanbaum, ein Gewimmel von aufgeschreckten Sittichen und zähnefletschenden Affen. Dann herrschte wieder Stille.

Ich stand auf dem Felshügel.

Vor mir lag das Meer. Das weite, flimmernde Meer, soweit das Auge reichte, wellenlos und unbeweglich, wie eine Fläche flüssigen Quecksilbers - eine helle Unermeßlichkeit. Selbst der Hafen war verschwunden. Kein Schatten irgendwo, keine Seele. Es war wie ein See zu Anbeginn der Welten, eine weiße Genesis an einem Tag, wo Ewigkeit sich selbst zulächelte. Und dann hoben sie an: zwei Töne von den Felsen her, zwei winzige Töne, so rein! Ich ging um den Banyanbaum herum: Niemand war dort. Zwei unerträglich reine, durchdringende Töne, als ob sie jeden Moment zerspringen würden, aber nichts zersprang: Sie stiegen auf, immer höher. Nun war ich im Begriff "zu zerspringen". Und dann der dritte... Oh! Es war wie eine plötzlich klaffende Lücke in mir, eine Leerstelle in der Erinnerung; es schmolz und schmolz - alles war am Zerschmelzen: Vergangenheit, Gegenwart, Erinnerungen, Schönheit, Länder, Gesichter, alles, was man gelebt und gewollt hat, die tausend Fäden, die alles zusammenhalten. Und jetzt hielten sie nichts mehr. Das Gewebe löste sich auf. Ich war nicht mehr darin, ich war nie darin gewesen. Es war eine Täuschung! Als ob man Leben um Leben für rein gar nichts gelebt hätte, völlig vorbei an allem: vorbei an sich selbst, an den Lebewesen, an den Dingen, und dann plötzlich stürzt es ein, man ist auf einer anderen Reise. Gerade genug Zeit, um "oh" zu sagen, und alles zerspringt - man schaut durch ein anderes Fenster. Und es ist nichts Großartiges oder Exaltiertes daran; eher das Gegenteil des Exaltierten: nur ein kleiner reiner Ton, und es war wie der wahre Ton der Welt. Der Ton. Als ob es überhaupt nur einen gäbe. Mir war danach, aufzuschreien: "Ja, ja, das ist es! Das ist es!" Absolut das. Das, worauf ich schon Millionen Jahre warte! Eine Süße absoluten Wiedererkennens.

Ein Einströmen von Süße.

Es dauerte nur wenige Sekunden an.

Ich stand vor einer betäubenden Leere - war sie vor mir, in mir? Ich blickte aufs Meer, auf die zurückkehrenden Katamarane, die scharlachrote Kuppel der Korallenbäume, und ich verstand gar nichts mehr. Alles war falsch, leer, hohl, ein exotischer Dekor, der jener leuchtenden Wirklichkeit aufgepflanzt war. Aber was tat ich eigentlich hier, worauf wartete ich denn? Ich mußte weggehen, sofort weggehen, mich in Bewegung setzen, aufbrechen, den Faden wieder aufnehmen - weggehen... aber wohin? In ein anderes Land, mein Land, das wahre Land, von wo ich her kam. Oh, ich weiß nichts mehr, meine Erinnerung ist verschwommen und all meine Namen sind falsch. Ich trage geborgte Kleider, mein Leben ist eine Lüge! Wer wird mir sagen, woher ich komme, wer wird mir meinen Geburtsort nennen, meinen Namen? Habe ich nicht einst etwas anderes gelebt, in wahreren Zeiten, war ich nicht absolut etwas anderes? Manchmal scheine ich mich an ein unermeßliches Land zu erinnern, von woher ich kam, an eine Musik und große Schneefelder unter einer reglosen Sonne. Wo ist mein Weg, mein roter Faden? Alles ist verschwommen, ich weiß nicht mehr ein noch aus, ich habe das Losungswort verloren. Da ist ein Brennen im Herzen des Menschen, das ist alles, was ich weiß; es ist mein Längen- und Breitengrad von Feuer, es ist mein ständiger Standort. Etwas fehlt ganz und gar im Herzen des Menschen - und wenn das nicht da ist, so fehlt alles; ein winziger Ton, der zieht und zieht, und wenn man den Ton verfehlt, so ist die Welt falsch und alles ist falsch.

- O Nil, ich habe mir solche Sorgen gemacht.

Sie war ganz in Rot gekleidet, die Verrückte! Helles Rot, blutfarben.

- Ich habe überall nach dir gesucht. Was hast du gemacht? Wie seltsam du ausschaust!

Das gelöste Haar fiel ihr ins Gesicht. Sie war außer Atem. Dann plötzlich krachte die Welt über mir zusammen wie ein quietschender Karren: die Sittiche, die Affen, die drückende Schwüle, und diese Frau, die mich in einen scharlachroten Nebel hüllte.

- Komm, Nil, das Haus ist so schön! Ich habe überall Lichter angezündet.

Alles bewölkte sich plötzlich, als ob ich in das dunkle Land eingetreten wäre: Ich mußte geträumt haben.

- Es sind Lichter in allen Räumen. Die Sitars leuchten, die Ektaras, die Sarods. Ich werde für dich musizieren.

Träumte ich, oder war ich in einen anderen Traum übergewechselt?

- O Nil, wo bist du? Wohin schaust du? Siehst du nicht den Sturm aufkommen?

Und man geht von einem Traum zum anderen, von einem Land zum anderen, zu höheren oder tieferen Ländern, ganz unbeschwert, unmittelbar wie ein Geruch oder ein Ruf; rote, blaue Farbtöne, nie endende Graufarben mit niemandem drinnen. Und man schreitet ruhelos voran, ein Wanderer von mehr als einer Welt, ohne sicheren Ort.

Und ich schämte mich meiner Traumanwandlungen. Aber war diese hier realer, weil sie rot war und mir unter die Haut ging?

- Im Westen zieht der Sturm auf, Nil, siehst du nicht?

Ein Land, das sich nicht bewegt, ein Heim, das von Dauer ist.

- Komm, Nil, laß uns gehen. Mir gefällt dieser Ort nicht. Er taugt nur dazu, sich umzubringen.

Ich fuhr ihr streichelnd übers Haar. Der Felsen war sengend heiß.

- Bitte komm, laß uns heimgehen. Das Haus ist wie ein Festsaal.

Sie war sanft an mich geschmiegt, ihre braune Haut glühte in der Sonne. Ja, Moni, gewiß, du gefällst mir feuerrot und brünett; heute abend werden wir feiern.

Brünett, gewiß; Frauen bedeuteten immer eine Rückkehr ins Halbdunkel und ins Vergessen.

- Ich habe die Kashmir-Teppiche ausgerollt. Wir werden auf blauen Zedernwäldern schreiten.

Ich habe mich bereits in deinem Wald verloren.

- Nil, mein Allerliebster, gehst du wirklich weg?

- Hör auf damit, Moni, hör auf. Ich weiß nicht mehr.

Eine Brise strich übers Meer, trockene Blätter fielen zu Boden.

- Am Abend, wenn der Wind weht, vibriert das Haus wie eine große Sitar.

- Ja, Moni...

- Weißt du, als ich sehr klein war, kam ich oft hierher. Ich hatte Angst.

- Wovor?

- Ich hatte immer den Eindruck, daß ich fallen würde, aber dann kam ein weißer Fremder und rettete mich. Seltsam - und jetzt bist du hier.

Kraniche schossen pfeilschnell vorüber. Das Meer färbte sich bleigrau.

- Ich habe das in einem Traum gesehen, als ich ganz klein war: Ich war im Begriff zu fallen, ich stand dort, genau wo du jetzt bist, und da... Nil, ich habe das Gefühl, daß die Welt voller Bilder ist, die wahr werden. Sie sind vorhanden, sie existieren, manchmal sieht man voraus, und dann geschieht das Unheil. Nil, Nil...

- Was ist das für eine Geschichte?

Sie schmiegte sich an mich. Die Gestalt des Sannyasins stand mir plötzlich vor Augen.

- Ich weiß nicht, Nil, manchmal habe ich solche Angst.

- Du bist doch verrückt.

- Nein, Nil! Ich bin nicht verrückt, das Schicksal ist vorgezeichnet.

- Das bildest du dir nur ein.

Sie blickte zu mir auf. In ihren Augen war diese fast unerträgliche Süße.

- Aber schau doch, öffne deine Augen!

Sie blickte auf etwas hinter mir, und ich spürte eine Schwere, etwas lag in der Luft - ich mußte weglaufen, sofort entkommen. Aber da war dieser Blick, der mich festhielt. Sie faßte mich am Arm.

- Siehst du denn nicht... Die Welt ist voller Bilder, Nil!

Ich weiß nicht, was sie da hinter mir betrachtete, aber die Luft war drückend - ich war drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren.

- Nil, wenn du nur wolltest, könnten wir das Schicksal umwandeln; wir könnten das schöne Sinnbild heraufbeschwören, das das Leben verändert. Es gibt auch schöne Sinnbilder in der Welt, wir könnten den Tod vertreiben, die schöne Geschichte herabbringen und verwirklichen. Wir könnten zusammen ein Leben in Schönheit schaffen. Schau, Nil, bitte schau! Ein schöner Blick, das ist der Blick, welcher erschafft, und bist du nicht Nil-Aksha, der Blauäugige?

- Ich bin Nil-rein-gar-nichts und hasse Gerede. Ich bin frei, hörst du? Und dein Schicksal kann mir gestohlen bleiben.

In diesem Augenblick fegte eine heftige Windböe über die Insel. Alle Sittiche flogen kreischend davon. Etwas geschah in diesem Augenblick, ich könnte es schwören. Etwas hielt inne in mir, blickte auf die Szene und photographierte sie, als ob ich meine Augen zum ersten Mal öffnete, und ich fühlte, daß ich Worte geäußert hatte, die ich nie hätte äußern dürfen.

Sie löste ihre Hand von meinem Arm. Wie eine Statue stand sie da reglos in ihrem roten Sari:

- Laß uns hereingehen.

Ich rührte mich nicht.

- Laß uns hereingehen. Es wird Nacht, schau, wie der Himmel sich violett gefärbt hat!

Eine brodelnde Masse rollte im Westen auf. Kleine Windböen begannen das Meer zu kräuseln.

- Komm, Nil, es wird sonst zu spät.

Regentropfen spritzten auf den Boden. Die heiße Erde roch wie schwitzende Haut. Dann begann sie hastig zu sprechen, als ob sie Angst hätte:

- Ich habe weiße Kleider für dich herausgelegt, unser Haus ist wie eine Feststätte, überall brennen Kronleuchter.

- Was ist denn mit dir, Moni? Hast du Angst vor dem Regen?

- Nil, verlaß mich nicht, sicher habe ich Angst.

Sie hatte einen seltsamen Blick, aber es war nicht Furcht darin, und ich konnte nicht herausfinden, was es war. Plötzlich donnerte es und eine Böe fegte über die Insel. Alle Blüten stoben davon wie eine Wolke roter Vögel.

- Es wird zu spät sein, Nil.

Ich war erstarrt. Ich spürte die Gefahr, aber wo? Welche Gefahr?

- Zu spät, Nil, zu spät...

Da verstand ich blitzartig: mein Schiff! Die Laurelbank, das Schiff, mein Gott!

Ich zog meine Hände weg.

- Ich flehe dich an...

Der Horizont war violett, das Meer voller Gischt. Einen Augenblick betrachtete ich die verstörten Augen, die bebenden Lippen:

- Nil!

Dann rannte ich wie ein Irrer zum Landesteg.

Mein Schiff, mein Schiff... Ich werde vom Festland abgeschnitten sein, gefangen wie eine Ratte. Ich kletterte über die Felsen und stolperte beinahe über einen modrigen Schiefer. In einer halben Stunde würde es dunkel sein; morgen würde es zu spät sein, das Meer würde toben. Ich sprang auf den Strand, bahnte mir den Weg durch Seetang, strauchelte und fiel in ein Loch. Mein Schiff, mein Schiff... Meine Schläfen pochten, ich spürte den Puls am Hals, war wie ein eingekreistes Tier, plötzlich wie am Ersticken - Freiheit, Freiheit... Der Wind war stark genug, um Bäume zu entwurzeln. Ich rannte und rannte.

Seit zehn Jahren laufe ich schon. Ich glaube, ich könnte noch über die halbe Erdkugel laufen, oder zum Teufel, wenn notwendig. Und jedes Mal sage ich nein. Nein zu ihrem kleinen Glück, dem widerlichen kleinen Glück, der sanften Rattenfalle und blühenden Dekadenz. Ich sage nein, und ich könnte hunderte Jahre lang nein sagen, wenn es sein muß. Nein zu eurer Saitenmusik, euren gepolsterten Vergnügungen, euren Honiginseln oder Daunenfedern, euren exquisiten Erstickungen; nein zu all jener Kunst, die Leere salonfähig zu machen und das Mannequin mit Stroh zu staffieren. Ich bin das Nichts, die Leere, die Haut des Mannequins, die die wahre Sache will und keine Staffage. Ich will die wahre Fülle. Und keine Revolte: Ich sage nein zu euren Jas und nein zu euren Neins - nichts zu verfluchen, nichts zu vergessen, alles ist gleich: Eure Freiheiten sind gepanzert wie eure Tore, eure Zärtlichkeiten sind die zwei gierigen Arme eures Elends; euer Gutes die Kehrseite von eurem Bösen, oder dessen Vorderseite. Und alles schreitet in Paaren, wie bei einer Hochzeit, euer Schwarz mit eurem Weiß, eure Freuden mit euren Sorgen, euer Gott mit seinen Teufeln. Ich selbst, ich entkomme der Höhle, gute Nacht euch allen! Ich habe nichts zu bewahren, keinen einzigen Tag, keine einzige Minute hinter mir! Nichts mitzunehmen, meine Tasche ist leer. Ich habe zum Schein gelebt und ich bin nur in euren amtlichen Registern geboren. Ich bin nichts, dreimal nichts, einer, der eure Staffage aus Stroh nicht will. Ich lasse das Mannequin zurück, und was bleibt dann?

Das Haus war erleuchtet, "unser" Haus. Die Veranda war lichtüberströmt unter den Regenböen. Meine Stirn blutete. Nein, ich war nicht in Revolte, und ich schrie "Freiheit", aber es war einfach das, ein Schrei wie ein Erstickender - etwas anderes, etwas anderes, ein vollständiges "Anderssein", das nicht anders war. Ich rannte in diesen roten Wald wie ein Schlafwandler, der seinen Körper sucht, wie ein Ertrinkender, der nach Luft ringt. Nein, ich habe keine Heimat, kein Land, keine Frau, keinen Namen, keine Zukunft, gehöre nicht zur Hochzeitsgesellschaft. Ich werde keine kleinen Nils zeugen, die andere kleine Nils zeugen, die wieder andere Nils zeugen. Und nichts ist begonnen worden! Keine einzige Sekunde zum Mitnehmen, keine wirkliche Minute. Wo ist der eine wahre Tropfen in all dem? Ich scheine ganze Leben damit zugebracht zu haben, tonnenweise nichtiges Euphrates- und Brahmaputrawasser vorbeifließen zu sehen, für nichts und wieder nichts.

Ich eilte durch die Nacht, als ob sie mir alle auf den Fersen wären, die kleinen Nils, die die kleinen Nils gezeugt haben, alle zusammen in eine unerträgliche Sekunde gezwängt, mit dem einen Schrei: "Wann fangen wir an?" Die ganze Familie durch die Nacht hetzend. Ich floh wie ein Dieb über diesen Teppich roter Blumen, begleitet von Musik, die sie nicht hören konnten, und berauschend wie Wein: Freiheit, Freiheit, Freiheit, die Laurelbank und sonst nichts!

Und ich bin noch am Rennen.

Am Strand zogen drei Männer einen Katamaran an Land. Der Wind heulte, Dornen und Gischt wirbelten durch die Luft; mein Mund war voller Sand. Ich sprach den ältesten an.

- Bring mich zum Hafen.

- Zum Hafen? Sagtest du Hafen?

Er sah mich an und schrie etwas in den Wind. Dann wandte er mir den Rücken zu. Ich schrie auch.

- Ich werde zahlen!

Er warf sein Paddel auf den Strand; ein leerer Korb rollte in die Kaktusbüsche.

- Hör, du Narr! Hier, schau...

Wie ein Besessener schwenkte ich meine Brieftasche.

Er hielt inne, blickte mich an, mit einem Tau in der Hand.

- Du siehst den Wind wohl nicht, oder?

- Ich gebe dir, was du willst. Wir können mit Rückenwind segeln, in zwanzig Minuten werden wir im Hafen sein.

Er blickte zum Himmel und dann auf die Brieftasche. Ich schöpfte wieder Hoffnung.

- Ich bin Seemann. Ich werde dir helfen.

Die anderen wurden ungeduldig. Er hielt die Nase in den Wind.

- In zehn Minuten wird es dunkel sein.

- Was macht das? Wir halten gerade auf die Küste zu. Wir können sie gar nicht verfehlen.

Ich zückte zwei Banknoten, zwei lächerliche Banknoten. Sie waren triefnaß und klebten zusammen, es war absurd.

- Hier.

Er zuckte bloß mit den Schultern. Ich war erledigt. Meine Uhr! Ich hatte noch meine Uhr.

- Schau hier.

Ich war außer mir. Ich hätte ihn geschlagen, wenn ich gekonnt hätte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Dann spuckte er Sand aus und begann wieder, den Katamaran einzuholen. Ich war gefangen wie eine Ratte.

Mir wurden die Knie weich, die Katastrophe nahm ihren Lauf vor meinem inneren Auge: kein Geld, keinen Job, das Ticket verloren und nur halb rückzahlbar, sechs Monate Arbeit, um eine andere Überfahrt bezahlen zu können. Ich war außer mir vor Wut. Es blieb nichts, als zum Haus zurückzukehren und die kleine Familie zu gründen.

Plötzlich wandte ich mich um, schlagbereit: Sie stand dort. Wenn Blicke töten könnten, so brachte ich sie in diesem Augenblick um.

Aber ich war wie versteinert. Sie stand dort reglos, aufrecht, in ihrem roten Sari, etwas höher als ich auf einer kleinen Erhebung im Sand, so vollkommen ruhig inmitten des brausenden Winds und der abgerissenen Blüten, daß sie wie eine geschmückte Gottheit aus einem Heiligtum ausschaute, dort aufgestellt für ein Ritual: mit gelöstem Haar, ihre Augen so groß, daß sie das ganze Gesicht auszufüllen schienen, ohne Bitten oder Tränen, ohne Vorwurf, wie bereits von Ewigkeit ergriffen, lebendig nur durch jene Lieblichkeit, die mich anblickte, die direkt in die Tiefe meiner Seele schaute und die mich immer angeblickt zu haben schien, so warm, so sicher - wir verloren einander nicht. Wir konnten einander nicht verlieren! Wir waren zusammen, immer zusammen, ewig zusammen.

Da, für einen Augenblick, liebte ich sie.

Sie trat wortlos heran, streifte ihre Goldreife ab und gab sie dem Mann. Dann sah sie mich wieder mit dieser unerträglichen Sanftheit an, grüßte mich mit zusammengelegten Händen, wie man Götter im Tempel grüßt. Und plötzlich war sie fort.

- Laß uns aufbrechen, Fremder. Mach schnell, die Nacht kommt.

So gehen sie

Liebende oder Feinde

Brüder und Wanderer

Aber wer geht, wer bleibt?

Nur die Kleidung verändert sich

Der Farbton eines Himmels

Über einer kleinen, weißen Bucht

Nur die Sorge geht

Und ein Kind

Auf einem kleinen reinen Strand

Schaut mit Staunen

Auf jene die da kommen und gehen

Und einander nicht mehr erkennen.

III

Der Aufbruch

Wasser sang durch alle Ritzen im Hafen. Die Luft roch nach warmen Mangos und nach Ebbe. Meine Laurelbank lag fest vertäut am zweiten Kai. Ich sang auch. Jedes Mal sang ich. Ich war leicht wie Schaum auf werdendem Leben. Mohini war dort mit ihrer Insel untergegangen, im Tartarus einer früheren Existenz. Und es gab kein zurück! Dies sind wirklich die besten Augenblikke im Leben. Ich habe stets meine Zeit damit zugebracht, unmögliche Leben für mich zu gestalten, um die einzigartige Freude dieses Augenblicks zu genießen. Leider ist er nicht von Dauer. Kaum entgeht man einem Leben, schmiedet man sich schon neue Fesseln, und alles muß wieder von vorne begonnen werden. Man sollte absolut frei sein, immer im Aufbruch, diesem Augenblick der Freiheit zwischen zwei Ländern.

Plötzlich kam ich wieder zu Sinnen. Ich stand völlig durchnäßt unter einer Straßenlaterne. Der Lichtstrahl eines Leuchtturms strich über ein Durcheinander strömender Schatten, verschwand, erschien wieder, erfaßte den Tempelturm. Das Straßenpflaster, die Palisaden, die verlassenen Kais leuchteten auf. Die Szene hatte sich plötzlich verlagert. In nur einer Sekunde hatte ich die ganze Runde gemacht:

Es war der Hafen von Moresby,

welcher Belem ähnelte welcher Goa ähnelte;

Ich hatte das Goldvorkommen entdeckt, das Chromvorkommen,

die gelbe Insel, die schwarze Insel;

Ich hatte eine Negerin geheiratet und eines Abends Selbstmord begangen.

Ein Blitz-Leben.

Fünfzehntausend Kilometer mit einem Lichtstrahl abgestrichen;

Ich hatte die volle Runde gemacht.

Es war zum zehnten Male, daß ich unter dieser Straßenlaterne landete;

Ich war am Ausgangspunkt.

Ich war nie aufgebrochen.

Die Pfützen unter der Straßenlaterne hatten Gänsehaut.

Mit einem Fußtritt ließ ich meinen Schatten davonwirbeln. Eine Ratte huschte plätschernd davon. Genau das war es, man kam immer wieder zurück zum Affenkäfig; überall der denkende Affenkäfig. Es blieb nichts zu tun, als zu Eastern Traders zu eilen und mein Hemd zu wechseln.

Ein wirklicher Aufbruch wäre vielleicht, das Thema zu wechseln?

Der Kessel des Teeverkäufers glitzerte an der Straßenecke - genau was ich jetzt brauchte.

- O Fremder, da bist du wieder.

Ich fuhr zusammen. Da hockte er mit funkelnden Augen auf einer Kiste vor dem Stand des Teeverkäufers.

- Erkennst du mich nicht?

Einen Augenblick hielt ich inne und starrte auf diesen Schatten im orangenfarbenen Gewand, dann auf die Öllampe, die Säcke, die Kupfertöpfe, den Stand, der aussah wie bei Breughel. Ärger packte mich plötzlich, eine blinde, mörderische Wut, wie beim ersten Mal. Mit einem Sprung war ich bei ihm, griff ihn am Halstuch und hob meine Hand.

Er brach in schallendes Gelächter aus.

Ein triumphierendes, explodierendes Gelächter, das die Kiste erschütterte und durch die ganze Gasse hallte. Ich war wie vom Blitz getroffen. Der Teeverkäufer sprang zwischen den Säcken hervor und packte mich an der Schulter. Der Sannyasin hielt ihn zurück:

- Laß ihn, Gopal, bring ihm Tee.

Er lachte wieder. Der Händler hatte seinen Schurz hochgekrempelt und stemmte seinen Fuß gegen einen Sack; die Öllampe warf phantastische Schatten; und ich hielt weiter stupide an diesem orangegelben Halstuch fest, blickte auf seine weißen Zähne, die grinsten, als ob sie die ganze Nacht verschlingen würden.

- Laß ihn, Gopal. Tu, was ich dir sage.

Der Mann musterte mich noch einmal. Ich war sicher der Teufel. Er sprang über seine Säcke und verschwand. Ich war aufgebracht. Dann fixierte ich diese vergnügte, eulenähnliche Gestalt:

- Wenn du meinst...

Meine Hand löste sich vom Halstuch.

- Recht so, setz dich.

Ich wollte aufschreien, losschlagen, ihm ins Gesicht spucken. Entkommen, bleiben, die Kupfergefäße kaputt treten. Schließlich fand ich meine Stimme wieder.

- Du Sohn einer...

- Er legte mir den Finger auf die Lippen.

- Gebrauche nicht Worte, die verletzen.

Ärger blitzte in seinen Augen auf. Dann fiel der Vorhang wieder. Da war nur noch eine Art lähmender Jubel - wie ein Riese, der über die Berge schaut und der Welt ins Gesicht kichert.

- Du schuldest mir eine Erklärung...

- Was soll ich dir erklären, Junge? Daß du gerade rechtzeitig da bist, daß du viel gerannt bist? Daß du dein Schiff verpassen wirst, wenn du so weitermachst?

Er schüttelte sich noch einmal vor Lachen, aber dann beherrschte er sich.

- Trink doch.

Dieses Gesicht faszinierte mich ganz und gar. Es war fast schwarz, mit stechendem Blick und Adlernase, wie ein Fischadler in seinem fahlroten Federkleid. Es war vor allem diese intensive Vitalität, die augenblicklich erstarren konnte wie die Maske einer Mumie. Er wies mit dem Finger auf mich:

- Was hast du da? Du bist verletzt? Gopal, bring etwas Wasser.

Ich wischte mir über die Stirn: Eine Blutspur lief mir bis zur Nase runter. Es tat weh. Es muß ein netter Anblick gewesen sein, mit den nassen Kleidern und dem zerrissenen Hemd. Einen Augenblick schwebte mir Mohinis Gestalt vor Augen:

- Wirst du mir erklären, was du da gestern gesagt hast? Genau hier, an dieser Stelle, hast du gesagt: Dreimal bist du gekommen, dreimal hast du getötet.

- Das soll ich gesagt haben?

Er sah mich so unschuldig an.

- Dann muß es wohl wahr sein.

Ganz ruhig nahm er sein Halstuch, tauchte einen Zipfel in seinen Kupfertopf und wollte mir die Stirn abtupfen. Ich sprang zurück. Der kochend heiße Tee spritzte mir über die Füße. Ich dachte, nun würde er wieder lachen, aber er rollte sein Tuch zu einem Knäuel zusammen und warf es mir ins Gesicht.

- Hier, wasch dich selbst.

Und da saß er dann stumm und schaute in die Nacht. Ich fühlte mich dumpf und ungelenk, leer, es blieb nur das Halstuch in meinen Händen und meine Schale Tee, und ich starrte diese verlauste Gestalt mit langen Haaren an. Ich war nicht einmal mehr aufgebracht, er hatte mir selbst meinen Ärger genommen. Alles, was blieb, war ein absurdes, hilfloses Zähnefletschen, wie wenn ich einem alten Todfeind gegenüberstände.

Ich riß mich zusammen.

- Hörst du, wirst du mir jetzt sagen...

Warum bestand ich darauf? Ich weiß es nicht. Ich hätte sofort gehen sollen, mich davonmachen sollen - aber je mehr ich meine Torheit spürte, desto heftiger klammerte ich mich an sie, als ob ich eine alte Rechnung mit ihm begleichen müßte. Außerdem brachte seine hölzerne Reglosigkeit mich jetzt auf die Palme.

- Hör mal, du Scharlatan! Du Hochstapler, Quacksalber, wie lange erzählst du den Leuten schon diesen Humbug?

Er wandte sich kaum um und sagte ganz schlicht, so wie man eine Tatsache feststellt:

- Ein Mensch sucht nur die Zufriedenheit seiner Seele.

Und er spuckte in großem Bogen auf den Boden.

- Und du, du bist nicht zufrieden.

Dann bündelte er seine Sachen, band sich das Halstuch um, nahm den Wanderstab, den Bettelsack, die Bettelschale, und machte sich auf den Weg.

- Komm, laß uns aufbrechen, es ist Zeit.

Und plötzlich, ohne zu wissen warum, fand ich mich mit diesem Menschen auf der Straße wieder und marschierte an seiner Seite. Wir gingen die Gasse zurück in Richtung Eastern Traders, vorbei an den Töpferständen, an einem Bettler, dem Tempeltor. Aber was tat ich dort eigentlich? Einen Augenblick ruhte mein Blick auf dem rosafarbenen Töpferwerk und den welken Girlanden des Blumenverkäufers. Er hatte gesagt "laß uns aufbrechen", und ich folgte, als ob ich das schon dutzende Male gehört hätte. Ein seltsamer Schwindel überkam mich. Ich zog mir den Hemdkragen hoch und marschierte in die Nacht hinein.

- He, Sannyasin...

Aber er hörte nicht. Die Uhr von Eastern Traders zeigte zehn vor Zehn an. Ich hatte noch die ganze Nacht vor mir, was riskierte ich schon? Diesmal flüsterte eine kleine heimtückische Stimme mir herausfordernd ins Ohr: "Warum denn nicht?" Und sobald ich dieses "warum denn nicht" hörte, war ich ausgeliefert. Trotzdem hätte ich gern den Grund gewußt, aber ich wußte nicht einmal mehr, was ich eigentlich wissen wollte! Ein seltsames Gefühl ergriff mich, und ich folgte dem großen, in Orange gekleideten Schatten, der barfüßig zwischen Pfützen und verrotteten Mangos entlangglitt, als ob ich gar nicht da wäre. Was gab es denn auch zu wissen? Mit Eintreten der Nacht fühlte ich mich angenehm leicht und beschwingt. Ich hatte nachgegeben, ich wurde von einem Strom fortgetragen. Vielleicht war dies Schicksal? Man stellt Fragen, aber nicht, um eine Antwort zu bekommen, sondern um den Wagen am Rollen zu halten, und wenn man eine Minute stillsteht, um herauszufinden, was man wirklich will, wenn man sich schweben und tragen läßt, so sieht man, daß Fragen und Antworten gar nicht erforderlich sind; man braucht nur eine bestimmte Dichte, wie ein Fisch im Wasser. Und wenn diese Dichte nicht da ist, so stellt man Fragen. Das ist alles. Aber weder die Frage noch die Antwort macht die Dichte aus.

- Sannyasin, sag mir, wohin gehst du?

Er wandte sich um, als ob er mich bloß zur Kenntnis nahm, setzte dann wie ein Wal im warmen Wasser mit vorgestrecktem Hals seinen Weg fort. Ein Taxi raste mit einem Wasserschwall vorbei, gefolgt von Rikshas, Lastwagen, die mit Baumwolle vollgeladen waren, und Schatten, die unter Strohschirmen trotteten. Wir waren am Bahnhof angelangt.

Er blieb unter der Uhr stehen und betrachtete mich einen Augenblick vergnügt, als ob er gerade in einen Apfel beißen wollte. Dann verließ er den Bahnhof und ging in Richtung der Speicher. Ich war nicht einmal mehr neugierig; ich wollte einfach mit diesem Menschen zusammen sein, mit ihm gehen, ganz absurd mit ihm sein, mit ihm zum Teufel gehen, wenn er wollte, und mich in ein solch unwahrscheinliches Leben stürzen, daß ich nichts mehr wiedererkennen würde. Warum denn nicht? Meine Augen fielen plötzlich auf ein Plakat: Nim stand da in weißen Lettern geschrieben, unter einer enormen Zahnpastatube. Einen Augenblick lang wurde alles reglos. Meine Augen schienen sich unmäßig zu weiten und alles zu absorbieren, mit einer phantastischen Präzision in alles einzutreten, als ob der kleinste Tropfen, die kleinste Rille, der Baum am Gleis plötzlich voller ewigen Lebens waren, und ich gelangte "auf die andere Seite". Ich war dort, überall - nicht mittels meiner Augen, sondern in allem, in Millionen Ecken und Winkeln und raschelnden kleinen Blättern: der Tropfen, der Baum, das Wort, die Schatten, alles war lebendig, ewig lebendig, erstarrt. Eine Sekunde Pause in der mächtigen Lawine. Dann kam blitzartig die Erkenntnis - es war offensichtlich, ich reiste ab. Meine Augen fanden den großen gebeugten Schatten wieder, der durch die Nacht schritt. Es war er, ohne Zweifel, ich hatte ihn wiedergefunden. Nach einer jahrhundertelangen Rundreise war ich wieder auf dem Weg, hatte den Faden wieder aufgenommen. Es war, wie wenn ich ganze Leben ziellos in einem Nichts herumwanderte und jetzt wieder auf etwas gestoßen wäre, irgendwo eingetroffen wäre und mich wieder auf den Pfad machte.

In meinen Ohren schien es zu läuten. Die Laurelbank hatte Schiffbruch erlitten, mein Gepäck lag auf dem Meeresgrund, ich besaß nichts mehr! Nichts, nicht einmal eine Zahnbürste, einen Paß, einen Namen. Und ich fühlte mich plötzlich wie von einer Last befreit. Ich wollte den Sannyasin an der Schulter fassen, lachen und ihm sagen... Nichts. Ich trat ein Stück Blech weg und schlüpfte mit ihm durch ein Loch in der Einzäunung. Wir kamen bei den Schienen heraus.

Schwärme von Grillen zirpten in der Nacht. Es war, wie wenn die Eisenbahnschienen sich in einem gelben Schwirren verloren, und ich mich mit ihnen, als ob ich meinen Körper losgelassen hätte - ein winziges Stück Körper, wie Flugasche, auf dem Schotter - und dann war ich oben, ganz oben, rundum transparent, wie ein Feld aus Kristallen, auf dem eine Zikade vibriert. Der Sannyasin lief auf ein rotes Licht zu, ich sprang ihm nach, von Überführung zu Überführung; die Bahnsteige leuchteten, die Nacht war schön wie eine Prinzessin in einem Gewand aus Rubin. Ja, ich kenne eine Schönheit, die nicht die Schönheit des Fleisches ist, und eine Musik, die keine Sitar nachahmen kann, und die Zeichen der Nacht sind meine unwägbaren Schätze.

Das letzte Abteil war für uns. Zwanzig Leute waren schon da, überall verteilt wie auf einem lärmenden Basar, der nach dem Schweiß der Tamilen und Kurkumapulver roch. Der Sannyasin hockte auf dem Trittbrett und pflanzte seinen Stab in die Tür. Ich setzte mich neben ihn und ließ meine Füße baumeln. Der Zug ratterte davon. Ich saß in der ersten Reihe.

- He, Junge, was sagst du dazu?

Ein Freudenschauer durchfuhr mich, ich wühlte in meinen Taschen, nahm die Lederbrieftasche heraus und fand mein Ticket: Port Moresby, über Colombo und die Sunda-Inseln. Aber sicher!

Er schaute mich fröhlich an. Dann nahm ich das Ticket, zerriß es in tausend Stücke und schmiß es hinaus. Der Sannyasin war unbewegt. Ich brach in Gelächter aus, ein herrliches befreiendes Lachen, als ob ich dreißig Jahre Lügen abwarf. O ja, ich kannte Gefängnisse, wo man die Toten - und auch die Lebenden - fein säuberlich bündelte wie Hähnchen. Ich bin im Urwald herumgewatet, habe Fieber und Angstschweiß erlitten, habe an einem Seilende in Adlermist gewühlt, als ich den Schatz der Rajput-Prinzen suchte, und ich habe ein paar üble Kunststücke aufgeführt, die besser unerwähnt bleiben, aber es war immer noch die Unvernunft ihrer Vernunft, das Schwanzende desselben Affenstreichs! Und plötzlich kam ich heraus aus dieser Unvernunft - heraus aus allen nur möglichen Vernunftgründen und Erklärungen, all den Negationen, Gegensätzen, Antinomien, die noch mit einem Fuß auf der anderen Seite stehen: Es gab keine Seite mehr! Ich war nicht einmal auf der "anderen" Seite, mit den Gesetzlosen, den Rebellen, den umgekehrt Gesetzestreuen. Ich war nicht mehr "außerhalb", weil ich nicht mehr innerhalb war. Es war etwas anderes, zugleich majestätisch und erheiternd.

Jetzt verstand ich das Hochgefühl des Sannyasins: es erfüllte auch mich.

- Wohin fahren wir?

Er sah mich überrascht an.

- Nirgendwohin, wir sind da!

Es verschlug mir die Sprache. Dann ging mir ein Licht auf: Wir sind da! Natürlich sind wir da, ganz und gar! Es gibt nichts zu suchen, auch in dreißig Jahren oder drei Jahrhunderten oder später wird es nichts mehr geben, wenn jetzt nichts da ist, hier und jetzt, eben in diesem Moment, wo ich den Speichel herunterschlucke und "verflixt" sage. Von wo sollte es herkommen können, das "Anderssein"? Wir sind da, voll am Ziel. Ich bin jetzt genau so, wie ich sein werde, wenn sie den ersten Nagel in meinen Sarg schlagen. Übrigens werde ich mich einäschern lassen, das ist sicherer.

- Hier, iß.

Er zog ein Tuchknäuel heraus und gab mir eine Handvoll Körner.

- Komm, Junge, sei nicht so ernst - die Nacht ist schön.

Seine Augen funkelten wie der Meeresschaum; er war mit seinem mahagonifarbenen Körper gegen die Tür gelehnt und hatte nichts an außer den orangefarbenen Lumpen und einer Holzperlen-Kette um den Hals. Er sah wirklich wie ein König aus.

Aber ich hatte meinen Refrain wieder aufgenommen.

- Sag mir, wenn wir schon da sind, warum sind wir dann überhaupt aufgebrochen? Wir hätten ebenso gut bei deinem Tee-Shop bleiben können.

Er blies die Wangen auf und rülpste:

- Und warum bist du aus dem Schoß deiner Mutter gekommen, Junge, sag's mir. Ein Mann muß in Bewegung bleiben.

- Ich bin viel herumgezogen.

- Dein Kopf ist herumgezogen. Wenn er still wird, dann wirst du überall still sein, und du wirst wie ein Hase mit Gottes Wind laufen.

- Erstmal glaube ich nicht an deinen Gott, und deine asiatische Weisheit macht mich krank.

- Und ich glaube nicht an cholum, ich esse es...

Er stopfte sich eine Handvoll Körner in den Mund.

- Und die Weisheit Asiens bringt mich zum Lachen.

Er gab wieder so ein lautes Glucksen von sich und spuckte Körner überallhin. Ich war sprachlos und wußte nicht, ob ich diesen Mann liebte oder haßte. Ich kaute auf einem Korn. Es schmeckte wie Kreide.

- Mein Lieber...

Für einen Augenblick wurde er ernst.

- Du willst, daß ich dir das echte Leben zeige, und du wirst mich hassen und vielleicht lieben und dann wieder hassen.

Ganz fraglos las er meine Gedanken. Mir ging das jetzt auf die Nerven. Zudem war etwas Unmenschliches in diesem Lachen.

Er fuhr fort.

- Die Menschen schätzen die Freude nicht. Sie finden sie verletzend. Was sie schätzen, ist Mitleid. Sicher sind sie armselig und bemitleidenswert. Aber es bringt nichts, mit ihnen zu wehklagen: Sie würden dich nur in ihr Loch herunterziehen, bis du im selben Schlamm steckst - dann werden sie dich anerkennen. Aber du wirst nicht mehr in der Lage sein, irgend etwas für sie zu tun, weil du wie sie sein wirst.

Er sah mich kurz an.

- Zuallererst mußt du selbst erstmal herauskommen, verstehst du?

- Heraus, aber wie?

Er hielt einen Moment inne und ließ seine Halskette durch die Finger gleiten.

- Wenn ich sage "herauskommen", so heißt das nicht weglaufen; es heißt, deine Sichtweise ändern. Wenn du aufhörst, mich zu hassen und dann zu lieben, wirst du begonnen haben, "herauszukommen". Wenn du deine kostbaren Papiere mit derselben Freude in deiner Tasche behalten kannst, mit der du sie gerade zerrissen hast, wirst du für das wahre Lachen reif sein.

- Dann wird mir alles gleichgültig sein.

- Nein, alles wird sein, wie es ist.

- Und was ist es?

- Hör mal, Junge, wenn du auf Philosophie aus bist, geh zu deinen asiatischen Weisen. Ich habe dir nichts zu erzählen: Ich kann dir nur zeigen, das ist alles.

Er zog sich wieder in ein versteinertes Schweigen zurück. Mir wurde klar, daß mir eine schwere Reise bevorstand.

Die Nacht zog bei 35 Grad vorüber. Ich kaute noch auf einem Korn, dann warf ich alles zur Tür hinaus. Ich war ernüchtert, leer, kam mir völlig lächerlich vor, ohne Bestimmung, ohne Fahrkarte, wie ich da neben diesem Mann saß, dem der Rest der Welt gleichgültig war. Wir waren da, gewiß - nirgendwo, in dieser exotischen Bahn, die Gott-weiß-wohin raste, und ich schaute in die Nacht hinein, die wie ein Vorhang zugezogen war, kaum von einem Lichtschimmer durchdrungen, und wartete auf ich-weiß-nicht-was. Ich warte, ja ich warte auf das wunderbare Abenteuer - ich bin immer bereit, auf das Wunder zu warten; ich, der Ungläubige, habe einen gewaltigen Glauben. Ich scheine mich an ein Wunder zu erinnern, das ich einst erlebt habe, ich bin gleichsam ein Mensch aufgrund eines Vergessens. Und manchmal kommen kleine goldene Lichtschimmer und tanzen in meiner Nacht, kleine Glühwürmer, die nicht von dieser Welt sind, und ich eile. Ja, ich eile ihnen nach, als ob ich tausend Jahre in der Nacht gewartet hätte, als ob mich unvermittelt eine plötzliche Erinnerung heimsuchte: Das ist es, endlich bin ich da! Ich laufe auf das Lied einer goldenen Zikade zu. Schon ein leichter Schimmer in meiner Nacht genügt, ein Blinzeln an der Straßenecke, und ich bin bereit, ich breche auf, im Nu habe ich meinen Sack geschnürt, ich, der Vagabund eines kleinen Lichtschimmers. Nichts hält mich zurück, ich lasse alles fallen, um der Melodie dieses anderen Lieds zu folgen. Was mache ich eigentlich hier? Habe ich denn nicht alles erlebt: ihre Freuden, ihre Leiden, ihr Mitleid? Ich habe alle Rollen gespielt, all den Humbug kenne ich in- und auswendig. Ich brauche nur in ihre Augen zu blicken, um die alte Geschichte zu sehen, ich kenne sie alle, als ob ich bei ihren Festen gesungen hätte: die Reichen und die Armen, die Männer Gottes und des Teufels. Welchen Schrei habe ich nicht von mir gegeben, welchen Schmerz nicht erfahren, welchen Irrtum nicht begangen? Ich habe all ihre Gebete gesprochen und in ihren Nächten gehurt. Millionenfach war ich Mensch und bin damit durch! Ja, ich glaube an das Wunder, das sich ihren Formeln entzieht und jenseits ihrer Himmel ist. Und vielleicht stehen wir schon an der Schwelle einer unglaublichen neuen Erde, deren Geburt bevorsteht? Ich weiß nicht mehr, was ich einst wußte, und ich rolle durch die Nacht wie ein blinder Pilger einer großen golddurchwirkten Erinnerung.

O Pilger
Du wanderst unter meiner Sonne
In Wahrheit
Ist alles Sonne
Nur mein Bild ist umgekehrt
Jede Geste von unten
Wiederholt eine Geste von oben
Und alles offenbart
Ein ewiges Zusammentreffen